Leitsatz (amtlich)

Der Streit über Familienzuschläge (AVAVG § 103 aF) betrifft jedenfalls dann die Höhe der Unterstützung (SGG § 147), wenn darüber zu entscheiden ist, welchem von mehreren Berechtigten zu der Hauptunterstützung Familienzuschläge für gemeinsame zuschlagsberechtigte Angehörige zu zahlen sind.

 

Normenkette

SGG § 147 Fassung: 1953-09-03; AVAVG § 103 Fassung: 1955-01-07, § 89

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 15. Januar 1958 wird aufgehoben. Die Berufung der Beklagten vom 22. August 1955 und die Berufung der Klägerin vom 25. August 1955 werden als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Die Klägerin ist mit dem Kraftfahrer K L verheiratet. Aus dieser Ehe sind zwei Kinder hervorgegangen, die 1951 und 1954 geboren sind. Nach langjähriger Beschäftigung beantragte die Klägerin am 29. Oktober 1954 beim Arbeitsamt (ArbA.) G Arbeitslosenunterstützung (Alu). Ihr Ehemann bezog zur gleichen Zeit Alu; er erhielt zu der Hauptunterstützung die Familienzuschläge für die beiden Kinder. Der Klägerin wurde durch Verfügung vom 23. November 1954 nur die Hauptunterstützung nach einer Wartezeit von 7 Kalendertagen gewährt. Der Widerspruch der Klägerin wurde durch Bescheid vom 19. Januar 1955 zurückgewiesen.

Durch Urteil vom 8. Juni 1955 verurteilte das Sozialgericht (SG.) Hildesheim die Beklagte unter Abänderung des Bescheides "vom 7. Dezember 1954", Alu nach einer Wartezeit von nur 3 Tagen zu zahlen, bezüglich der Familienzuschläge wies es die Klage ab.

Gegen dieses Urteil legte zuerst die Beklagte wegen Änderung der Wartezeit, dann die Klägerin wegen Ablehnung der Familienzuschläge Berufung ein. Die Beklagte rügte als Verfahrensmängel, das SG. habe über den Antrag auf Zulassung der Berufung nicht entschieden, es habe damit das rechtliche Gehör (§ 62 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) versagt; es habe auch nicht, wie beantragt, die Bescheide vom 23. November 1954 und vom 19. Januar 1955, sondern einen Bescheid vom 7. Dezember 1954 abgeändert, der nicht ergangen sei.

Das Landessozialgericht (LSG.) wies durch Urteil vom 15. Januar 1958 die Berufung der Klägerin zurück; auf die Berufung der Beklagten änderte es das angefochtene Urteil und wies die Klage ab. Das LSG. hielt beide Berufungen für statthaft. Zwar richte sich die Berufung der Beklagten gegen den Beginn der Unterstützung und sei nicht statthaft nach § 147 SGG; sie sei aber zulässig nach § 150 Nr. 2 SGG, da mit Recht gerügt sei, das SG. habe über den Antrag, die Bescheide vom 23. November 1954 und vom 19. Januar 1955 aufzuheben, nicht entschieden. Die Berufung der Klägerin sei nicht ausgeschlossen nach § 147 SGG, da der Streit um die Familienzuschläge nicht die Höhe der Unterstützung, sondern den gesamten Anspruch betreffe. Die Berufung der Klägerin sei aber nicht begründet. Zwar könne sie wie ihr Ehemann die Familienzuschläge beanspruchen, nach der grundsätzlichen Entscheidung Nr. 3332 des Reichsversicherungsamts dürfe der Familienzuschlag für dasselbe Kind aber nur einmal gewährt werden, solange beide Eltern gleichzeitig Unterstützung beziehen. Die Berufung der Beklagten sei dagegen begründet. Solange die Klägerin die Familienzuschläge nicht erhalten könne, gehörten die Kinder im Verhältnis zu ihr nicht zu den zuschlagsberechtigten Angehörigen; für Arbeitslose ohne zuschlagsberechtigte Angehörige betrage die Wartezeit aber 7 Tage. Revision wurde zugelassen.

Das Urteil wurde der Klägerin am 17. Februar 1958 zugestellt. Am 14. März 1958 legte die Klägerin Revision ein. Sie beantragte,

die Urteile des LSG. und des SG. sowie die angefochtenen Bescheide aufzuheben, soweit sie die Familienzuschläge betreffen, und die Beklagte zu verurteilen, ihr zu der Hauptunterstützung die Familienzuschläge zu zahlen; ferner beantragte sie, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen, soweit das Urteil des SG. die Wartezeit betrifft.

Am 19. März 1958 begründete sie die Revision: Für Arbeitslose mit zuschlagsberechtigten Angehörigen betrage die Wartezeit drei Tage. Es genüge, daß solche Angehörigen vorhanden seien; es sei nicht erforderlich, daß die Familienzuschläge auch gezahlt würden. Hätten mehrere Empfänger von Unterstützung für dasselbe Kind Anspruch auf einen Familienzuschlag, so müsse er jedem gezahlt werden, auch wenn sie gleichzeitig Unterstützung erhielten; das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) a. F. habe dies nicht ausdrücklich untersagt.

Die Beklagte beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

II.

Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und zulässig. Sie ist auch begründet.

Da die Zulässigkeit der Berufung eine Voraussetzung ist, von der das gesamte weitere Verfahren nach Einlegung der Berufung und damit auch die Rechtswirksamkeit des Revisionsverfahrens abhängt, ist zunächst von Amts wegen zu prüfen, ob das LSG. zu Recht die Berufung der Beteiligten für zulässig gehalten und in der Sache selbst entschieden hat (BSG. 1 S. 227 ff. (231); 2 S. 225, 226; 2 S. 245 ff. (253, 254)). Dies ist nicht der Fall.

Nach § 147 SGG (in der Fassung bis zum Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Änderung des SGG vom 25. Juni 1958 - BGBl. I S. 409 -) konnten in Angelegenheiten der Arbeitslosenversicherung Urteile, die Beginn oder Höhe der Unterstützung betrafen, mit der Berufung nicht angefochten werden. Die Alu beginnt nach einer Wartezeit (§ 110 AVAVG a. F.), deren Dauer nach der Zahl der zuschlagsberechtigten Angehörigen gestaffelt ist. Die Klägerin begehrte die Alu nach einer Wartezeit von drei statt von sieben Tagen. Diesem Antrag entsprach das SG. Dessen Urteil betraf sonach den Beginn der Alu. Die Berufung der Beklagten war daher nach § 147 SGG ausgeschlossen.

Sie war auch nicht zulässig nach § 150 Nr. 2 SGG. Die Rüge der Beklagten, das SG. habe über ihren Antrag, die Berufung zuzulassen, nicht entschieden und damit das rechtliche Gehör verletzt, traf nicht zu. Nur für die Zulassung der Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG ist eine Entscheidung erforderlich; wird die Berufung nicht zugelassen, so braucht dies nicht besonders ausgesprochen und begründet zu werden. Die Nichtzulassung der Berufung ist für das LSG. bindend (SozR. SGG § 150 Bl. Da 4 Nr. 12); sie begründet auch nicht einen Verfahrensmangel im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG (SozR. SGG § 150 Bl. Da 7 Nr. 17 und 19). Auch das rechtliche Gehör (§ 62 SGG) ist nicht verletzt; die Beklagte ist gehört worden, sie hat die Zulassung der Berufung vorsorglich beantragt und auf die ihrer Ansicht nach grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache hingewiesen.

Zu Unrecht hat das LSG. die Statthaftigkeit der Berufung auf die Rüge der Beklagten gestützt, das SG. habe im Urteil statt der Bescheide vom 23. November 1954 und vom 19. Januar 1955 einen Bescheid vom 7. Dezember 1954 abgeändert, der nicht ergangen sei. Dieser Fehler ist dem SG. zwar unterlaufen, er betrifft aber nicht einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG. Das SG. hat, wie sich aus den Gründen des Urteils ergibt, die Bescheide vom 23. November 1954 und vom 19. Januar 1955 nachgeprüft; es hat diese Bescheide als rechtswidrig angesehen und abgeändert, soweit sie die Wartezeit und den Beginn der Alu betrafen. Die Angabe des Bescheides vom 7. Dezember 1954 im Urteil ist danach eine offenbare Unrichtigkeit; sie ist nach § 138 SGG zu berichtigen, begründet aber nicht einen wesentlichen Mangel im Verfahren des SG.

Auch die Berufung der Klägerin ist nach § 147 SGG nicht statthaft gewesen. Das LSG. konnte die Zulässigkeit der Berufung nicht dem Urteil des erkennenden Senates vom 30. Mai 1956 (BSG. 3 S. 112, 113) entnehmen. In diesem Urteil war über die Frage zu entscheiden, ob sich der Unterstützungsantrag auf die Familienzuschläge erstreckt und ob diese auch ohne besonderen Antrag festzusetzen sind, wenn sich aus den Unterlagen ergibt, daß zuschlagsberechtigte Angehörige vorhanden sind. Im vorliegenden Falle dagegen sind Familienzuschläge für die gemeinsamen ehelichen Kinder beantragt; es ist auch festgestellt, daß die Klägerin und ihr Ehemann die Familienzuschläge beanspruchen können. Strittig ist jedoch, ob, solange beide Eltern gleichzeitig Unterstützung aus der Arbeitslosenversicherung oder aus der Arbeitslosenfürsorge (Arbeitslosenhilfe) beziehen, die Familienzuschläge beiden oder nur einem von ihnen gezahlt werden dürfen. Dieser Streit betrifft die Höhe der Unterstützung. Die Alu bestand aus der Hauptunterstützung und den Familienzuschlägen für Angehörige (§ 103 Abs. 1 AVAVG a. F.). Für Angehörige, welche die Voraussetzungen des § 103 Abs. 2 erfüllten, wurden Familienzuschläge zu der Hauptunterstützung gezahlt. Die Familienzuschläge können nicht für sich allein beantragt oder bewilligt werden, sie sind akzessorischer Natur und setzen den Anspruch auf Hauptunterstützung voraus. Hauptunterstützung und Familienzuschläge für Angehörige bilden zusammen die Alu; sie sind Bestandteile der Alu. Durch die Familienzuschläge erhöht sich zwar nicht die Hauptunterstützung, aber die Alu. Um deren Höhe geht es danach, wenn - wie hier - darüber zu entscheiden ist, welchem von mehreren Berechtigten zu der Hauptunterstützung Familienzuschläge für gemeinsame zuschlagsberechtigte Angehörige zu zahlen sind. Die Klägerin erhielt die Hauptunterstützung; sie begehrte dazu gleichzeitig auch die Familienzuschläge, die ihrem Manne bereits gezahlt wurden. Wies das SG. insoweit die Klage ab, so versagte es den Teil der Alu, der auf die Familienzuschläge entfiel. Das Urteil des SG. betraf sonach die Höhe der Unterstützung. Nach § 147 SGG konnte es daher mit der Berufung nicht angefochten werden.

Die Berufung war insoweit auch nicht zugelassen worden. Die Zulassung der Berufung ist eine Entscheidung des SG., die im Urteil erkennbar zum Ausdruck gebracht sein und unzweifelhaft ergeben muß, daß das SG. eine nach seiner Ansicht auf Grund der §§ 144 bis 149 SGG nicht statthafte Berufung trotzdem zulassen wolle (BSG. 4 S. 261 (263)). Der Hinweis, die Berufung sei zulässig nach § 144 SGG, da Familienzuschläge für einen Zeitraum von 312 Tagen begehrt werden, ist keine Zulassung; er bedeutet nicht mehr, als daß die Berufung insoweit nicht nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG ausgeschlossen ist.

Das LSG. hat danach die Berufung der Beteiligten zu Unrecht für statthaft gehalten, es hätte deshalb nicht in der Sache selbst entscheiden dürfen. Sein Urteil beruht auf der unrichtigen Anwendung der §§ 147, 150 Nr. 2 und 158 SGG; das Urteil ist deshalb aufzuheben. Gleichzeitig sind die Berufung der Beklagten vom 22. August 1955 und die Berufung der Klägerin vom 25. August 1953 als unzulässig zu verwerfen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG). Dadurch wird nicht gegen das Verbot der reformatio in peius verstoßen. Dieses Verbot gilt nicht, wenn Rechtsfolgen auszusprechen sind, die sich zwangsläufig daraus ergeben, daß eine Prozeßvoraussetzung fehlt (BSG. 2 S. 225 ff.). Die Klägerin wird im übrigen auch nicht schlechter gestellt, wenn statt der Zurückweisung die Verwerfung ihrer Berufung ausgesprochen wird.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 246

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