Leitsatz (amtlich)
Eine Beschäftigung in den Jahren 1906 - 1914 in Posen und Kattowitz ist nicht in den in BVFG § 1 Abs 2 Nr 3 genannten ausländischen Gebieten verrichtet worden (Anschluß an BSG 1966-05-13 4 RJ 9/63; BSG 1966-08-30 1 RA 63/64 = SozR Nr 7 zu § 16 FRG).
Normenkette
FRG § 16 Fassung: 1960-02-25; BVFG § 1 Abs. 2 Nr. 3 Fassung: 1953-05-19
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. Februar 1964 aufgehoben, soweit es der Berufung des Klägers stattgegeben hat.
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 6. Juli 1962 wird in vollem Umfange zurückgewiesen.
Im Berufungs- und im Revisionsverfahren sind keine Kosten zu erstatten.
Gründe
I
Die Beklagte gewährte dem ... 1887 geborenen Kläger durch Bescheid vom 17. September 1959 ab 1. Januar 1957 Altersruhegeld. Mit Bescheid vom 25. November 1960 lehnte sie es ab, weitere Versicherungszeiten auf das Altersruhegeld anzurechnen. Die Klage hatte erst vor dem Landessozialgericht (LSG) teilweise Erfolg. Dieses verurteilte die Beklagte zur Anrechnung einer Beschäftigungszeit von Oktober 1906 bis März 1914 gemäß § 16 des Fremdrentengesetzes (FRG). Für diese Zeit ließen sich Beiträge, die der Kläger zur Arbeiterrentenversicherung entrichtet haben wollte, zwar nicht feststellen; das LSG glaubte aber dem Kläger, daß er damals in P und K als Arbeitnehmer (Expedient und Reisender) beschäftigt gewesen sei. Da der Kläger zu den Vertriebenen und beide Städte zu den in § 16 genannten ausländischen Gebieten gehörten, müsse die Beschäftigungszeit nach dieser Vorschrift bei der Rentenberechnung berücksichtigt werden. Davon lasse sich die Zeit ab 1. Januar 1913, in der das Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) im Beschäftigungsgebiet als unmittelbares Reichsrecht gegolten habe, nicht ausnehmen; das wäre mit Wortlaut und Sinngehalt des § 16 FRG nicht vereinbar (Urteil vom 16. Februar 1964).
Mit der zugelassenen Revision beantragte die Beklagte,
das Urteil des LSG zu ändern und die Berufung des Klägers gegen das die Klage abweisende Urteil erster Instanz in vollem Umfang zurückzuweisen.
Sie rügte eine Verletzung des § 16 FRG, weil die Vorschrift die unter der Geltung unmittelbaren Reichsrechts verrichteten Beschäftigungen nicht erfasse. Außerdem habe das LSG seine Aufklärungspflicht verletzt, weil es nicht geprüft habe, ob der Kläger damals selbständig tätig gewesen sei.
Der Kläger beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist zulässig und begründet.
Da das LSG Versicherungsbeiträge für die streitige Zeit von Oktober 1906 bis März 1914 nicht feststellen konnte und Revisionsrügen hiergegen nicht erhoben sind (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), ist allein zu prüfen, ob das LSG die Zeit als Beschäftigungszeit im Sinne des § 16 FRG hat anrechnen dürfen. Das ist zu verneinen, ohne daß der Senat auf die Verfahrensrüge der Beklagten einzugehen braucht. Auch wenn der Kläger von 1906 bis 1914 in Posen und Kattowitz nicht selbständig tätig, sondern als unselbständiger Arbeitnehmer beschäftigt gewesen ist, ist § 16 FRG hier nicht anwendbar. Nach dieser Vorschrift stehen Beschäftigungszeiten vor dem 8. Mai 1945 einer Beitragszeit im Bundesgebiet (unter weiteren Voraussetzungen) nur dann gleich, wenn die Beschäftigung "in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) genannten ausländischen Gebieten" verrichtet worden ist. Posen und Kattowitz gehörten in den Jahren 1906 bis 1914 aber nicht zu diesen Gebieten. Der gegenteiligen Auffassung des LSG, von der es später wieder abgegangen ist (vgl. Urteil vom 16. September 1964, L 13 An 107/64), vermag der erkennende Senat nicht zu folgen; sie widerspricht auch der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu § 16 FRG.
In seinem nicht veröffentlichten Urteil vom 13. Mai 1966 - 4 RJ 9/63 -, hat der 4. Senat des BSG bereits entschieden, daß § 16 FRG auf eine Beschäftigung in den Jahren 1913/1914 im Bezirk Posen nicht anzuwenden ist. Die Beschäftigung sei - so hat der 4. Senat ausgeführt - nicht in einem ausländischen Gebiet verrichtet worden, weil P seinerzeit zum Deutschen Reich gehört habe; seinem Sinn und Zweck nach erstrecke sich § 16 FRG nicht auf einen Sachverhalt, der sich in einem Gebiet verwirklicht habe, in dem deutsches Recht angewandt worden sei.
Auch nach dem Urteil des 1. Senats vom 30. August 1966 (SozR Nr. 7 zu § 16 FRG) - das allerdings Beschäftigungszeiten ab 1940 betrifft - ist die Anwendung des § 16 FRG hier zu verneinen. Der 1. Senat hält es zwar für unerheblich, ob während der Beschäftigung im "Vertreibungsgebiet" deutsches Recht gegolten hat. Er stellt aber auf die staatsrechtlichen Verhältnisse ab und greift zur Klärung des Begriffs "ausländische Gebiete" zurück auf die Umschreibung des "Reichsgebiets" in anderen Gesetzen. Danach unterscheidet er zwischen der Zeit vor und nach dem 31. Dezember 1937. "Ausländisch" im Sinne des § 16 FRG ist nach seiner Ansicht in der späteren Zeit jedes Gebiet außerhalb der Reichsgrenzen vom 31. Dezember 1937, in der früheren Zeit jedes Gebiet außerhalb der zur Beschäftigungszeit maßgebenden Grenzen.
Der 4. und der 1. Senat stimmen sonach darin überein, daß Posen und Kattowitz für die Jahre 1906 bis 1914 - weil beide Städte damals zum Deutschen Reich gehört haben - nicht als ausländische Gebiete im Sinne des § 16 FRG behandelt werden dürfen. Dieser Auffassung tritt der erkennende Senat bei.
Von den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG genannten Gebieten könnten die beiden Städte nur zu dem Gebiet Polen zu rechnen sein. Der Senat braucht jedoch nicht zu entscheiden, welcher Gebietsstand des erst 1918 wieder errichteten Staates Polen zeitlich maßgebend wäre. Nach § 16 FRG (1. Alternative) scheiden bei der Anwendung der Vorschrift von den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG genannten Gebieten jedenfalls alle nicht ausländischen Gebiete aus. Nicht ausländisch sind aber nicht nur die in § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG ebenfalls genannten unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete (so die Begründung des Regierungsentwurfs zur Bundesratsdrucksache - BR-Drucks. - III/1109 S. 41); vielmehr müssen auch von den restlichen in § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG genannten Gebieten, insbesondere von dem Gebiet Polen, die ehemals inländischen (= deutschen) Gebiete bzw. Gebietsteile für die Zeit der Inlandszugehörigkeit ausgenommen werden. Dafür spricht vor allem der Sinn und Zweck des § 16 FRG, der die Gleichstellung der Vertriebenen mit den Einheimischen bezweckt (vgl. BR-Drucks. III/1109 S. 35 ff. und § 18 Abs. 2 FRG). Dieses Ziel (Eingliederungsprinzip) muß bei der Auslegung des § 16 FRG im Vordergrund stehen. Die Gleichstellung der Vertriebenen mit den Einheimischen erfordert keine Anrechnung von Beschäftigungszeiten bei Vertriebenen, wenn die Beschäftigung im deutschen Inland unter der Geltung deutschen Rechts verrichtet worden ist. Dadurch würden die Vertriebenen nicht gleich, sondern besser als die Einheimischen gestellt; ihnen werden Beschäftigungszeiten nur angerechnet, wenn dafür auch Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden sind.
Der Senat braucht keine Stellung zu nehmen zu der Frage, wie der Begriff der ausländischen Gebiete im § 16 FRG für die Zeit nach 1937 abzugrenzen ist. Für die vorhergehende Zeit hält auch er die jeweiligen Grenzen des Reichsgebiets für maßgebend. Für diese Zeit spielt der Unterschied zwischen dem Staatsgebiet und dem Rechtsanwendungsgebiet jedenfalls keine Rolle.
Auf die Revision der Beklagten ist hiernach das Urteil des LSG aufzuheben, soweit es der Berufung des Klägers stattgegeben hat. Diese ist in vollem Umfang zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen