Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 03.11.1994) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 3. November 1994 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Gericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt von der Beklagten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Mai 1991.
Der 1961 geborene Kläger ist aufgrund einer im Geburtsvorgang erlittenen Gehirnschädigung geistig behindert. Er besuchte vier Jahre lang eine Sonderschule, ist aber Analphabet. Seit August 1979 war er in einer Werkstatt für Behinderte tätig, zunächst etwa zehn Jahre lang als Helfer in der Tischlerei, anschließend bis zum Eintritt von Arbeitsunfähigkeit im Juli 1991 in der Verpackungsabteilung. Seine Arbeitszeit betrug 7 1/2 Stunden täglich bei einer Fünf-Tage-Woche, sein Arbeitsverdienst monatlich 145,00 DM. Während der Tätigkeit in der Werkstatt für Behinderte war er rentenversichert. Vom Versorgungsamt ist ihm für die Behinderung „geistige Behinderung nach frühkindlichem Hirnschaden” ein Grad der Behinderung von 100 vH anerkannt worden. Wegen Wirbelsäulenbeschwerden und vielfältigen psychosomatischen Störungen gab er im Februar 1992 seine Beschäftigung in der Werkstatt für Behinderte auf. Seitdem übt er keine Erwerbstätigkeit mehr aus.
Am 22. April 1991 beantragte der Kläger bei der Beklagten, ihm Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu gewähren. Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 3. September 1991; Widerspruchsbescheid vom 17. Januar 1992). Da der Kläger bereits vor Eintritt in die Rentenversicherung erwerbsunfähig gewesen sei, könne er einen Rentenanspruch nur erwerben, wenn er vor der Rentenantragstellung eine Versicherungszeit von 240 Kalendermonaten zurückgelegt habe. Er habe jedoch nur 141 Kalendermonate mit Pflichtbeiträgen belegt.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 18. November 1993). Mit seiner schon bei der Geburt erlittenen Hirnschädigung sei der Kläger niemals in der Lage gewesen, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine Beschäftigung auszuüben. Vielmehr sei bei ihm, auch schon bei Beginn der Tätigkeit 1979, nur eine betreute Beschäftigung in einer Werkstatt für Behinderte möglich gewesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 3. November 1994). Nach der medizinischen Beurteilung sei der Kläger niemals in der Lage gewesen, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein. Allerdings lasse sich auf diese Feststellung allein die Annahme von Erwerbsunfähigkeit nicht stützen. Denn der Kläger habe tatsächlich einen Arbeitsplatz inne gehabt und sei in dem dadurch bestimmten Rahmen regelmäßig erwerbstätig gewesen. Doch habe er während der gesamten Dauer seiner Beschäftigung in der Behindertenwerkstatt nur ein geringfügiges Arbeitsentgelt erzielen können. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei er damit zu keiner Zeit erwerbsfähig gewesen. Die damit erforderliche Versicherungszeit von 240 Monaten habe er nicht erreicht.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 8 des Gesetzes über die Sozialversicherung Behinderter (SVBG), des § 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und des Art 3 Abs 3 Satz 2 des Grundgesetzes (GG). Es dürfe nicht von den 145,00 DM allein ausgegangen werden, die er tatsächlich verdient habe. Es müsse vielmehr auch berücksichtigt werden, daß für ihn Sozialversicherungsbeiträge gemäß § 8 SVBG von einem Betrag errechnet worden seien, der sich an 90 % des durchschnittlichen Arbeitsentgeltes aller Versicherten der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten ausgerichtet habe. Das seien über 2.000,00 DM monatlich gewesen. Rechne man also hinzu, was für ihn an die Sozialversicherung gezahlt worden sei, so habe er tatsächlich monatlich etwa 570,00 DM verdient. Hinzu trete der Wert der freien Mahlzeiten in der Werkstatt für Behinderte. Hinsichtlich des so errechneten Einkommens fehle es an Feststellungen des LSG.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 3. November 1994 und das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 18. November 1993 sowie den Bescheid der Beklagten vom 3. September 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Januar 1992 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Mai 1991 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die bisherige Rechtsprechung habe bei der Frage der Geringfügigkeit das tatsächlich ausgezahlte Arbeitsentgelt zugrunde gelegt. An dieser Rechtsprechung sei das angefochtene Urteil ausgerichtet.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist iS der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Die Feststellungen des Berufungsgerichts reichen zu einer abschließenden Entscheidung des Rechtsstreits noch nicht aus.
Der Anspruch des Klägers ist nach den bis 31. Dezember 1991 geltenden Vorschriften zu beurteilen. Gemäß § 300 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) sind die durch das SGB VI aufgehobenen Vorschriften auch nach dem Zeitpunkt ihrer Aufhebung (31. Dezember 1991) noch auf den bis dahin bestehenden Anspruch anzuwenden, wenn der Anspruch bis zum Ablauf von drei Kalendermonaten nach der Aufhebung geltend gemacht wird. Das ist hier der Fall. Der vom Kläger erhobene Anspruch bestand – die Erfüllung der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale vorausgesetzt -schon vor dem Aufhebungsdatum und ist auch vom Kläger vor dem 1. April 1992 geltend gemacht worden.
Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erhielt nach § 1247 Abs 1 RVO der Versicherte, der erwerbsunfähig war und zuletzt vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hatte, wenn die Wartezeit erfüllt war. Daß der Kläger erwerbsunfähig iS des § 1247 Abs 2 RVO ist, seit er Rente begehrt, ist weder zweifelhaft noch von den Beteiligten bestritten. Auch die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen gemäß § 1247 Abs 2a RVO sind nicht im Zweifel. Aufgrund der bisherigen Tatsachenfeststellungen läßt sich aber noch nicht entscheiden, ob der Kläger die für ihn maßgebende Wartezeit erfüllte, da mangels ausreichender Ermittlungen zu seiner Tätigkeit in der Werkstatt für Behinderte nicht geklärt ist, welche Wartezeitregelung – § 1247 Abs 3 Satz 1 Buchst a RVO oder § 1247 Abs 3 Satz 1 Buchst b RVO – für seinen Anspruch galt.
Nach § 1247 Abs 3 Satz 1 Buchst a RVO war die Wartezeit erfüllt, wenn der Versicherte vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt hatte. Versicherte, die bereits vorher erwerbsunfähig waren, mußten dagegen gemäß § 1247 Abs 3 Satz 1 Buchst b RVO vor der Antragstellung eine Versicherungszeit von 240 Kalendermonaten zurückgelegt haben, um eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit beanspruchen zu können. Der Kläger war aufgrund seiner Tätigkeit in einer nach dem Schwerbehindertengesetz anerkannten Werkstatt für Behinderte gemäß § 1 Abs 1 Satz 1 SVBG versicherungspflichtig. In dieser Beschäftigung erwarb er Beitragszeiten für 141 Monate. Je nachdem, ab wann er erwerbsunfähig war, hat er demzufolge entweder den Tatbestand der fünfjährigen Wartezeit und damit auch alle Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente erfüllt oder aber (mangels weiterer gemäß § 1250 Abs 1 RVO anrechnungsfähiger Versicherungszeiten) die 20jährige Wartezeit nicht erreicht und daher auch keinen Rentenanspruch erlangt. Zum Eintritt seiner Erwerbsunfähigkeit wird das LSG noch weitere Ermittlungen anzustellen haben. Die Notwendigkeit einer solchen ergänzenden Sachaufklärung ergibt sich sowohl aus der bisherigen Rechtsprechung des Senats zur Problematik der Tätigkeit Behinderter in einer Werkstatt für Behinderte als auch aus der Einfügung des Halbsatzes 2 in § 44 Abs 2 Satz 1 SGB VI durch Art 3 des Zweiten Gesetzes zur Bereinigung von SED-Unrecht (Zweites SED-Unrechtsbereinigungsgesetz – 2. SED-UnBerG) vom 23. Juni 1994 (BGBl I S 1311).
In seinen Urteilen vom 23. und 25. April 1990 sowie 22. April 1992 (5 RJ 50/88, 68/88 und 40/91, BSGE 66, 295 = SozR 3-2200 § 1247 Nr 1, SozR 3-2200 § 1247 Nr 3 und BSGE 70, 270 = SozR 3-2200 § 1247 Nr 12) ist der Senat davon ausgegangen, daß die in einer Werkstatt für Behinderte verrichtete Arbeit eine tatsächlich ausgeübte „Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit” iS von § 1247 Abs 2 Satz 1 Alternative 1 RVO sein kann. Wegen der insoweit wortgleichen Formulierung des Gesetzes gilt dies für § 44 Abs 2 Satz 1 Halbsatz 1 SGB VI als Nachfolgevorschrift der RVO-Regelung weiter. Erkennbare gedankliche Grundlage seiner Entscheidungen ist also bereits seinerzeit für den Senat die Alternative gewesen, daß gemäß § 1 Abs 1 Satz 1 SVBG Pflichtversicherte – entsprechend dem Grundsatz der Einheitlichkeit des Begriffs der Erwerbsunfähigkeit in § 1247 Abs 2 RVO, s Senatsurteile vom 9. September 1983 (5b RJ 90/82; SozR 2200 § 1247 Nr 41) und vom 22. April 1992 (5 RJ 40/91; BSGE 70, 270 = SozR 3-2200 § 1247 Nr 12) – nach den allgemeinen für nichtbehinderte Versicherte geltenden Maßstäben entweder erwerbsfähig oder erwerbsunfähig waren und sich dies wesentlich nach Eigenart und Umfang der Tätigkeit in der Werkstatt für Behinderte richtete.
Durch die Ergänzung des § 44 Abs 2 Satz 1 SGB VI um den Halbsatz 2: „erwerbsunfähig sind auch Versicherte nach § 1 (ergänze: Satz 1) Nr 2, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können”, hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, daß er die Auffassung des Senats grundsätzlich teilt und auch für § 44 SGB VI – wie oben schon als begrifflich folgerichtig angedeutet – aufrechterhalten sehen will. Denn schon nach ihrem Wortlaut kann die neue Regelung nur dahin verstanden werden, daß bei den nach § 1 Satz 1 Nr 2 SGB VI pflichtversicherten Behinderten unter dem Blickwinkel der Erwerbsfähigkeit zwei Gruppen zu unterscheiden sind: die trotz ihrer Behinderung zu einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt fähigen Versicherten und die infolge ihrer Behinderung zu gleicher Arbeit nicht fähigen Versicherten.
Daß auf eine solche Differenzierung auch dem Normgehalt nach abgezielt ist, ergibt sich aus den Gesetzesmaterialien. In der BT-Drucks 12/7048 vom 10. März 1994 „Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses (6. Ausschuß)” S 42 heißt es – in stellenweiser Anlehnung der Formulierung an das Urteil des Senats vom 23. April 1990 aaO – zum Sinn und Zweck der Einfügung: „Die Ergänzung stellt klar, daß Versicherte, die in einer Werkstatt für Behinderte oder in einer anderen beschützenden Einrichtung beschäftigt sind und die wegen der Art oder der Schwere ihrer Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, erwerbsunfähig sind. Damit ist sichergestellt, daß entsprechend der ursprünglichen Zielsetzung der Vorschrift ein Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach Erfüllung der Wartezeit von 240 Kalendermonaten (§ 44 Abs 3) vom Behinderten auch dann erworben werden kann, wenn er Einkünfte oberhalb der Geringfügigkeitsgrenze erzielt, seine Arbeitsleistung aber für eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht ausreicht. Gleichzeitig ist klargestellt, daß der in einer Werkstatt beschäftigte Versicherte, der trotz seiner Behinderung (wieder) auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein kann, erwerbsfähig ist. Für die Beurteilung, ob der Behinderte auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein kann, ist entscheidend darauf abzustellen, ob die vom Behinderten in der Werkstatt verrichtete Tätigkeit gemessen an den durchschnittlichen Arbeitsergebnissen einer Tätigkeit gleichen Typs auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wirtschaftlich vertretbar (gemeint ist offenbar: verwertbar) wäre.”
Wenn auch für den vorliegenden Rechtsstreit die maßgebende Rechtsgrundlage nicht § 44 SGB VI, sondern § 1247 RVO ist, sind diese Ausführungen doch wegen der inhaltlichen Kontinuität der Gedankenführung und der erklärten Zielrichtung der Gesetzesergänzung, Klar- und Sicherstellung der schon bisher bestehenden Rechtslage zu sein, für die Beurteilung des Anspruchs des Klägers mit heranzuziehen. Aus der hieraus folgenden Zusammenschau der Regelungen in § 1247 RVO und § 44 SGB VI ergeben sich für eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit an Behinderte, die in Werkstätten für Behinderte tätig waren oder sind, zwei wesentliche Gesichtspunkte: Zum einen bedeutet die Tatsache, daß ein Behinderter in einer Werkstatt für Behinderte tätig ist, für sich allein noch nicht, daß er erwerbsunfähig ist. Wie es um seine Erwerbsfähigkeit im rentenversicherungsrechtlichen Sinn bestellt ist, bedarf vielmehr entsprechender gesonderter Feststellung. Für diese Ermittlung ist zum zweiten als Bezugspunkt nicht die Wertigkeit der verrichteten Tätigkeit für die Werkstatt, sondern die wirtschaftliche Verwertbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu nehmen. Die vom Behinderten in der Werkstatt verrichtete Tätigkeit ist dafür nach Art, beruflichen Voraussetzungen und regelmäßig erreichtem Sachertrag mit den durchschnittlichen Arbeitsergebnissen einer typgleichen Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu vergleichen und daraufhin abzuschätzen, ob die Fähigkeiten des Behinderten ausreichen würden, einen Arbeitsplatz der typgleichen Tätigkeit im Umfang des § 1247 Abs 2 Satz 1 RVO und des § 44 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGB VI – „gewisse Regelmäßigkeit” oder „geringfügige Einkünfte” bzw „Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen, das ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße übersteigt” – auszufüllen.
In negativer Abgrenzung folgt aus der durch die Neufassung des § 44 Abs 2 Satz 1 SGB VI begründeten Beurteilungsweise einmal, daß es nicht darauf ankommt, was die Werkstatt dem Behinderten für seine Tätigkeit als „Arbeitsentgelt” real auszahlt, insbesondere, ob der gezahlte Geldbetrag ober- oder unterhalb der Geringfügigkeitsgrenze liegt. Der Gesetzgeber hat sich mit der Einfügung des Halbsatzes 2 in § 44 Abs 2 Satz 1 SGB VI erkennbar gegen die anderslautende Gesetzesauslegung des Senats in seinem Urteil vom 22. April 1992 (5 RJ 40/91 – BSGE 70, 270 = SozR 3-2200 § 1247 Nr 12) gewandt. Der Senat gibt seine damalige Rechtsauffassung, auf die auch das Berufungsgericht sein Urteil gestützt hat, daher wieder auf. Darüber hinaus schließt die Gesetzesergänzung eine Beurteilung der Erwerbsfähigkeit des Behinderten, die nicht die in der Werkstatt verrichtete Tätigkeit mitberücksichtigt, als unzulässig aus. Die Erwerbsfähigkeit ist kein medizinischer, sondern ein rechtlicher Begriff. Er erfordert zum einen die Feststellung, was der Versicherte arbeitsmäßig (noch) leisten kann aufgrund der bei ihm naturwissenschaftlich, insbesondere medizinisch ermittelten körperlichen, geistigen und seelischen Fähigkeiten, zum anderen die Bewertung, ob und wie diese Fähigkeiten unter den auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt jeweils aktuellen Arbeits- und Produktionsverhältnissen wirtschaftlich verwertbar sind. Dabei versteht es sich von selbst, daß nicht maßgebend ist, ob für den Behinderten Aussicht besteht oder bestehen würde, einen entsprechenden freien Arbeitsplatz zu erhalten.
§ 1247 RVO und § 44 SGB VI verstoßen in dem dargelegten umfassenderen, durch § 44 Abs 2 Satz 1 Halbsatz 2 SGB VI begründeten Verständnis auch nicht gegen Art 3 Abs 3 Satz 2 GG, wonach „niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden” darf. Eine Benachteiligung wegen Behinderung liegt nicht vor, wenn Behinderte zwar auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wegen der Art oder der Schwere ihrer Behinderung keinen über der Geringfügigkeitsgrenze liegenden Lohn erreichen können und infolgedessen als erwerbsunfähig angesehen werden müssen, aber in einer Werkstatt für Behinderte tätig sind und hierdurch einen Rentenanspruch nach § 44 Abs 1 bis 3 SGB VI erwerben können, sofern sie 240 Monate – statt wie allgemein erforderlich 60 Monate – versichert sind. Der Schutzbereich des Art 3 Abs 1 GG ist lediglich betroffen, wenn wesentlich Gleiches ungleich behandelt wird (BVerfGE 1, 14, 52; 76, 256, 329; 78, 249, 287) oder wesentlich Ungleiches gleich (BVerfGE 72, 141, 150; 84, 133, 158). Der Gesetzgeber geht damit von dem aus, was von außerhalb seines Einflußbereiches ihm als gleich oder ungleich vorgegeben wird. Gleiche Begabungen, Fähigkeiten und Leistungen darf er nicht als ungleich, ungleiche Begabungen, Fähigkeiten und Leistungen nicht als gleich behandeln. Die Rentenversicherung gewährt Leistungen nach Maßgabe der von den und für die Versicherten eingezahlten Beiträge, dh im Grundsatz nach den von den Versicherten erzielten Arbeitsergebnissen. Da die an die Versicherten gezahlten Löhne im allgemeinen mit den von der Natur den einzelnen verliehenen Begabungen und Fähigkeiten und der darauf beruhenden Leistungsfähigkeit zu tun haben, spiegelt die Rentenversicherung eine vom Gesetzgeber nicht herbeigeführte, sondern vorgefundene Ungleichheit wieder, die er als solche akzeptieren muß, will er nicht gerade damit gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen, daß er Ungleiches gleich behandelt. Eine andere Frage ist es, ob aufgrund des Grundsatzes der Solidarität schwächere Mitglieder der Gesellschaft auf Kosten stärkerer Mitglieder Leistungen erhalten, die über dem liegen, was ihrem Anteil an den für die Gemeinschaft erbrachten Leistungen liegt. Das folgt dann allerdings nicht aus dem Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz, sondern dem Gedanken der Verantwortlichkeit für sozial Bedürftige.
Die Regelung des § 1247 Abs 3 Satz 1 Buchst b RVO, die einem Behinderten ermöglichte, nach einer Versicherungszeit von 240 Monaten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu erhalten, mußte bereits im Zusammenhang gesehen werden mit den §§ 1 und 2 SVBG. Ebenso steht § 44 Abs 3 SGB VI in Zusammenhang mit § 1 Satz 1 Nr 2 SGB VI. Selbst Behinderten, die schon erwerbsunfähig sind, wird der Zugang zu einem Schutzsystem eröffnet, das gegen Erwerbsunfähigkeit versichert und eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gewährt. Das widerspricht im Prinzip dem Wesen einer Versicherung, denn niemand kann gegen ein Risiko versichert werden, das bereits eingetreten ist. Wenn den Behinderten dennoch diese Möglichkeit eröffnet wird, so sind sie dadurch gegenüber anderen Versicherten nicht benachteiligt, sondern gerade im Gegenteil begünstigt. Daß ihnen im Ausgleich dafür eine längere Versicherungszeit abverlangt wird, trägt lediglich dem Gedanken Rechnung, daß zwischen Einzahlung in die Versicherung und Leistungen aus der Versicherung eine gewisse Gleichwertigkeit gewahrt sein muß. Art 3 Abs 3 GG will verhindern, daß das Individuum durch die Einordnung in eine durch Diskriminierung gefährdete Gruppe stigmatisiert und benachteiligt wird (BAG in DB 1996, 580, 581). Durch die Regelungen in § 1247 Abs 3 Buchst b RVO und § 44 Abs 3 SGB VI wird indessen eine solche Diskriminierung nicht herbeigeführt oder gefördert.
Bei der durch die Rechtsprechung des Senats und die Gesetzesergänzung geforderten Auslegung des § 1247 RVO reichen die tatsächlichen Feststellungen des LSG zu einer abschließenden Entscheidung noch nicht aus. Zwar ist das LSG hinsichtlich des Gesundheitszustandes des Klägers zu dem Ergebnis gelangt, er sei niemals in der Lage gewesen, unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes erwerbstätig zu sein. Es hat dabei aber nicht, wie nach dem oben Dargelegten notwendig, zugleich näher geprüft und in seine Beurteilung einbezogen, welche Arbeit der Kläger in welchem Umfang in der Werkstatt geleistet hat und ob er damit auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt hätte bestehen können, sich vielmehr unter Berufung auf die Entscheidung des Senats vom 22. April 1992 darauf beschränkt festzustellen, daß der Kläger während der gesamten Dauer seiner Beschäftigung in der Behindertenwerkstatt nur ein geringfügiges Arbeitsentgelt erzielt habe. Da dieses Kriterium nach dem Dargelegten nicht mehr erheblich ist, wird es seine Tatsachenfeststellungen insoweit zu ergänzen haben. Dabei wird auch zu beachten sein, daß die Tatsache der Ausübung einer Tätigkeit in der Regel einen stärkeren Beweiswert hat als die scheinbar dies ausschließenden medizinischen Befunde (BSG, Urteile vom 28. Februar 1963 – 12 RJ 24/58 – SozR Nr 24 zu § 1246 RVO und vom 26. September 1975 – 12 RJ 208/74 -SozR 2200 § 1247 Nr 12).
Das angefochtene Urteil war somit gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das LSG wird auch über die Kosten der Revisionsinstanz zu befinden haben.
Fundstellen