Leitsatz (amtlich)
1. Die Berufsunfähigkeit eines Wanderversicherten der Arbeiterrentenversicherung und der Angestelltenversicherung ist nicht getrennt nach den Berufen des einen und des anderen Versicherungszweigs, sondern einheitlich nach dem gesamten Berufsleben des Versicherten zu beurteilen. AVG § 89 Abs 1 S 1 (= RVO § 1310 Abs 1 S 1) hat Bedeutung nur im Verhältnis zu einzelnen Sonderleistungen der knappschaftlichen Rentenversicherung.
2. Zur Frage der Berufsunfähigkeit eines Versicherten, der gleichzeitig als Putzer Beiträge zur Arbeiterrentenversicherung und als Gemeinderechner Beiträge zur Angestelltenversicherung geleistet hat und der aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr als Putzer oder in einem ähnlichen Handwerk arbeiten kann.
Normenkette
AVG § 89 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-07-27, § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1310 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-07-27, § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 10. Mai 1962 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Kläger beansprucht eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Umstritten ist, ob er berufsunfähig ist.
Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) war der Kläger - gelernter Weißbinder - von 1927 an mit Unterbrechungen als Putzer tätig und in der Rentenversicherung der Arbeiter (ArV) pflichtversichert. Seit 1945 war er daneben Gemeinderechner seiner Heimatgemeinde und unterlag in dieser Eigenschaft der Pflichtversicherung in der Rentenversicherung der Angestellten (AnV). Seit 1958 kann er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr als Putzer arbeiten. Dagegen übt er die Gemeinderechnertätigkeit noch aus; sie beansprucht ihn ein bis zwei Stunden am Tage.
Die Beklagte lehnte den Rentenantrag ab, weil der Kläger nicht berufsunfähig sei (Bescheid vom 25. Juni 1959). Das Sozialgericht (SG) Kassel hob den Bescheid der Beklagten auf und verurteilte sie, dem Kläger die Berufsunfähigkeitsrente von September 1958 an zu gewähren (Urteil vom 28. September 1960). Auf die Berufung der Beklagten änderte das Hessische LSG das sozialgerichtliche Urteil dahin, daß dem Kläger lediglich die Rente aus der ArV zu gewähren sei: Nach § 89 Abs. 1 Satz 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) werde bei Wanderversicherten die Rente nur aus dem Versicherungszweig gewährt, dessen Voraussetzungen erfüllt seien. Der Kläger sei in der AnV nicht berufsunfähig, weil er den angestelltenversicherungspflichtigen Beruf noch ausüben könne. Dagegen liege in der ArV Berufsunfähigkeit vor, weil er im Putzerberuf nicht mehr arbeiten und insoweit nicht auf den Beruf des Gemeinderechners verwiesen werden könne; dieses Amt rechne nicht zum allgemeinen Arbeitsmarkt und biete auch nicht die Verdienstmöglichkeiten des Putzerberufs. - Die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 10. Mai 1962).
Gegen das Urteil des LSG legten innerhalb der Revisionsfrist die Beklagte Revision und der Kläger Anschlußrevision ein.
Die Beklagte beantragte,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils das Urteil des SG Kassel aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragte,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Kassel zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind übereinstimmend der Auffassung, die Berufsunfähigkeit könne nur einheitlich beurteilt werden. Aus dem gleichlautenden Wortlaut des § 23 AVG und des § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ergebe sich, daß das gesamte Berufsbild Grundlage der Beurteilung sein müsse. Die Notwendigkeit einer einheitlichen Beurteilung ergebe sich auch aus der neuen Rentenformel und aus der Regelung, die das Gesetz für die Anrechnung von Ersatz-, Ausfall- und Zurechnungszeiten enthalte.
Die Beklagte rügte darüber hinaus, das LSG habe keine Feststellung getroffen, ob der Kläger als Gemeinderechner Kenntnisse und Fähigkeiten erworben habe, die eine Verweisung auf andere Bürotätigkeiten zuließen.
Die Revisionen der Beteiligten sind zulässig und begründet; sie führen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils. Die Auffassung des LSG, daß der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit beim Kläger - allein - in seinem Beruf als Putzer eingetreten und ihm deshalb die Rente - nur - aus der ArV zu gewähren sei, gibt zu rechtlichen Bedenken Anlaß.
Der Kläger hat als Wanderversicherter Beiträge zur AnV und ArV entrichtet. Für den geltend gemachten Rentenanspruch sind danach die Vorschriften in den §§ 87 ff AVG (= § 1308 ff RVO) maßgebend. Nach § 89 Abs. 1 Satz 1 AVG wird bei Wanderversicherten eine Leistung aus dem Versicherungszweig gewährt, dessen Leistungsvoraussetzungen erfüllt sind. Von den Leistungsvoraussetzungen der hier beteiligten Versicherungszweige ist allein der Eintritt des Versicherungsfalls der Berufsunfähigkeit streitig. Das LSG ist bei seiner Entscheidung offensichtlich davon ausgegangen, daß der einzige wesentliche Unterschied, den die beiden Versicherungszweige nach dem geltenden Recht aufweisen, in den Vorschriften über die Versicherungspflicht (Kreis der von der Versicherung erfaßten Tätigkeiten) liegt; es hat deshalb angenommen, daß auch die Berufsunfähigkeit getrennt nach den in jedem Versicherungszweig verrichteten Tätigkeiten zu beurteilen sei. Dieser Auffassung vermag der Senat nicht zu folgen. Das LSG hat nämlich übersehen, daß die Wanderversicherung auch die knappschaftliche Rentenversicherung umfaßt (§ 87 AVG); deren Leistungsvoraussetzungen weichen aber in mehrfacher Hinsicht von denen der beiden anderen Versicherungszweige ab (so gelten für die Bergmannsrente und für das Knappschaftsruhegeld besondere Vorschriften über die Wartezeit und den Versicherungsfall, vgl. §§ 44, 45, § 48 Abs. 1 Nr. 2 und § 49 des Reichsknappschaftsgesetzes - RKG -). Um den Besonderheiten der knappschaftlichen Rentenversicherung Rechnung zu tragen, sieht das Gesetz die Bestimmung in § 89 Abs. 1 Satz 1 AVG hinsichtlich der Leistungsvoraussetzungen vor; sie hat daher Bedeutung im Verhältnis zu den Sonderleistungen der knappschaftlichen Rentenversicherung. Soweit aber solche Sonderleistungen nicht in Betracht kommen, wie hier bei einem Wanderversicherten der ArV und der AnV, ist seit dem Inkrafttreten der Renten-Neuregelungsgesetze der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit einheitlich unter Berücksichtigung des gesamten Berufslebens des Versicherten zu beurteilen.
Zwar läßt die Übereinstimmung im Text des § 23 AVG und des § 1246 RVO allein nicht schon auf einen einheitlichen Begriff der Berufsunfähigkeit in den beiden Versicherungszweigen schließen. Eine getrennte Beurteilung, wie sie das LSG vorgenommen hat, wäre auch trotz der gleichlautenden Formulierung in den beiden Gesetzen denkbar, zumal die Renten-Neuregelungsgesetze die organisatorische Selbständigkeit der Versicherungszweige beibehalten haben. Jedoch stellt das Gesetz in Abs. 2 der beiden Vorschriften gleichermaßen darauf ab, daß der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit des Versicherten zu beurteilen ist - und auf die er gegebenenfalls verwiesen werden kann -, "alle" Tätigkeiten umfaßt, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Mit dieser Vorschrift sind die Berufstätigkeiten des Versicherten insgesamt angesprochen und nicht nur die in den einzelnen Versicherungszweigen versicherten Tätigkeiten. Das Gesetz will das ganze Berufsleben des Versicherten einschließlich seines beruflichen Aufstiegs einheitlich beurteilt sehen. Damit ist aber die Annahme mehrerer nach Versicherungszweigen getrennter "Entsprechungen" und "Zumutbarkeiten" unvereinbar.
Die einheitliche Beurteilung der Berufsunfähigkeit von Wanderversicherten der ArV und der AnV findet eine Stütze auch darin, daß nunmehr in den beiden Versicherungszweigen die gleichen Maßstäbe für die Rentenberechnung gelten, während früher insoweit erhebliche Unterschiede bestanden (unterschiedliche Höhe der Grundbeträge und der Steigerungsbeträge). Nach der neuen Rentenformel werden beim Eintritt des Versicherungsfalls alle in den einzelnen Versicherungszweigen zurückgelegten Versicherungszeiten, ebenso die Ausfall- und Zurechnungszeiten zusammengerechnet, wobei Ersatz- und Ausfallzeiten sowie die Zurechnungszeit nur einmal zu berücksichtigen sind (§ 89 Abs. 4 AVG). Bei einer nur auf einen Versicherungszweig beschränkten Bejahung der Berufsunfähigkeit wäre es fraglich, wie Ersatz- und Ausfallzeiten anzurechnen sind, weil deren Voraussetzungen dann auch nur in einem Versicherungszweig geprüft werden könnten und § 89 AVG nichts darüber sagt, welchem Versicherungszweig die bei einem Wanderversicherten in Betracht kommenden Ersatz- und Ausfallzeiten zuzuordnen sind. Auch gegen die Anrechnung einer Zurechnungszeit nach § 37 AVG bestünden Bedenken, wenn der Versicherte etwa in dem anderen Versicherungszweig noch als berufsfähig angesehen würde. Hingegen entstehen keine derartigen Schwierigkeiten, wenn die Berufsunfähigkeit eines Versicherten der ArV und der AnV einheitlich nach seinem gesamten Berufsbild beurteilt wird. Von einer dahin gehenden Vorstellung ist auch der Gesetzgeber ausgegangen; in der Begründung zu § 1314 des Reg. Entwurfs (jetzt § 1310 RVO) ist gesagt, durch Vereinheitlichung des Berufsunfähigkeitsbegriffs werde die gesonderte Prüfung der Leistungsvoraussetzungen nur noch dort erforderlich, wo die Leistungen des einen Versicherungsträgers nicht denen des anderen entsprächen, z. B. bei den Sonderleistungen der Knappschaft (vgl. Bundestagsdrucks., 2. Wahlp. Nr. 2437 S. 81). Danach rechtfertigt sich aber die einheitliche Beurteilung der Berufsunfähigkeit von Wanderversicherten der beiden Versicherungszweige.
Dieses Ergebnis entspricht der überwiegend in der Literatur und in der Rechtsprechung geäußerten Ansicht (vgl. Elzholz/Theile, § 1310 S. 227; Verb. Komm. § 1310 Anm. 5; Hoernigk/Jorks, § 1310 Anm. 1; Beck, ZfS 1960 S. 66; Hellenthal, Die Sozialgerichtsbarkeit, 1963 S. 395, 403; Zweng, ZfSR 1958 S. 167, 171; LSG Nordrhein-Westfalen vom 18. Januar 1962 - L 2 (16) Kn 3/58 -; Breithaupt 1962, 797; vom 8. Februar 1962 - L 2 Kn 316/60 - Mitteilungen Ruhrknappschaft 1962 S. 181, 183; LSG Berlin vom 26. Februar 1960 - L 15/1 An 99/59 -). Von ihr ist im vorliegenden Fall auszugehen.
Die Berufsunfähigkeit des Klägers als eines Wanderversicherten der AnV und der ArV kann daher nicht getrennt nach den Berufen des einen und des anderen Versicherungszweigs beurteilt und ihm nicht gegebenenfalls eine Leistung nur aus einem Versicherungszweig gewährt werden. Vielmehr ist seine Berufsunfähigkeit nach der RVO und nach dem AVG unter Berücksichtigung seines gesamten Berufslebens zu ermitteln. Dieses aber war geprägt von der viele Jahre hindurch gleichzeitig ausgeübten Tätigkeit als Putzer und als Gemeinderechner. Daß er sich im Jahre 1958 von dem Putzerberuf endgültig gelöst hat, muß bei der Beurteilung seiner Berufsunfähigkeit außer Betracht bleiben; denn diese Lösung geschah nur aus gesundheitlichen Gründen, für deren Folgen der Versicherungsträger gerade einzustehen hat (BSG 2, 182, 187). Auszugehen ist daher von dem zusammengesetzten Beruf des Klägers als seiner eigentlichen Berufstätigkeit; danach ist auch die Vergleichsperson für die Verweisbarkeit (BSG 9, 255, 256; 16, 34, 36) zu bestimmen. Es kommt also auf die Erwerbsfähigkeit eines gesunden Versicherten mit einem Doppelberuf an, der über eine ähnliche Ausbildung und über gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, wie sie der Kläger hat. Es ist zu prüfen, wie sich die Verringerung der Erwerbsfähigkeit in dem einen (Teil-) Beruf auf die gesamte Erwerbsfähigkeit auswirkt und wie diese durch Kenntnisse und Fähigkeiten, die in dem anderen Beruf erworben sind, beeinflußt wird, etwa durch Erweiterung der Verweisungsberufe oder durch eine Erhöhung der Verdienstmöglichkeiten. Dabei sind Verweisbarkeit und Zumutbarkeit des Verweisungsberufs nach einheitlichen Gesichtspunkten zu beurteilen.
Nach den Feststellungen des LSG kann der Kläger aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr als Putzer oder in einem ähnlichen handwerklichen Beruf arbeiten. Er kann - nach den nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen - insoweit auch nicht auf eine Gemeinderechnertätigkeit verwiesen werden weil Stellen dieser Art dem freien Wettbewerb nicht zugänglich und dem Putzerberuf wirtschaftlich nicht gleichwertig sind. Daraus folgt aber nicht notwendig die Berufsunfähigkeit des Klägers. Es ist noch zu prüfen, ob er auf Grund seiner langjährigen Tätigkeit als Gemeinderechner Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat, die er auch in anderen Berufen verwerten kann, ob er z. B. als Gemeinderechner auch Statistiken geführt oder doppelte Buchführung gelernt hat. Das Urteil des LSG enthält über die Art der einem Gemeinderechner in Hessen obliegenden Aufgaben keine tatsächlichen Feststellungen, sie sind auch nicht gerichtsbekannt. Es erscheint nicht ausgeschlossen, daß der Kläger aus der Gemeinderechnertätigkeit Fähigkeiten für Bürotätigkeiten erworben hat, die es ihm in Verbindung mit seinen handwerklichen und Materialkenntnissen ermöglichen, eine gehobene Tätigkeit z. B. als Lagerverwalter in der Kunststeinindustrie oder dgl. auszuüben. Bejahendenfalls bedarf es sodann der Prüfung, ob es Arbeitsstellen dieser oder ähnlicher Art am Wohnort des Klägers oder in der näheren Umgebung gibt, die ihm zugänglich sind. Das gleiche gilt für die Frage, inwieweit die körperlichen Fähigkeiten des Klägers reichen. Das angefochtene Urteil sagt zwar, der Kläger könne die Gemeinderechnertätigkeit nach seinem Gesundheitszustand noch weiter verrichten; dabei wird aber von einer tatsächlichen Beanspruchung bis zu zwei Stunden am Tage ausgegangen. Es muß daher gegebenenfalls noch geklärt werden, ob der Kläger den Anforderungen einer Verweisungstätigkeit, die ihm nach seinen beruflichen Kenntnissen und Fähigkeiten zuzumuten ist, auch gesundheitlich gewachsen ist.
Der Senat kann in der Sache nicht endgültig entscheiden, weil der Sachverhalt in tatsächlicher Hinsicht noch weiterer Klärung bedarf. Der Rechtsstreit muß daher zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen