Entscheidungsstichwort (Thema)

Entziehung einer Berufsunfähigkeitsrente aus der knappschaftlichen Rentenversicherung. Verweisung auf gleichartige Berufe. Änderung der Verhältnisse

 

Orientierungssatz

Eine Tätigkeit, die ein Versicherter nach dem Erwerb neuer Kenntnisse und Fähigkeiten in einem knappschaftlichen Beitrieb ausüben kann, schließt nicht das Fortdauern von Berufsunfähigkeit aus, wenn diese Tätigkeit einer der bisher verrichteten Tätigkeit gegenüber nur im Wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig ist.

 

Normenkette

RKG §§ 35, 54; RVO § 1293

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen vom 27. Januar 1955, das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 23. März 1954, der Einspruchsbescheid vom 11. Juni 1953 und der Bescheid der Beklagten vom 10. Februar 1953 werden aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die Knappschafsrente über den 28. Februar 1953 hinaus weiter zu zahlen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I.

Der im Jahre 1922 geborene Kläger war im Bergbau vom Dezember 1936 bis zum Juli 1938 als Bergjungmann und alsdann wieder vom 4. November 1939 bis zum 11. April 1940 als Hilfsarbeiter (Verlader an der Kokshalde) tätig und während dieser Zeiten insgesamt 26 Monate knappschaftlich versichert. Anschließend leistete der Kläger Kriegsdienst; hierbei verlor er im Januar 1944 das linke Bein im unteren Drittel des Oberschenkels und das rechte Bein unterhalb der Kniescheibe. Für die Folgen dieser Verletzung ist seitens der Versorgungsdienststellen eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 100 v. H. anerkannt, neben der zusätzlich auch heute noch eine Pflegezulage gewährt wird.

Seit dem 1. August 1947 verrichtet der Kläger Büroarbeiten bei der Stadt W, seit Dezember 1950 als Karteiführer beim Einwohnermeldeamt. Sein tarifliches Einkommen betrug Ende 1951 monatlich 371,60 DM und stieg bis Juni 1953 auf 445,90 DM brutto.

Durch Bescheid vom 3. Dezember 1948 hatte die Beklagte dem Kläger - gleichfalls wegen der Wehrdienstbeschädigungsfolgen - die Knappschaftsrente vom 1. April 1948 ab zuerkannt.

Im Herbst 1952 veranlaßte die Beklagte ärztliche Nachuntersuchungen des Klägers, die im wesentlichen den gleichen objektiven Befund wie bei der Rentengewährung ergaben. Die Ärzte des Knappschaftskrankenhauses G vertraten jedoch die Auffassung, acht Jahre nach dem Verlust der Beine sei eine Gewöhnung an den Zustand eingetreten, die den Kläger ohne Gesundheitsstörung zu einer Angestelltentätigkeit auch im Bergbau fähig erscheinen lasse.

Die Beklagte entzog darauf dem Kläger die Knappschaftsrente mit Wirkung vom 1. März 1953, da sie ihn unter Zugrundelegung seiner Tätigkeit als Kokslader als Hauptberuf (Lohngruppe I über Tage) auf Grund seiner inzwischen erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten für fähig hielt, auch in einem Bergbaubetrieb wirtschaftlich gleichwertige Lohnarbeiten als Büroangestellter zu verrichten.

Weder mit seinem Einspruch an den Geschäftsausschuß noch mit seiner, nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes als Klage auf das Sozialgericht Dortmund übergegangenen Berufung hatte der Kläger Erfolg.

II.

Auch die Berufung an das Landessozialgericht Essen führte zur Zurückweisung.

Das Landessozialgericht begründet sein Urteil im wesentlichen mit folgenden Erwägungen:

Auszugehen sei als Hauptberuf von der Tätigkeit als Kokslader (Lohngruppe I über Tage). Die Berücksichtigung einer möglicherweise bei ungestörtem Berufsablauf später erreichten besser gelohnten Tätigkeit sei in der knappschaftlichen Rentenversicherung - anders als nach § 565 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der Unfallversicherung - nicht zulässig.

Der Kläger habe sich in seiner mehrjährigen Tätigkeit bei der Stadtverwaltung W neue Kenntnisse und Fähigkeiten angeeignet, die ihn befähigen, in knappschaftlichen Betrieben eine seinem Hauptberuf gegenüber wirtschaftlich gleichwertige Angestelltentätigkeit auszuüben. Irgendwelche Gründe, bei dem Kläger eine solche Tätigkeit wegen seiner recht erheblichen Kriegsverletzungen als unzumutbar anzusehen, seien bei der durchaus normalen Ausheilung nicht anzuerkennen.

Der Lohnvergleich ergebe zwar - im Gegensatz zu der Auffassung des Sozialgerichts -, daß der Kläger im Zeitpunkt der Rentenentziehung als Angestellter im Bergbau nach Tarifklasse C insgesamt nur 279,- DM erhalten haben würde, da er mangels ordnungsmäßiger kaufmännischer Ausbildung erst im Jahre 1950 in ein Angestelltenverhältnis hätte übernommen werden können und demnach die tariflichen Steigerungsbeträge auch erst von diesem Zeitpunkt an zu berechnen wären. Aber auch der sich gegenüber dem derzeitigen Lohn eines Koksladers von 310,- DM ergebende Unterschied von 31,- DM = 10 % könne noch als zumutbar angesehen werden; die vom Kläger verrichtete Angestelltentätigkeit sei im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig im Sinne des § 35 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG). Entgegen der vom Sozialgericht vertretenen Auffassung brauche die nach Erwerb neuer Kenntnisse und Fähigkeiten zumutbare Tätigkeit im Bergbau nicht wirtschaftlich mindestens gleichwertig zu sein; es reiche - genau wie auch bei § 54 RKG - aus, wenn die Tätigkeit im wesentlichen gleichwertig sei. Zur Unterstützung dieser Ansicht bezieht sich das Landessozialgericht auf eine Reihe von Entscheidungen des Reichsversicherungsamts, die zwar wechselweise beide Wendungen nebeneinander gebraucht, aber offenbar jeweils denselben Begriff gemeint hätten. Eine andere Auslegung sei auch um deswillen unbillig, weil sonst der im Bergbau verbliebene Versicherte, bei dem es zur Ablehnung der Berufsunfähigkeit unzweifelhaft ausreiche, wenn er noch im wesentlichen gleichwertige Arbeiten verrichten könne, schlechter gestellt sei als der Rentenempfänger, der sich neue Kenntnisse und Fähigkeiten angeeignet habe.

Das Landessozialgericht hat die Revision gegen sein Urteil vom 27. Januar 1955 zugelassen.

III.

Gegen das am 17. Februar 1955 zugestellte Urteil hat der Kläger am 15. März 1955 Revision eingelegt und diese am 6. April 1955 begründet.

Materiell-rechtlich rügt der Kläger eine Verletzung der Bestimmungen der §§ 35 und 54 RKG. Er ist der Auffassung, daß auch für den Fall der nachträglichen Aneignung neuer Kenntnisse und Fähigkeiten nach § 35 RKG die "wesentliche Gleichartigkeit" der alsdann möglichen Tätigkeit mit dem knappschaftlichen Hauptberuf verlangt werden müsse; an dieser fehle es jedoch bei dem Vergleich zwischen der Tätigkeit eines Arbeiters und eines Angestellten in knappschaftlichen Betrieben; zumindest liege in dieser Hinsicht keine hinreichende Feststellung vor, was einen wesentlichen Verfahrensmangel bedeute.

Weiter fehle es aber im vorliegenden Fall auch an der wirtschaftlichen Gleichwertigkeit. Der Gesetzeswortlaut beziehe die Worte "im wesentlichen" allein auf "Gleichartigkeit"; die Gleichwertigkeit dagegen müsse unbedingt gegeben sein.

Bei der Beurteilung des Falles müsse auch auf die Schwerstbeschädigung des Klägers Rücksicht genommen werden.

Der Kläger regt an, die Sache zur Entscheidung der streitigen Fragen, die grundsätzliche Bedeutung hätten, dem Großen Senat vorzulegen.

Er beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des Sozialgerichts Dortmund, die Beklagte zur Weiterzahlung der Knappschaftsrente zu verurteilen,

hilfsweise jedoch, die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt demgegenüber

kostenpflichtige Abweisung der Revision.

Sie hält - unter Berufung auf eine Reihe von Entscheidungen des früheren Reichsversicherungsamts (insbesondere die Grundsätzlichen Entscheidungen Nr. 3201 AN. 28 S. 238 und Nr. 5412 AN. 41 S. 109, sowie die Entscheidungen AN. 09 S. 477 und AN. 37 S. 278) - die Entziehung der Knappschaftsrente wegen Fortfalls der Berufsunfähigkeit schon dann für zulässig, wenn die nachträglich erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten eine wirtschaftlich der früheren Berufstätigkeit gleichwertige Tätigkeit in einem knappschaftlichen Betrieb ermöglichten, ohne daß dabei auch noch auf die Gleichartigkeit der Tätigkeiten abzustellen sei; darüber, daß das Wort "wesentlich" sich nicht nur auf die Gleichartigkeit, sondern auch auf die Gleichwertigkeit beziehe, habe bisher niemals ein Zweifel geherrscht.

Soweit das Reichsversicherungsamt von "mindestens gleichwertig" gesprochen habe, habe es sich dabei um Entscheidungen gehandelt, die schon zu einer Zeit ergangen wären, in der das Gesetz noch keine Legaldefinition der Berufsunfähigkeit aufgestellt habe. Seit 1934 könne bei dem klaren Wortlaut des Gesetzes kein Zweifel mehr daran bestehen, daß es ausreiche, wenn die Vergleichstätigkeit im wesentlichen gleichwertig sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist vom Landessozialgericht zugelassen und daher statthaft.

Ein Anlaß zur Abgabe an den Großen Senat besteht nicht; auch ohne diese Abgabe erscheint die einheitliche Rechtsprechung nicht gefährdet; die Fortbildung des Rechts ist Pflicht eines jeden Senats (vgl. Urteile des BSG. vom 27.1.1956 - 7 RAr 81/55 und 126/55.)

Die Revision erscheint begründet.

I.

Der Kläger macht geltend, daß die Tätigkeiten, auf die er verwiesen werden solle, im Sinne des § 35 RKG nicht "gleichartig" seien und rügt als unrichtige Gesetzesanwendung, daß das Landessozialgericht die Gleichartigkeit im vorliegenden Fall nicht für erforderlich halte.

Diese Rüge des Klägers greift durch.

Die vom Gesetzgeber erst durch die Verordnung vom 7. Mai 1934 in den § 35 RKG aufgenommene Legaldefinition des Begriffs der Berufsunfähigkeit im Sinne des RKG stimmt wörtlich mit der Begriffsbestimmung überein, die durch die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts entwickelt worden ist und die in der Entscheidung Nr. 3049 (AN. 27 S. 306) ihre endgültige Fassung fand. Diese Entscheidung führte zur Berufsfähigkeit aus:

"... Dabei ist nicht allein die bisher verrichtete Tätigkeit in Betracht zu ziehen, sondern die Berufsgruppe, d. h. der ganze Kreis der etwa gleichartigen und wirtschaftlich gleichwertigen, von Personen ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in knappschaftsversicherungspflichtigen Betrieben ausgeübten Tätigkeiten. Das entspricht der Erwägung, daß im Fall der Berufsunfähigkeitsversicherung dem Versicherten eine Berufsumstellung in den bezeichneten Grenzen vor der Gewährung der Hilfe zugemutet werden kann (zu vgl. § 30 Abs. 1 Satz 2 AVG und Revisionsentscheidung Nr. 2866 AN. 25 S. 228 und weitergehend die Voraussetzungen der Leistung der JV.). Denn die Berufsunfähigkeitsversicherung hat eine dauernde Hilfe zum Gegenstand - anders als die Krankenversicherung - wo die Krankenhilfe ... nur die zuletzt ausgeübte Tätigkeit ins Auge fassen kann ...".

Hiernach wird man als damalige Auffassung des Reichsversicherungsamts, die der Gesetzgeber mit der Neufassung des § 35 RKG übernommen hat, annehmen müssen, daß jedenfalls nicht alle der Knappschaftsversicherungspflicht unterliegenden Tätigkeiten als einander im wesentlichen gleichartig anzusehen sind. Wäre dies der Fall, so entfiele jede Notwendigkeit, das Erfordernis der Gleichartigkeit überhaupt aufzustellen und später gesetzlich ausdrücklich vorzuschreiben, da ohnehin aus allgemein versicherungsrechtlichen Gründen eine Verweisung auf andere als der knappschaftlichen Versicherungspflicht unterliegende Tätigkeiten nicht zulässig wäre. Der Begriff der Gleichartigkeit soll es also ermöglichen, innerhalb des gesamten knappschaftlich versicherten Personenkreises unter besonderer Berücksichtigung des Ausbildungsganges und der Art der Tätigkeit der Versicherten im Gesamtgeschehen des Betriebes nach ihrer Artverwandtschaft Untergruppen zu bilden. Mit Hilfe dieser so gewonnenen Einteilung soll im Rahmen der knappschaftlichen Versicherung als einer typischen Berufsversicherung alsdann ermittelt werden können, welche Tätigkeiten dem einzelnen Versicherten aus dieser Gesamtbetrachtung heraus noch als artentsprechend zugemutet werden können.

II.

Wird mit dem Erfordernis der Gleichartigkeit aber dieser besondere Zweck verfolgt, so ergibt sich weiter die Frage, ob rechtlich tragende Gründe bestehen, in Fällen wie dem vorliegenden von dem gesetzlich vorgeschriebenen Erfordernis der "Gleichartigkeit" der Vergleichstätigkeit abzusehen.

Bei dieser Prüfung ist auszugehen von der Entscheidung Nr. 3201 vom 16. März 1928 (AN. 28 S. 238), in der das Reichsversicherungsamt es erstmals für zulässig erklärt, eine Knappschaftsinvalidenpension ohne Berücksichtigung der Gleichartigkeit schon dann zu entziehen, wenn in den Verhältnissen des Versicherten dadurch eine Änderung eingetreten ist, daß dieser sich "nach der Bewilligung der Pension neue Kenntnisse und Fertigkeiten angeeignet hat, die ihn befähigen, eine von seiner früheren Berufstätigkeit verschiedene Tätigkeit in einem knappschaftlichen Betrieb - sei es eine Arbeiter - oder Angestelltentätigkeit - auszuüben, sofern diese nur der früheren Berufstätigkeit wirtschaftlich zum mindesten gleichwertig ist."

Zur Begründung verweist das Reichsversicherungsamt auf seine auf dem Gebiet der Invalidenversicherung entwickelte Rechtsprechung, nach der der Erwerb neuer Fähigkeiten oder Fertigkeiten eine die Entziehung der Invalidenrente rechtfertigende Änderung der Verhältnisse des Versicherten darstelle.

Von den Entscheidungen, auf die das Reichsversicherungsamt in seiner Entscheidung Nr. 3201 in dieser Hinsicht Bezug nimmt, klärt die Entscheidung Nr. 1074 (AN. 1903 S. 539) zunächst die Vorfrage, ob der Erwerb einer neuen Fähigkeit überhaupt eine Veränderung der geistigen oder körperlichen Verhältnisse darstellen könne. Die Entscheidung Nr. 1244 (AN. 06 S. 278) begründet sodann für die Invalidenversicherung die Ansicht, daß eine derartige Veränderung der Verhältnisse die Entziehung der Invalidenrente rechtfertigen könne, folgendermaßen: "Der Versicherte ist nicht gegen den Verlust derjenigen bestimmten Fähigkeiten, die er nach seiner ursprünglichen Ausbildung und seinem Beruf besaß, versichert, sondern gegen die Unfähigkeit, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen gewissen Betrag zu verdienen, der sich nach dem Durchschnittslohn gleichartiger Personen in derselben Gegend richtet. Hat sich also der Rentenempfänger neue Fähigkeiten angeeignet, die ihn in den Stand setzen, die Mindestverdienstgrenze zu erreichen, so werden sie bei der Prüfung der Frage, ob eine Veränderung im Sinne der gedachten Bestimmung eingetreten ist, nicht unberücksichtigt bleiben dürfen. Dies gilt auch dann, wenn der Rentenempfänger die Kosten der Ausbildung für einen neuen Beruf selbst bestritten hat. Denn wenn das Gesetz den Rentenempfängern auch nicht die Pflicht auferlegt hat und auch nicht auferlegen konnte, sich ein neues Erwerbsgebiet zugänglich zu machen, so erscheint doch aus sittlichen Gründen die Erwartung gerechtfertigt, daß der Rentenempfänger bemüht sein werde, die ihm verbliebene Arbeitskraft tunlichst zu verbessern, und es würde den Rahmen der gebotenen sozialen Fürsorge überschreiten, wenn auch dem, der dieses Ziel erreicht hat, die Rente weiter gewährt werden müßte."

Die Entscheidung Nr. 2647 (AN. 21 S. 334) schließlich hält ausdrücklich an den eben dargestellten Grundsätzen fest und ergänzt sie durch den Hinweis, daß ein Versicherter, der eine der Versicherungspflicht nicht unterliegende Tätigkeit ausübe, auf diese im allgemeinen nicht verwiesen werden könne, daß eine derartige Tätigkeit aber insoweit verwertet werden könne, als sie den Schluß nahelege, daß der Versicherte eine entsprechende Tätigkeit auch in einer versicherungspflichtigen Beschäftigung zu entfalten vermöge.

Eine auf die Besonderheiten der knappschaftlichen Versicherung eingehende Begründung dafür, warum das Reichsversicherungsamt die vorstehend dargestellten, für die Invalidenversicherung entwickelten Grundsätze auch auf Empfänger von Knappschaftspensionen für anwendbar hielt, wird in der Entscheidung Nr. 3201, auf der die gesamte weitere Entwicklung und Rechtsprechung aufbaut, nicht gegeben. Das Reichsversicherungsamt begnügt sich damit, die tragenden Ausführungen der Entscheidung Nr. 1244 wörtlich nochmals zu wiederholen und dazu zu bemerken, der darin enthaltene Gedanke treffe auch auf das der Invalidenversicherung verwandte Gebiet der knappschaftlichen Pensionsversicherung zu, so daß keine Bedenken bestünden, ihn auch für die Auslegung des (damaligen) § 88 RKG zu benutzen.

An dieser Rechtsprechung hat das Reichsversicherungsamt - ohne eine sachliche Überprüfung oder eine neue Begründung seiner Auffassung vorzunehmen - stets, auch für das RKG n. F. unverändert festgehalten (vgl. z. B. Entscheidung 3614 AN. 30 S. 90; Entscheidung 5126 AN. 37 S. 278).

Dieser Auffassung entspricht auch die Entscheidung Nr. 5126 (AN. 37 S. 278), nach der umgekehrt Berufsfähigkeit immer dann anzunehmen ist, wenn ein Rentenbewerber die entsprechenden Fähigkeiten bereits vor dem für die Pensionierung in Frage kommenden Zeitpunkt erworben und später beibehalten hat; in diesen Fällen darf nach der Auffassung des Reichsversicherungsamts eine Knappschaftspension (bzw. -rente) nicht gewährt werden, auch wenn für den tatsächlich ausgeübten Beruf - für sich allein betrachtet - Berufsunfähigkeit bestünde.

Als Vergleichstätigkeit anzusehen ist, wenn es sich nicht um einen Berufswechsel innerhalb des Rahmens der knappschaftsversicherungspflichtigen Tätigkeiten handelt, nach dieser ständigen Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts die vor dem Berufswechsel ausgeübte knappschaftlich versicherte Tätigkeit (AN. 30 S. 90).

Ihr gegenüber zu stellen ist die Beschäftigung, zu der der Versicherte nach Erwerb seiner neuen Fähigkeiten im Rahmen der der knappschaftlichen Versicherung unterliegenden Beschäftigungsmöglichkeiten fähig ist, wobei - entgegen der Auffassung des Landessozialgerichts - das Reichsversicherungsamt in allen Entscheidungen, auf die es sich laufend bezieht, stets das Erfordernis aufgestellt hat, der Vergleich müsse ergeben, daß die neue zumutbare Tätigkeit mindestens wirtschaftlich gleichwertig sei (Entscheidungen AN. 28, 238; AN. 30, 90; AN. 37, 278; auch AN. 41 S. 109 Nr. 5412).

In der zuletzt genannten Entscheidung Nr. 5412 wird aus der durch § 82 des Ausbaugesetzes vom 21. Dezember 1937 mit Wirkung vom 1. Januar 1938 eingeführten Beschränkung der knappschaftlichen Versicherungspflicht auf die mit wesentlich bergmännischen Arbeiten beschäftigten Angestellten gefolgert, daß eine Verweisung auf sonstige Angestelltentätigkeiten nicht mehr zulässig sei. Dieser Auffassung ist die Praxis bis zum Fortfall der genannten Beschränkung durch § 7 des Knappschaftsversicherungsanpassungsgesetzes (in Kraft getreten am 1.6.1949) allgemein gefolgt.

III.

Die frühere ständige Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts beruht demnach nur auf der Entscheidung Nr. 3201. Allein auf ihr baut seine ganze folgende Rechtsprechung auf; auf sie gehen die zahlreichen weiteren Entscheidungen (insbesondere der Jahre 1930 ff.) zurück, die sich darüber verhalten, welche Tätigkeiten außerhalb des Bergbaus als mindestens gleichwertig anzusehen sind gegenüber solchen im Rahmen knappschaftlicher Betriebe.

Aus der Entscheidung Nr. 3201 läßt sich jedoch für die hier streitige Frage so gut wie nichts entnehmen, da sie ihre Auffassung einzig mit dem Hinweis auf die sittliche Pflicht des Klägers begründet, seine noch verbliebene Arbeitskraft tunlichst zu nutzen und auf die Erwägung, daß der Rahmen der gebotenen sozialen Fürsorge überschritten werde, wenn die Rente auch dem gezahlt würde, der dieses Ziel - anderweitige Nutzung seiner Arbeitskraft - erreicht habe.

Dabei übersieht das Reichsversicherungsamt jedoch, daß es bei der grundlegenden Entscheidung Nr. 1244 für die Invalidenversicherung, in der es die eben angedeuteten Erwägungen erstmals anstellte, ausdrücklich vorweg darauf hingewiesen hatte, daß das versicherte Risiko in der Invalidenversicherung nicht der Verlust bestimmter Fähigkeiten, die der Versicherte nach seiner ursprünglichen Ausbildung und seinem Beruf besaß, sondern die Unfähigkeit ist, noch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen bestimmten, am Durchschnittslohn gleichartiger Personen ausgerichteten Betrag zu verdienen. Gerade diese Überlegung, daß die Invalidenversicherung grundsätzlich nur darauf abstellt, daß der Versicherte eine bestimmte Mindestverdienstgrenze erreicht, ist es, die die weitere Begründung der Entscheidung 1244 allein zu tragen vermag, daß im Rahmen jener Versicherung auch eine spätere Erwerbstätigkeit auf einem neuen Gebiet anzurechnen sei. Demgegenüber handelt es sich bei der Knappschaftspension(-rente) um eine typische, einem Berufsinvaliden gewährte Leistung, bei der gerade das als versichertes Risiko in Frage kommt, was das Reichsversicherungsamt in der Entscheidung 1244 als Risiko der Invalidenversicherung ausdrücklich ausschließt.

Man wird daher die vom Reichsversicherungsamt seiner Entscheidung Nr. 3201 gegebenen Gründe nicht als ausreichend dafür ansehen können, darum auf das Erfordernis der wesentlichen Gleichartigkeit bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit im Sinne des RKG zu verzichten.

Immerhin ist diese Entscheidung zu einer Zeit ergangen, in der der Begriff der Berufsunfähigkeit gesetzlich noch nicht definiert war; das Reichsversicherungsamt war daher damals nicht unbedingt genötigt, in seiner Entscheidung neben der Gleichwertigkeit auch die Gleichartigkeit zu fordern, wenn dies auch deshalb nahegelegen hätte, weil die Entscheidung Nr. 3049 die später als gesetzliche Fassung übernommene Begriffsbestimmung für die Berufsunfähigkeit gerade ein Jahr vorher festgelegt hatte.

IV.

Nachdem jedoch im Jahre 1934 der Begriff der "Gleichartigkeit" gesetzliche Voraussetzung für die Zulässigkeit der Verweisung auf andere Tätigkeiten geworden war, war das Reichsversicherungsamt nicht mehr frei in der Auslegung des Begriffs "Berufsunfähigkeit", sondern mußte nunmehr die ursprünglich von ihm geprägte Begriffsbestimmung als geltendes Recht zugrunde legen; in diesem Zeitpunkt wurde daher eine neue Auseinandersetzung mit dem erörterten Problem an sich unvermeidbar; sie unterblieb jedoch; in seiner Entscheidung Nr. 5126 (AN. 37 S. 278) erklärte das Reichsversicherungsamt vielmehr ohne weitere Begründung nur, daß es an seiner bisherigen Rechtsprechung auch bei Anwendung des - ebenfalls 1934 neu eingeführten - § 54 RKG festhalte.

Nach § 54 RKG in Verbindung mit § 1293 RVO ist die Knappschaftsrente zu entziehen, wenn der Berechtigte infolge einer wesentlichen Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig ist. In dem Erwerb neuer Kenntnisse und Fertigkeiten liegt - insoweit kann der früheren Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts unbedenklich gefolgt werden - häufig eine wesentliche Änderung der Verhältnisse des Berechtigten. Nicht gesagt ist damit jedoch - und das scheint zum Teil unterstellt zu werden -, daß schon infolgedessen keine Berufsunfähigkeit mehr vorläge. Es lassen sich vielmehr zahlreiche Fälle denken, in denen zwar eine wesentliche Änderung der Verhältnisse des Versicherten durch einen derartigen Erwerb neuer Fähigkeiten eingetreten ist, in denen sich aber trotzdem daraus noch keine Änderung der Berufsunfähigkeit ergibt.

Grundlage der knappschaftlichen Rentenversicherung ist der Begriff der Berufsunfähigkeit im § 35 RKG. Hiernach kann die Fähigkeit zur Verrichtung anderer Tätigkeiten als der bisherigen Berufstätigkeit nur dann Berufsfähigkeit begründen, wenn jene Vergleichstätigkeiten im wesentlichen gleichartig und wirtschaftlich gleichwertig sind. Ein Grund, im Rahmen dieser für die bergmännische Berufsversicherung typischen Beschränkungen dann auf das Erfordernis der Gleichartigkeit zu verzichten, wenn nach Aneignung neuer Kenntnisse und Fertigkeiten eine "zum mindesten wirtschaftlich gleichwertige" andersartige Berufstätigkeit in knappschaftlichen Betrieben ausgeübt werden kann, läßt sich mit dem klaren Wortlaut des Gesetzes nicht vereinbaren und einzig mit moralischen und Billigkeitserwägungen nicht hinreichend begründen.

Unbeachtet ist bei der bisherigen Übung auch geblieben, daß das Reichsversicherungsamt den in seiner Entscheidung 3201 entwickelten Grundsatz ursprünglich auf Angestellten- und Arbeitertätigkeiten gleichmäßig angewandt wissen wollte, was auch allein folgerichtig erscheint. Wenn in Fällen wie im vorliegenden das Erfordernis der Gleichartigkeit fallen gelassen wird, ist auch kein Grund zu erkennen, warum die Gleichartigkeit bei der Verweisung auf andere in knappschaftlichen Betrieben mögliche Arbeitertätigkeiten gefordert werden müßte, wenn diese Tätigkeiten wirtschaftlich mindestens gleichwertig sind; damit würde die gesamte Frage des Berufswechsels eine andere Behandlung erfahren müssen.

Auch für Fälle vorliegender Art muß daher an dem Erfordernis der Gleichartigkeit festgehalten werden.

V.

Schließlich ist noch zu prüfen, ob dem Begriff der Gleichartigkeit nicht möglicherweise - abweichend von der bisherigen Übung - eine die Entscheidung 3201 im Ergebnis stützende andere Auslegung gegeben werden kann.

Wie bereits hervorgehoben wurde, kann man den Begriff der Gleichartigkeit jedenfalls nicht auf alle in knappschaftlichen Betrieben vorhandenen Tätigkeiten ausdehnen, ohne ihn völlig wesenslos zu machen.

Es könnte weiter daran gedacht werden, von dem Erfordernis der Gleichartigkeit dann abzusehen, wenn die Vergleichstätigkeit sozial und beruflich höher zu bewerten ist als die ursprüngliche Tätigkeit. Dieser Gedanke könnte dazu führen, die Gleichartigkeit bei dem Übergang von einer rein körperlich schaffenden Arbeitertätigkeit zu einer körperlich leichteren und möglicherweise angeseheneren Angestelltentätigkeit nicht als verletzt anzusehen. Damit würde der Begriff "Gleichartigkeit" scheinbar durchaus entsprechend angewandt wie der Begriff "Gleichwertigkeit", durch den stets nur eine Grenze nach unten festgelegt, eine "höherwertige" Tätigkeit aber ohne weiteres miterfaßt wird. Bei einer derartigen Betrachtung wäre jedoch einseitig nur berücksichtigt, daß durch die Einfügung des besonderen Erfordernisses der "Gleichartigkeit" in die Legaldefinition der Berufsunfähigkeit ausgeschlossen werden sollte, daß ein Versicherter aus einer für den Bergbau typischen Berufsgruppe auf solche Arbeiten verwiesen wird, die für ihn ein Absinken in der sozialen Wertung bedeuten können. Völlig unberücksichtigt bleibt jedoch der Gedanke, daß die "Gleichartigkeit" auch gegen berufsfremde Arbeitszumutungen abschirmen soll, wobei ein irgendwie wertbezogener Vergleich gerade ausgeschaltet werden sollte.

Im übrigen wäre - folgerichtig durchgedacht - die für diesen Fall erforderliche soziale Bewertung der verschiedenen Arbeitnehmergruppen auch tatsächlich undurchführbar. Anders als bei der Gleichwertigkeit, die sich rein auf einen Einkommensvergleich beschränkt und daher ohne weiteres sprachlich wie begrifflich eine Unterscheidung zwischen "minderwertig", "gleichwertig" und "höherwertig" zuläßt, ist in Wirklichkeit bei der Gleichartigkeit nicht die oben angedeutete, in der Praxis wegen der Unbestimmtheit des Begriffs nicht verwertbare "Höherartigkeit", sondern die "Andersartigkeit" das entscheidende Merkmal.

Die bisherige Auslegung des Begriffs "Gleichartigkeit" muß daher auch weiterhin als maßgeblich angesehen werden.

VI.

Wenn die Beklagte auf das unbillig erscheinende Ergebnis hinweist, das bei dieser Anwendung der gesetzlichen Vorschriften in einer Reihe von Grenzfällen auftreten wird, so ist dem entgegenzuhalten, daß in Fällen wie dem vorliegenden bereits 11 Jahre - 1938 bis 1949 - entsprechend verfahren werden mußte (vgl. oben zu II am Ende); es würde gerade unter Berücksichtigung der mehrfachen Änderung der gesetzlichen Bestimmungen wenig sinnvoll, ja unbillig erscheinen, die Bewilligung der Knappschaftsrente in gleichgelagerten Fällen davon abhängig zu machen, ob es dem Gesetzgeber aus völlig anderen Erwägungen zweckmäßig erscheint, die kaufmännischen Bergbauangestellten in der Angestelltenversicherung oder aber in der knappschaftlichen Rentenversicherung zu versichern.

VII.

Es ergibt sich somit, daß das Landessozialgericht rechtsirrtümlich angenommen hat, eine Tätigkeit, die ein Versicherter nach dem Erwerb neuer Kenntnisse und Fähigkeiten in einem knappschaftlichen Betriebe ausüben kann, schließe schon dann das Fortdauern von Berufsunfähigkeit aus, wenn diese Tätigkeit einer der bisher verrichteten Tätigkeit gegenüber nur im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig ist. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben ohne daß es eines Eingehens auf das sonstige Vorbringen des Klägers bedurfte.

Die Tätigkeit eines Tagesarbeiters ist unter Beachtung der oben aufgestellten Grundsätze derjenigen eines kaufmännischen Angestellten in einem bergbaulichen Betriebe nicht als im wesentlichen gleichartig anzusehen. Der Kläger ist demnach, entgegen der Auffassung der Vorinstanzen und der Beklagten, auch weiterhin als berufsunfähig anzusehen.

Es waren daher auch die die Knappschaftsrente entziehenden Bescheide der Beklagten und das diese Bescheide bestätigende Urteil des Sozialgerichts Dortmund aufzuheben und die Beklagte dem Antrag des Klägers entsprechend zu verurteilen.

Außergerichtliche Kosten gemäß § 193 SGG waren nicht zu erstatten.

 

Fundstellen

NJW 1957, 80

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