Leitsatz (redaktionell)
1. Eine Selbsttötung kann schon dann rechtlich wesentlich durch einen Arbeitsunfall verursacht sein, wenn die Fähigkeit zur Willensbildung durch Auswirkungen des Unfalles beeinträchtigt gewesen ist.
Es ist nicht erforderlich, daß die Selbsttötung in einem unfallbedingten Zustand der Unzurechnungsfähigkeit ausgeführt wurde.
2. Hatte ein Versicherter auf dem Wege zur Arbeit durch Unfall sich eine Fraktur des linken Schlüsselbeines zugezogen, so ist, wenn er sich anschließend selbst tötet, der Kausalzusammenhang mit dem Unfall auch dann zu verneinen, wenn nach ärztlicher Meinung der Versicherte als ein zur Melancholie neigender Mensch durch den Unfall in eine psychopathologische Situation gebracht worden ist.
Normenkette
RVO § 589 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 25. November 1964 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht für das Saarland zurückverwiesen.
Gründe
I
Der 1909 geborene J P (P.) - Ehemann der Klägerin - erlitt am 13. Februar 1957 auf dem Wege zu seiner Arbeitsstätte einen Kraftradunfall, bei dem er einen Bruch des linken Schlüsselbeins davontrug. Nach ambulanter Behandlung durch den praktischen Arzt Dr. J wurde der Kläger vom 29. April bis zum 2. Mai 1957 in einem S Krankenhaus untersucht; die Chirurgen erhoben den Befund einer Pseudoarthrose in der Mitte des linken Schlüsselbeins mit Fehlstellung der Bruchenden, übermäßiger Callusbildung und dadurch bedingten Nervenreizsymptomen am linken Arm; sie rieten dringend zu einer operativen Korrektur, wodurch die Arbeitsfähigkeit voraussichtlich voll wieder erreicht werde. Die ihm darauf von der Kreisversicherungsanstalt S Stadt für den 20. Mai 1957 erteilte Krankenhauseinweisung zur Durchführung der Operation befolgte P. nicht, sondern nahm sich am Morgen des 14. Mai 1957 - unbemerkt von seinen Angehörigen - durch Erhängen das Leben.
Der von der Landesversicherungsanstalt für das Saarland (LVA) - Abteilung Allgemeine Arbeitsunfallversicherung - gutachtlich gehörte Nervenarzt Dr. R führte aus, P. habe in einer vom Unfall nicht beeinflußten endogenen Depression Selbstmord begangen. Durch Bescheid vom 6. März 1958 lehnte hierauf die LVA den Witwenrentenanspruch der Klägerin ab, weil der Tod mit dem Arbeitsunfall nicht in Zusammenhang stehe.
Im Verfahren über die hiergegen zum Oberversicherungsamt (OVA) S eingelegte "Berufung" der Klägerin wurden der Arzt Dr. J sowie der Ortsbürgermeister und der Pfarrer des Wohnortes des P. als Zeugen gehört; nach ihren Bekundungen war P., der dem Gemeinderat angehörte, ein allseits sehr geschätzter, arbeitsamer und ordentlicher Mann, bei dem sich vor dem Unfall keine psychogenen Abarten gezeigt hatten, während er nach dem Unfall depressiv verändert wirkte. Der Sachverständige Dr. P, Oberarzt der Universitätsnervenklinik H, nahm an, bei P. habe eine Schwermut mit vorwiegend endogenen Mechanismen vorgelegen; der Selbstmord sei ausschließlich aufgrund dieser seelischen Erkrankung und nicht in mittelbarem Zusammenhang mit dem relativ harmlosen Unfall erfolgt. Das Sozialgericht (SG) für das Saarland, auf das der Rechtsstreit mittlerweile übergegangen war - passivlegitimiert anstelle der LVA nun die Beklagte - hat durch Urteil vom 9. November 1960 die Klage abgewiesen: Nach ständiger Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA) bestehe ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Arbeitsunfall und Selbsttötung nur, wenn diese in einem unfallbedingten Zustand der Unzurechnungsfähigkeit begangen worden sei. Bei P. habe es sich um eine schicksalhaft aufgetretene endogene Psychose gehandelt. Der Unfall mit seinen Folgen sei nicht adäquate Ursache des Freitodes gewesen.
Im Verfahren über die Berufung der Klägerin sind Dr. J und die Tochter des P. als Zeugen gehört worden. Der Sachverständige Prof. Dr. Dr. T. Oberarzt der Universitätsnervenklinik H, hat ausgeführt, die Diagnose einer endogenen Depression bei P. sei hinlänglich gesichert. Um eine exogene Hirnschädigung habe es sich bestimmt nicht gehandelt, auch nicht um ein reaktives Geschehen, denn weder der Unfall mit seinen Folgen noch sonstige Lebensumstände des P. böten hinreichende Anhaltspunkte für einen verständlich motivierten Selbstmord. Unter Heranziehung seiner Studie über "Melancholie" sowie der über die Persönlichkeitsstruktur des P. ermittelten Einzelheiten ist der Sachverständige zu dem Ergebnis gelangt, P. sei schon in gesunden Zeiten aufgrund seiner Wesenseigenschaften zur Entwicklung von Melancholie veranlagt gewesen. Die Unfallfolgen hätten ihn in eine Situation der Leistungsfrustration gebracht, die für die Entwicklung auf eine Melancholie hin sehr gefährlich gewesen sei. Die aus dieser Situation heraus entwickelte endogene Melancholie habe zu einem pathologischen Selbstmord geführt. Die Situation, aus der heraus P. Selbstmord beging, stehe in durchgängigem, situationspsychologischen Zusammenhang mit den Unfallfolgen, diese hätten die Selbstmordsituation adäquat bedingt. Der Zusammenhang zwischen dem Unfall bzw. seinen Folgen und dem Selbstmord sei somit zu bejahen, falls man bei der rechtlichen Beurteilung berücksichtige, daß es sich bei P. um eine spezifisch strukturierte, besonders situationsempfindliche Persönlichkeit gehandelt habe. Derselbe Unfall mit den gleichen Folgezuständen hätte wahrscheinlich bei den meisten anderen Persönlichkeiten zu keinerlei abnormen Entwicklungen geführt. Wenn aber die Rechtsprechung davon ausgehe, daß die Wesenseigenschaften, die ein durchschnittlich Gesunder in sein Versicherungsverhältnis mit hineinbringe, nachträglich aus diesem Versicherungsverhältnis nicht mehr ausgeklammert werden könnten, sei eine Entschädigung gerechtfertigt. Die Problematik sei etwa vergleichbar dem Fall eines Allergikers, bei dem nach einer Seruminjektion Nervenschäden entstünden, die bei den meister ausblieben.
Der sodann gehörte Sachverständige Prof. Dr. W Direktor der Universitätsnervenklinik H, hat ausgeführt, mangels eines verständlichen äußeren Anlasses müsse man eine endogene Depression für den Suizid verantwortlich machen. Gegen die "Melancholie"-Deutung des Prof. Dr. Dr. T gebe es grundsätzliche Einwände; lebensgeschichtliche Krankheitsdeutungen ließen sich derartig ausweiten, daß sie als Maßstab für sozialrechtliche Kausalbetrachtungen unbrauchbar würden. Die von Prof. Dr. Dr. T analysierte Persönlichkeitsstruktur des P. wiege als endogener Faktor so schwer bei der Verursachung der endogenen Depression, daß demgegenüber der Unfall mit seinen Folgen nur als Gelegenheitsursache bewertet werden könne. Der Unfall sei deshalb weder sozialrechtlich als "wesentliche" noch zivilrechtlich als "adäquate" Ursache des Suizids anzusehen.
Das Landessozialgericht (LSG) für das Saarland hat durch Urteil vom 25. November 1964 die Berufung zurückgewiesen: Die zur Selbsttötung führende endogene Depression des P. sei nicht dem Arbeitsunfall zur Last zu legen. Bei dieser seelischen Erkrankung fehle es an den bei einem reaktiven Geschehen vorhandenen Anhaltspunkten für eine verständlich motivierte Selbsttötung. Eine endogene Depression aufgrund besonderer Veranlagung sei in erster Linie die wesentliche Ursache für einen in diesem Zustand begangenen Selbstmord, äußere Umstände träten hierbei - im Gegensatz zum reaktiven Geschehen - als bloße Gelegenheitsursachen in den Hintergrund. Selbst wenn man mit Prof. Dr. Dr. T unterstelle, daß der Arbeitsunfall und seine Folgen P. in die für ihn als disponierten Melancholiker höchst gefährliche Situation hineingebracht hätten, dürfe doch nicht übersehen werden, daß jeder andere geringfügige Anlaß ebenfalls zum Selbstmord des P. hätte führen können. Denn der Unfall und seine Folgen seien verhältnismäßig so geringfügig gewesen, daß vernünftigerweise kein Grund zur Selbsttötung bestanden habe.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 5. Mai 1965 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 21. Mai 1965 Revision eingelegt und sie innerhalb der bis zum 5. August 1965 verlängerten Frist mit der Rüge der "Verletzung materiellen und formellen Rechts" begründet. Sie macht geltend, das LSG habe sich bei seiner Würdigung der Darlegungen des Prof. Dr. Dr. T nicht an den vom Bundessozialgericht (BSG) aufgestellten Grundsatz gehalten, daß es bei der rechtlichen Bewertung seelischer Auswirkungen des Unfalles nicht von vornherein nur darauf abgestellt werden dürfe, wie ein "normaler" Verletzter reagiert hätte. Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile nach dem Berufungsantrag zu erkennen, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG für das Saarland zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt
Zurückweisung der Revision.
Nach ihrer Auffassung trifft das angefochtene Urteil zu und enthält das Revisionsvorbringen keine schlüssigen Rügen gegen das Verfahren des LSG wie auch gegen dessen Beurteilung des Kausalzusammenhangs. Ferner trägt die Beklagte - von der Klägerin bestritten - vor, die Heidelberger Schule, der Prof. Dr. Dr. T angehöre, gelte in der psychiatrischen Lehrmeinung als Außenseiter.
II
Die Revision ist statthaft und zulässig. Sie hatte auch insofern Erfolg, als die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an die Vorinstanz zurückverwiesen werden mußte.
Der erkennende Senat hat - abweichend von der Rechtsprechung des RVA - in zwei Urteilen vom 18. Dezember 1966 (BSG 18, 163; Breithaupt 1963, 768 = BG 1963, 378) zur Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen einem Arbeitsunfall und einer Selbsttötung des Unfallverletzten grundsätzlich Stellung genommen. Er hat dabei den Standpunkt vertreten, eine Selbsttötung könne schon dann rechtlich wesentlich durch einen Arbeitsunfall verursacht sein, wenn die Fähigkeit zur Willensbildung durch Auswirkungen des Unfalls beeinträchtigt gewesen sei; es sei nicht erforderlich, daß die Selbsttötung in einem unfallbedingten Zustand der Unzurechnungsfähigkeit ausgeführt wurde; bei der rechtlichen Wertung der seelischen Auswirkungen des Unfalls dürfe nicht von vornherein nur darauf abgestellt werden, wie ein "normaler" Versicherter reagiert hätte. Nach Auffassung des erkennenden Senats darf somit - ebenso wie bei körperlichen Auswirkungen eines Unfalls - auch bei Vorgängen im Bereich des Psychischen und Geistigen nicht unter Anlegung eines generalisierenden Maßstabs darauf abgestellt werden, ob die Auswirkungen des Unfalls auch bei einem durchschnittlichen Menschen erfahrungsgemäß gleiche oder ähnliche Folgen gehabt hätten, vielmehr ist grundsätzlich zu prüfen, welche Folgen die Auswirkungen des Unfalls gerade bei dem betroffenen Menschen infolge der Eigenart seiner Persönlichkeit gehabt hat. An dieser Auffassung hält der Senat auch gegenüber der Kritik fest, die hierin eine deterministische Denkweise (vgl. Witter, NJW 1963, 1691) erblickt. Die Gründe des angefochtenen Urteils lassen erkennen, daß das LSG diese für die Unfallversicherung maßgebende Kausalitätsnorm auf den hier zu entscheidenden Fall nicht richtig angewandt hat.
Es ist nämlich bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs jener vom BSG mißbilligten generalisierenden Betrachtungsweise gefolgt. Das ergibt sich zweifelsfrei aus den Darlegungen am Schluß der Entscheidungsgründe, in Anbetracht der verhältnismäßig geringfügigen Verletzungsfolgen habe für P. "vernünftigerweise" kein Grund zur Selbsttötung bestanden; sämtliche Gutachter - auch Prof. Dr. Dr. T - seien der Auffassung, daß der Unfall vom 13. Februar 1957 kein Ereignis darstelle, das eine Selbsttötung "verständlich" mache. Hiermit legt das LSG als Maß - stab für die Beurteilung der Zusammenhangsfrage das allgemein zu erwartende Verhalten einer durchschnittlichen, in ihren Motivationen ohne weiteres verständlichen Persönlichkeit an und läßt die im Gutachten des Prof. Dr. Dr. T hervorgehobene, von der Norm abweichende Wesenseigentümlichkeit des P. außer Acht. Die Urteilsgründe enthalten demgemäß auch keine Auseinandersetzung mit der von diesem Sachverständigen entwickelten "lebensgeschichtlichen" Deutung einer zur Melancholie veranlagten, durch die "Leistungsfrustration" infolge des Unfalls in die Selbsttötungssituation getriebenen spezifischen Persönlichkeitsstruktur; auf diese, den Kern des Gutachtens bildenden Ausführungen ist das LSG nicht genügend eingegangen. Es hat stattdessen durch Bezugnahme auf einzelne, aus dem Zusammenhang gerissene Sätze gemeint, eine äußerliche Übereinstimmung zwischen seiner Entscheidung und den Darlegungen des Sachverständigen herstellen zu können. So hat Prof. Dr. Dr. T zwar ausgeführt, auch nach seiner Auffassung sei der Selbstmord ausschließlich aufgrund der seelischen Erkrankung des P. erfolgt, um dann jedoch anschließend im einzelnen darzulegen, weshalb seines Erachtens eben diese seelische Erkrankung doch in einem durchgängigen situationspsychologischen Zusammenhang mit den Unfallfolgen stehe. Hierdurch wird freilich der in den ärztlichen Gutachten und den Gründen des Berufungsurteils gemachte Unterschied zwischen endogenen und reaktiven Depressionen in Frage gestellt; man muß wohl den Sachverständigen Prof. Dr. Dr. T im Endergebnis dahin verstehen, daß er die bei P. aufgetretene Depression nicht als rein endogen, sondern als eine - allerdings nur unter Heranziehung der "Melancholie"-Lehre erklärbare - Reaktion der besonderen Persönlichkeitsstruktur auf die durch den Arbeitsunfall geschaffene Situation angesehen hat. Dieser Gedankengang kommt in den Gründen des angefochtenen Urteils nicht zur Darstellung und wird dementsprechend auch nicht - unter Abwägung mit den anderen ärztlichen Gutachten - gewürdigt.
Die Revision ist hiernach wegen der zutreffend gerügten Gesetzesverletzungen bei der Handhabung der Kausalitätsnorm und bei der Beweiswürdigung begründet. Zu einer Entscheidung in der Sache selbst ist der erkennende Senat nicht imstande, weil die bisherigen tatsächlichen Feststellungen nicht ausreichen. Es bedarf insbesondere der Prüfung, ob der Ausgangspunkt in dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Dr. T - nämlich die Hypothese von der zur Melancholie veranlagten Persönlichkeitsstruktur, ihrer einzelnen Wesensmerkmale und ihrer spezifischen Gefährdung durch Situationen der hier gegebenen Art - wissenschaftlich hinreichend gesichert ist, um als Grundlage richterlicher Entscheidung zu dienen. Insoweit sind der gutachtlichen Stellungnahme des Sachverständigen Prof. Dr. W schwerwiegende Bedenken zu entnehmen, indessen erscheinen diese Ausführungen zu knapp, um eine abschließende Beurteilung zu ermöglichen. Das LSG wird deshalb einem Sachverständigen Gelegenheit zur umfassenden Auseinandersetzung mit den Ausführungen des Prof. Dr. Dr. T geben müssen, wobei es dem Senat angezeigt erscheint, hierfür eine wissenschaftliche Autorität heranzuziehen, die bei dem Meinungsstreit um die Lehren der "Heidelberger Schule" nicht von vornherein einseitig festgelegt ist.
Darüber hinaus wird das LSG Anlaß zur Prüfung haben, ob unter Umständen Nachforschungen beim Arbeitgeber und bei den Arbeitskollegen des P. geeignet sein könnten, weitere Aufschlüsse über dessen Persönlichkeitsstruktur zu erbringen.
Demgemäß muß die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes), dem auch die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens überlassen bleibt.
Fundstellen