Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. März 1996 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Rechtsstreit betrifft einen Anspruch auf Arbeitslosengeld (Alg) ab 1. März 1994. Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin während der Teilnahme an einer berufsbildenden Maßnahme für die Arbeitsvermittlung verfügbar war.
Die 1970 geborene Klägerin, die als Friseurin und Verkaufshilfe beschäftigt war, bezog ab Oktober 1992, unterbrochen durch eine kurzfristige Beschäftigung mit anschließender Arbeitsunfähigkeit, Alg. Den Antrag auf Wiederbewilligung dieser Leistung ab 1. März 1994 lehnte die beklagte Bundesanstalt für Arbeit (BA) ab, weil die Klägerin vom 1. März bis 23. Dezember 1994 montags bis freitags zwischen 8.30 Uhr und 14.30 Uhr an dem Projekt: „Berufliche Qualifizierung und psychosoziale Betreuung von langzeitarbeitslosen Frauen” im Berufsbildungswerk Hannover eV teilnahm. Die BA hielt die objektive Verfügbarkeit der Klägerin für die Arbeitsvermittlung nicht für gegeben (Bescheid vom 22. März 1994; Widerspruchsbescheid vom 20. April 1994).
Der gegen diese Entscheidung gerichteten Klage hat das Sozialgericht (SG) stattgegeben. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Klage abgewiesen und ausgeführt, die Klägerin stehe der Arbeitsvermittlung objektiv nicht zur Verfügung. Das LSG hat seine Ansicht im einzelnen auf § 103 Abs 4 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) sowie die §§ 3 und 4 der Aufenthalts-Anordnung (AufenthaltsAO) gestützt. Ergänzend hat es auf die am 1. August 1994 in Kraft getretene Vorschrift des § 103b AFG als authentische Auslegung des Gesetzgebers hingewiesen. Wenn § 103b AFG die Verfügbarkeit während der Teilnahme an Maßnahmen, die zur beruflichen Wiedereingliederung oder zur Verbesserung seiner Vermittlungsaussichten beitragen nur unter bestimmten einschränkenden Voraussetzungen annehme, so deute dies darauf hin, daß die Teilnahme an Maßnahmen der beruflichen Bildung die Verfügbarkeit grundsätzlich ausschließe. Die Erreichbarkeit der Klägerin während der Maßnahme im Berufsbildungswerk hat das LSG offengelassen, beiläufig aber die Ansicht vertreten, die Klägerin sei erreichbar gewesen, weil ihr Aufenthalt der BA bekannt gewesen sei.
Die vom LSG zugelassene Revision hält es für unvertretbar, daß Arbeitslose Alg nicht erhalten, wenn sie sich um ihr berufliches Fortkommen durch Teilnahme an berufsbildenden Maßnahmen bemühen, statt Zuhause auf eine Arbeitsvermittlung zu warten. Das dem Urteil des LSG zugrundeliegende Gesetzesverständnis widerspreche dem Sinn des AFG und verletze die Klägerin in ihrem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit.
Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. März 1996 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 7. September 1995 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend und weist zur Erreichbarkeit der Klägerin der Maßnahme auf Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hin.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet. Das angefochtene Urteil verletzt § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AFG. Für eine abschließende Entscheidung des Senats reichen die tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht aus.
Anspruch auf Alg hat bei Vorliegen der Voraussetzungen im übrigen, wer der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht (§ 100 Abs 1 AFG). Diese Voraussetzung erfüllt nach § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 1 AFG nur, wer eine zumutbare, nach § 168 AFG die Beitragspflicht begründende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausüben kann und darf. Zwar ist das LSG zutreffend von der ständigen Rechtsprechung des BSG ausgegangen, wonach sich ein Arbeitsloser aktuell der Vermittlungstätigkeit der BA zur Verfügung halten muß. Diesem Erfordernis ist in der Regel nicht genügt, wenn es gestaltender Entscheidungen (Abbruch der Maßnahme) bedarf, um einem Arbeitsangebot Folge zu leisten (BSG SozR 4100 § 103 Nr 46 mwN; vgl auch: BSGE 71, 17, 21 = SozR 3-4100 § 103 Nr 8). Daran ist wegen der die Teilnahme an berufsbildenden Maßnahmen betreffenden Vorschriften § 103 Abs 4 AFG, § 4 AufenthaltsAO und – hier noch nicht anzuwenden – § 103b AFG idF des Beschäftigungsförderungsgesetzes 1994 vom 26. Juli 1994 (BGBl I 1786) festzuhalten. Diese Rechtslage schließt aber eine Verfügbarkeit oder wenigstens Teilverfügbarkeit dann nicht aus, wenn die Klägerin trotz der Teilnahme an dem Projekt unter Berücksichtigung von Wegezeiten und gegebenenfalls Zeiten zur Vor- und Nachbereitung noch mehr als eine kurzzeitige Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts ausüben konnte (BSG SozR 4100 § 103 Nr 46 mwN). Das LSG ist dem nicht weiter nachgegangen. Die Frage der Verfügbarkeit der Klägerin in der Zeit vom 1. März bis 23. Dezember 1994 ist vom BSG nicht abschließend zu entscheiden, weil tatsächliche Feststellungen fehlen, die ein Urteil darüber zulassen, ob der Klägerin neben der Belastung durch die Maßnahme noch eine mehr als kurzzeitige Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes möglich war. Gegebenenfalls wird auch zu prüfen sein, ob eine entsprechende Arbeitsbereitschaft der Klägerin bestand (§ 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG).
Das klagabweisende Urteil des LSG läßt sich auch nicht mit der Begründung aufrechterhalten, die Klägerin sei während der Teilnahme an dem Projekt für die Arbeitsvermittlung nicht erreichbar gewesen (§ 103 Abs 1 Satz 1 Nr 3 AFG). Nach § 1 Satz 1 AufenthaltsAO muß das Arbeitsamt den Arbeitslosen während der üblichen Zeit des Eingangs der Briefpost unter der von ihm benannten, für die Zuständigkeit des Arbeitsamts maßgeblichen Anschrift erreichen können (BSG SozR 3-4450 § 4 Nr 1; BSG SozR 3-4100 § 103 Nr 16). Die Regelung soll sicherstellen, daß nur der Arbeitslose Leistungen erhält, der Arbeitsangebote sofort annehmen kann. Das ist nicht gewährleistet, wenn die Postzustellung von der Gefälligkeit von Schulungseinrichtungen abhängig ist (BSG SozR 3-4450 § 4 Nr 1). Unerheblich ist dabei, ob Vermittlungsversuche möglich gewesen wären (BSGE 58, 104, 106 = SozR 4100 § 103 Nr 36). Ausnahmen von diesem Grundsatz sieht § 4 Satz 1 AufenthaltsAO, wie die entsprechende Anwendung des § 3 AufenthaltsAO zeigt, nur zeitlich begrenzt „bis zu drei Wochen” vor. Davon ist der Senat bisher ausgegangen, ohne daß diesem Umstand für die Entscheidung tragende Bedeutung zukam (BSG SozR 3-4450 § 4 Nr 1). Die Anordnung entsprechender Anwendung des § 3 AufenthaltsAO läßt einen zeitlich unbegrenzten Verzicht auf die Erreichbarkeit des Arbeitslosen nicht zu. Wäre sie beabsichtigt gewesen, hätte es nahegelegen, Ausnahmen von der Erreichbarkeit bei Teilnahme an berufsbildenden Maßnahmen eigenständig und nicht durch Verweisung auf § 3 AufenthaltsAO zu regeln. Ein solches Verständnis des § 4 Satz 1 AufenthaltsAO wird auch durch die Einführung des § 103b AFG bestätigt, der Ausnahmen von der Verfügbarkeit während der Teilnahme an Wiedereingliederungsmaßnahmen unter weiteren gesetzlichen Voraussetzungen ebenfalls nur zeitlich beschränkt bis zu zwölf Wochen vorsieht (§ 103b Abs 4 AFG). Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift zeigt, daß der Gesetzgeber selbst davon ausgegangen ist, daß „ein Arbeitsloser, der an einer Bildungsmaßnahme teilnimmt, in aller Regel der Arbeitsvermittlung nicht in einer den Anforderungen des § 103 AFG genügenden Weise zur Verfügung” steht. Auch durch § 103b AFG sollte Arbeitslosengeld nur während kurzfristiger Qualifizierungsmaßnahmen weiter gewährt werden, um die berufliche Wiedereingliederung zu verbessern. Der Gesetzgeber war sich dabei der Gefahr mißbräuchlicher Inanspruchnahme solcher Begünstigungen bewußt (vgl BT-Drucks 12/7244 S 32). Wegen der Dauer der Maßnahme, an der die Klägerin teilgenommen hat, läßt sich ihre Erreichbarkeit nicht nach §§ 3 und 4 AufenthaltsAO damit begründen, die Arbeitsvermittlung werde durch die Teilnahme nicht beeinträchtigt. Erreichbar war die Klägerin unter diesen Umständen nur, falls sie trotz der Teilnahme während der üblichen Zeit des Eingangs der Briefpost unter der von ihr im Antrag genannten Anschrift erreichbar war. Dies läßt sich abschließend nicht beurteilen, weil die übliche Zeit des Eingangs der Briefpost an die Anschrift der Klägerin nicht festgestellt ist.
Freiheitsrechte der Klägerin werden durch dieses Verständnis des Gesetzes nicht verletzt (vgl dazu den in dieser Sache ergangenen Beschluß des Senats vom 1. Juli 1996).
Da die tatsächlichen Feststellungen des LSG für eine abschließende Entscheidung des Senats nicht ausreichen, ist die Sache zur weiteren Sachaufklärung und Entscheidung – auch über die Kosten des Revisionsverfahrens – an das LSG zurückzuverweisen.
Fundstellen
NWB 1997, 1637 |
NJ 1997, 356 |