Leitsatz (amtlich)
Um eine ärztliche Nachuntersuchung iS des BVG § 86 Abs 3 handelt es sich dann, wenn die Nachuntersuchung für die Umanerkennung einer Rente nach dem BVG durchgeführt oder verwertet worden ist; auf den Zeitpunkt der Nachuntersuchung - ob nach dem Altbescheid, ob vor oder nach Inkrafttreten oder Verkündung des BVG - kommt es allein nicht an.
Normenkette
BVG § 86 Abs. 3 Fassung: 1956-06-06
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 21. Januar 1958 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger stand vom 1. Juli 1941 bis 29. Oktober 1942 im Wehrdienst. Im Frühjahr 1942 zog er sich ein Hornhautgeschwür links zu, das er auf eine akute Erkältung im März 1942 zurückführte. Das Wehrmachtsfürsorge- und Versorgungsamt K gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 10. Februar 1943 wegen "praktischer Blindheit links nach Hornhautgeschwür links; auf dem rechten Auge weniger als Halbsehschärfe nach Verletzung" Versehrtengeld nach Stufe II ab 1. Oktober 1942. Mit Bescheid vom 12. Juli 1948 gewährte die Landesversicherungsanstalt (LVA.) Schleswig-Holstein dem Kläger "wegen praktischer Erblindung links nach Hornhautgeschwür" Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 50 v. H. nach der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27. Später ordnete die LVA. Schleswig-Holstein eine Nachuntersuchung des Klägers an. In dem Gutachten vom 23. September 1950 bewertete der Gutachter die MdE. wie bisher mit 50 v. H. und bemerkte, daß die Sehschärfe links besser sein dürfte als der Untersuchte angebe, da die Trübung der Hornhaut im linken Auge wesentlich weniger dicht sei als rechts; die Einschätzung mit 50 v. H. erscheine als sehr wohlwollend. Der Vertrauensarzt der LVA. stimmte am 6. Oktober 1950 dem Gutachten zu.
Mit Umanerkennungsbescheid vom 14. November 1952 gewährte das Versorgungsamt (VersorgA.) H (Holstein) dem Kläger weiterhin Rente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Die Leidensbezeichnung und der Grad der MdE. (50 v. H.) blieben unverändert. Bei der augenfachärztlichen Nachuntersuchung am 7. Oktober 1953 fand der Gutachter den Zustand unverändert, hielt aber eine MdE. von 40 v. H. für angemessen. Eine weitere Nachuntersuchung unter klinischer Beobachtung erfolgte vom 5. bis 7. Januar 1954 in der Universitäts-Augenklinik K durch Prof. M und Dozent Dr. P. Wie diese Gutachter ausführen, könne nach dem objektiven Befund beiderseits eine Sehfähigkeit von 5 / 10 erwartet werden; die beiderseitige Hornhautvernarbung, Übersichtigkeit links, Kurz- und Stabsichtigkeit rechts seien nicht eine Folge des Wehrdienstes. Das VersorgA. H entzog daraufhin mit Bescheid vom 6. März 1954 mit Ablauf des April 1954 die Beschädigtenrente, weil die auf Grund der Nachuntersuchung ermittelte Schädigungsfolge "starke Herabsetzung des Sehvermögens links nach Hornhautgeschwür" keine Rentengewährung rechtfertige. Der Widerspruch des Klägers wurde durch Bescheid vom 15. Mai 1954 mit der Begründung zurückgewiesen, daß der angefochtene Bescheid auf § 86 Abs. 3 BVG gestützt werde und die MdE. unter 25 v. H. betrage. Das vom Kläger angerufene Sozialgericht (SG.) Schleswig wies mit Urteil vom 17. Februar 1955 die Klage ab. Die Berufung des Klägers wurde vom Landessozialgericht (LSG.) Schleswig in Schleswig mit Urteil vom 21. Januar 1958 zurückgewiesen. Nach der Urteilsbegründung ist die Verwaltungsbehörde befugt gewesen, § 86 Abs. 3 BVG anzuwenden und die Rente, unabhängig von einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse neu festzustellen; denn der Beklagte habe mit dem Umanerkennungsbescheid vom 14. Januar 1952 die frühere Bezeichnung des Versorgungsleidens und den vordem anerkannten Grad der MdE. unverändert übernommen, ohne daß seit dem Ergehen des BVG eine ärztliche Nachuntersuchung erfolgt sei. Bei der Begutachtung vom 23. September 1950 hätten die Ärzte noch nicht die Gesichtspunkte des BVG berücksichtigen können. Auch der Vertrauensarzt habe noch vor Verkündung des BVG, nämlich am 6. Oktober 1950, keine wesentliche Änderung der Verhältnisse festgestellt. Nach dem objektiven Befund der Augenärztin Dr. B sei beim linken Auge eine Besserung auf eine Sehfähigkeit von 5 / 10 eingetreten, weil die Hornhauttrübung links wesentlich geringer und heller geworden sei als rechts. Durch einen Astigmatismus und durch Alterssichtigkeit sei unabhängig vom Wehrdienst die Sehfähigkeit auf 1 / 10 herabgesetzt. Eine praktische Blindheit sei links daher nicht gegeben. Die Einschränkung der Sehkraft des linken Auges beim Kläger sei durch das Hornhautgeschwür im Frühjahr 1942 als Versorgungsleiden bindend anerkannt worden. Diese Bindung bestehe heute noch, ergreife aber nicht das Ausmaß der Leiden. Die Änderung im Befund des linken Auges sei auch wesentlich, jedoch lasse sich nicht mit Sicherheit feststellen, an welchem genauen Zeitpunkt die Besserung eingetreten sei, weil sich der Vorgang naturgemäß über einen größeren Zeitraum erstreckt habe und der Übergang allmählich sei. Die auf 1 / 10 geminderte Sehleistung links bei einer Sehleistung von 5 / 12 rechts ergäbe eine MdE. um 20 v. H. Dies entspreche dem Bescheid vom 6. März 1954.
Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat gegen das ihm am 22. April 1958 zugestellte Urteil mit dem beim Bundessozialgericht am 21. Mai 1958 eingegangenen Schriftsatz vom 19. Mai 1958 Revision eingelegt und die Revision mit Schriftsatz vom 6. Juni 1958, eingegangen beim Bundessozialgericht am 9. Juni 1958, begründet. Er beantragt,
1. das Urteil des LSG. Schleswig vom 21. Januar 1958, des SG. Schleswig vom 17. Februar 1955, den Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts N vom 15. Mai 1954 und den Bescheid des VersorgA. H vom 6. März 1954 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, über den 30. April 1954 hinaus Rente nach einer MdE. um 50 v. H. zu gewähren und "starke Herabsetzung des Sehvermögens links nach Hornhautgeschwür" als Schädigungsfolge anzuerkennen,
2. dem Beklagten die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Der Kläger rügt eine Verletzung des § 86 Abs. 3 BVG. Die von Dr. B (Gutachten v. 23.9.1950) durchgeführte Nachuntersuchung schließe die Anwendung des § 86 Abs. 3 BVG und damit die erleichterte Neufeststellung aus; als Nachuntersuchungen im Sinne des § 86 Abs. 3 BVG seien nicht nur solche Untersuchungen anzusehen, die nach Inkrafttreten des BVG (1.10.1950) angeordnet und durchgeführt worden seien, sondern auch solche, die vor Inkrafttreten des BVG aber nach Erlaß des letzten Rentenbescheides stattgefunden hätten; § 86 Abs. 3 BVG sei als Übergangsvorschrift eng auszulegen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Er ist der Ansicht, daß nur eine nach Inkrafttreten des BVG ausgeführte Nachuntersuchung die Anwendung des § 86 Abs. 3 BVG ausschließe. Die Umanerkennung vom 14. Januar 1952 sei aber ohne derartige ärztliche Nachuntersuchung erfolgt.
Die Revision des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt und rechtzeitig begründet. Sie ist auch statthaft, weil d s LSG. sie zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Die somit zulässige Revision ist jedoch nicht begründet.
Der angefochtene Neufeststellungsbescheid vom 6. März 1954 stützt sich zu Recht auf § 86 Abs. 3 BVG, da der Umanerkennungsbescheid vom 14. Januar 1952 ohne ärztliche Nachuntersuchung ergangen ist.
Mit dem Inkrafttreten des BVG waren frühere Entscheidungen über Versorgungsansprüche grundsätzlich hinfällig geworden (BSG. 3 S. 251 (255), 4 S. 21 (23)). Deshalb war es bei der Umanerkennung, d. h. der ersten Feststellung von Versorgungsansprüchen nach dem BVG, auch grundsätzlich erforderlich, alle Voraussetzungen für die Gewährung von Versorgungsansprüchen nach diesem Gesetz zu prüfen und dazu Feststellungen zu treffen. Für die Gewährung einer Versorgungsrente nach dem BVG war daher - um festzustellen, ob eine Gesundheitsstörung besteht und in welchem Grade sie die Erwerbsfähigkeit des Beschädigten mindert - grundsätzlich eine ärztliche Untersuchung erforderlich. Von dieser Auffassung ist der Gesetzgeber ausgegangen (vgl. Verhandlung des 26. Ausschusses für Kriegsopfer- und Kriegsgefangenenfragen des Deutschen Bundestages über das Bundesversorgungsgesetz - Deutscher Bundestag, 1. Wahlperiode 1949 - Protokoll der 35. Sitzung vom 4.10.1950 S. 97 C); diese Auffassung hat ihren Niederschlag in der Verwaltungsvorschrift Nr. 1 Abs. 3 zu § 86 BVG gefunden, die von "einer an sich notwendigen vorherigen ärztlichen Nachuntersuchung" spricht, und aus dieser Auffassung heraus wird überhaupt erst der § 86 Abs. 3 BVG verständlich. Mit dieser Vorschrift brachte das Gesetz zum Ausdruck, daß eine Umanerkennung - um diese zu beschleunigen - ausnahmsweise ohne die an sich notwendige vorherige ärztliche Nachuntersuchung möglich ist (Verwaltungsvorschriften a. a. O.), daß jedoch - um die bei dieser Bescheiderteilung ohne ärztliche Nachuntersuchung entstandenen Fehler beseitigen zu können - die Verwaltungsbehörde binnen vier Jahren nach Inkrafttreten des BVG die Rente neu feststellen kann, ohne daß sich die Verhältnisse wesentlich geändert haben (vgl. BSG. in SozR. BVG § 86 Bl. Ca 3 Nr. 3). Die Frage, ob der angefochtene Bescheid vom 6. März 1954 auf § 86 Abs. 3 BVG gestützt werden kann, hängt somit davon ab, ob der Umanerkennungsbescheid vom 14. Januar 1952 "ohne ärztliche Nachuntersuchung" ergangen ist.
Der Wortlaut des Gesetzes gibt keine Aufklärung darüber, ob unter einer Nachuntersuchung im Sinne dieser Vorschrift nur eine Nachuntersuchung zu verstehen ist, die nach Inkrafttreten des Gesetzes stattgefunden hat, oder ob darunter - wie es die Meinung des Klägers ist - jede Nachuntersuchung zu verstehen ist, die zwischen dem Erlaß des Altbescheides und dem Umanerkennungsbescheid ergangen ist, gleichgültig ob das BVG bereits in Kraft getreten war oder nicht. Aus dem oben erörterten Sinn der Vorschrift des § 86 Abs. 3 BVG muß jedoch geschlossen werden, daß als Nachuntersuchung im Sinne dieser Vorschrift nur eine solche zu verstehen ist, die für die Umanerkennung durchgeführt oder wenigstens für die Umanerkennung verwertet worden ist. Danach ist der Zeitpunkt der Nachuntersuchung für die Beurteilung der Frage, ob es sich um eine Nachuntersuchung im Sinne des § 86 Abs. 3 BVG handelt, an sich unerheblich. Es besteht sonach die Möglichkeit, daß auch eine Nachuntersuchung, die vor Inkrafttreten oder Verkündung des BVG durchgeführt worden ist, als eine Nachuntersuchung im Sinne des § 86 Abs. 3 BVG angesehen werden muß, wenn die Verwaltung diese Nachuntersuchung zur Grundlage für die Umanerkennung gemacht hat. Ebenso ist es aber auch denkbar, daß eine nach Inkrafttreten oder Verkündung des BVG durchgeführte Nachuntersuchung nicht als eine Nachuntersuchung im Sinne des § 86 Abs. 3 BVG zu gelten hat, wenn der Anlaß zu dieser Nachuntersuchung nicht die Umanerkennung war und die Verwaltungsbehörde diese Nachuntersuchung - etwa wegen ihres zeitlichen Abstandes von der Umanerkennung - nicht zur Grundlage des Umanerkennungsbescheides gemacht hat. Ob eine Nachuntersuchung für die Umanerkennung durchgeführt oder verwertet wurde, hängt daher nicht allein vom Zeitpunkt der Nachuntersuchung ab, sondern ist in jedem Falle besonders zu prüfen, und das Ergebnis dieser Prüfung ist entweder die tatsächliche Feststellung, daß die Nachuntersuchung für die Umanerkennung durchgeführt oder verwertet wurde, oder die Feststellung, daß dies nicht zutrifft. Im vorliegenden Falle hat das LSG. festgestellt, daß die Nachuntersuchung des Klägers vom 23. September 1950 weder für die Umanerkennung (14.1.1952) durchgeführt noch verwertet worden ist. Ob das LSG. dabei von der irrigen Annahme ausgegangen ist, eine Nachuntersuchung, die vor Inkrafttreten des BVG stattgefunden hat, sei in jedem Falle nicht eine Nachuntersuchung im Sinne des § 86 Abs. 3 BVG, ist aus den Urteilsgründen nicht klar ersichtlich, kann aber auch dahingestellt bleiben. Jedenfalls hat das LSG. zum Ausdruck gebracht, daß die Nachuntersuchung vom 23. September 1950 schon aus dem Grunde nicht für die Umanerkennung durchgeführt worden sein kann, weil zu diesem Zeitpunkt das BVG und damit die notwendig werdende Umanerkennung "noch nicht berücksichtigt worden sein" konnte. Das LSG. hat darüber hinaus aber auch zum Ausdruck gebracht, daß das Gutachten vom 23. September 1950 nicht für die Umanerkennung berücksichtigt worden ist. Es folgert dies daraus, daß der Beklagte "aus der Begutachtung vom 23. September 1950 nicht die Folgerungen gezogen hatte, wie es später geschehen ist", obwohl Dr. B. in dieser Begutachtung darauf hingewiesen hatte, daß die Sehschärfe auf dem linken Auge besser sein dürfte als der Kläger angebe. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG., die insoweit nicht angegriffen sind, ist somit die Nachuntersuchung vom 23. September 1950 für die Umanerkennung weder durchgeführt noch verwertet worden. Im übrigen ist der Zeitpunkt der Nachuntersuchung allein - wie der Kläger rechtsirrig meint, allein der Umstand, daß die Nachuntersuchung zeitlich nach dem Altbescheid vom 12. Juli 1948 liege - nicht für die Entscheidung erheblich, ob es sich um eine Nachuntersuchung im Sinne des § 86 Abs. 3 BVG handelt; das LSG. hat daher ohne Rechtsirrtum die Nachuntersuchung des Klägers vom 23. September 1950 nicht für eine ärztliche Nachuntersuchung im Sinne des § 86 Abs. 3 BVG angesehen und zutreffend angenommen, daß der Neufeststellungsbescheid der Beklagten vom 6. März 1954 auf diese Vorschrift gestützt werden kann.
Im übrigen sind die tatsächlichen Feststellungen des LSG. über die beim Kläger nach dem Bescheid vom 6. März 1954 bestehende Gesundheitsstörung und die dadurch bedingte MdE. nicht angegriffen worden. Die Entscheidung des LSG., mit welcher die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides der Beklagten vom 6. März 1954 bestätigt wurde, ist daher nicht zu beanstanden. Die Revision des Klägers war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen