Leitsatz (amtlich)
Ein vorübergehender Aufenthalt im Ausland wird nicht deshalb rückwirkend zu einem gewöhnlichen Aufenthalt, weil während des ersten Jahres Umstände eintreten, die darauf schließen lassen, daß der Rentenberechtigte nunmehr auf unabsehbare Dauer im Ausland bleiben wird.
Normenkette
RVO § 1319 Fassung: 1960-02-25, § 1320 S. 1 Fassung: 1960-02-25
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. Februar 1966 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Es ist zu klären, ob ein zunächst für vorübergehend geplanter Auslandsaufenthalt rückwirkend wie ein gewöhnlicher Verbleib im Ausland zu behandeln ist, wenn der Rentenberechtigte sich nachträglich entschließt, auf unabsehbare Dauer im Ausland zu bleiben (§ 1319 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Die Klägerin - deutsche Staatsangehörige - bezog Witwenrente aus der Arbeiterrentenversicherung ihres ersten Ehemannes. Im November 1961 reiste sie - wie sie vorher angekündigt hatte, für ungefähr ein Jahr - nach den USA; sie wollte Verwandte und Bekannte besuchen. Die Beklagte beschied sie am 18. Dezember 1961 dahin, daß ihr während ihres vorübergehenden Aufenthalts außerhalb des Bundesgebiets die Rente weiter in voller Höhe ausgezahlt werde. Im Mai 1962 ging die Klägerin in den USA ihre zweite Ehe ein. Im darauffolgenden Monat beantragte sie die Abfindung ihrer Witwenrente.
Die Beklagte antwortete mit Bescheid vom 6. Februar 1963. Die Witwenrente sei mit Ablauf des Monats Mai 1962 weggefallen (§ 1291 Abs. 1 RVO). Die Klägerin lebe nunmehr länger als ein Jahr in Übersee. Schon daraus folge nach § 1320 RVO, daß sie sich dauernd im Ausland befinde. Deshalb habe ihr für die Monate Dezember 1961 bis Mai 1962 die Rente nur gekürzt zugestanden, und zwar nur insoweit, als die Leistung nicht auf fremden Beitragszeiten beruhte. - Von der Witwenrentenabfindung, die - nach den Vorschriften über den Auslandsrentenbezug - mit 4.284,- DM ermittelt wurde, zog die Beklagte die - ihres Erachtens überhobenen - Rentenbezüge von 680,40 DM ab und zahlte 3.603,60 DM aus.
Mit der Klage erstrebt die Klägerin die unverminderte Auszahlung der Witwenrente für die Zeit von Dezember 1961 bis Mai 1962 und die Gewährung der ungekürzten Rentenabfindung. Sie hat geltend gemacht - und dafür Beweis angeboten -, daß sie anfänglich besuchsweise nach Amerika gereist sei. Ihren jetzigen Ehemann habe sie erst in den USA kennengelernt. Mit dem Entschluß, wieder zu heiraten, habe sie ihr früheres Vorhaben, bald nach Deutschland zurückzukehren, aufgegeben.
Das Sozialgericht (SG) Augsburg hat mit Urteil vom 10. Februar 1964 die Klage abgewiesen; das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 15. Februar 1966 das erstinstanzliche Urteil und teilweise den Bescheid der Beklagten vom 6. Februar 1963 aufgehoben und diese verpflichtet, der Klägerin die Witwenrente für die angeführten Monate in voller Höhe sowie die ungeschmälerte Rentenabfindung zu zahlen. Es hat erwogen, daß das Tatbestandsmerkmal des "vorübergehenden Aufenthalts" sich in unterschiedlicher Weise interpretieren lasse. Dieses Merkmal könne von äußeren Umständen, nämlich von der tatsächlichen Dauer des Aufenthalts, oder von dem Willen des Berechtigten bei seiner Ausreise oder von beidem abhängig sein. Das Gesetz äußere sich in ersterem Sinne, indem es eine Zeitschranke von einem Jahr aufgerichtet und diese als eine Fiktion (§ 1320 Satz 1 RVO: "gilt") ausgestattet habe. Es spreche also nicht etwa nur eine widerlegbare Vermutung aus. Mithin komme es allein auf den Zeitablauf, nicht aber auf einen vielleicht abweichenden Willen des Rentenberechtigten an. Die Klägerin verweile tatsächlich länger als ein Jahr in den USA. Doch dürfe es darauf nicht ausschließlich ankommen, wenn das Recht zum Rentenbezug bereits vor dem Jahresablauf - hier: schon nach sechs Monaten - entfallen sei. Soweit Auslandsaufenthalt und Rentenbezug zeitlich übereinstimmten, habe der Zustand nur vorübergehend gedauert.
Die Beklagte hat Revision - von dem LSG zugelassen - eingelegt. Sie beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen. Sie meint, daß die Rentenbezugsdauer mit der Aufenthaltsdauer nicht in Verbindung gebracht werden dürfe. Das Gesetz biete dafür keinen Anhalt. Dagegen sei dem LSG beizutreten in der Ansicht, daß es lediglich auf den Zeitablauf und nicht auf subjektive Momente ankomme. Die im Ausland verbrachte Zeit lasse sich zwar nur hinterher, spätestens nach Ablauf eines Jahres, abmessen. Bis dahin seien die Dinge in der Schwebe; das könne aber hingenommen werden, weil häufig die Umstände, unter denen der Rentenberechtigte das Inland verlasse (polizeiliche Abmeldung, Aufgabe oder Beibehalten der Wohnung, Verkauf von Hausrat und sonstigem Eigentum), und auch sein geäußerter Wille Anzeichen dafür lieferten, wie sich das Geschehen abwickeln werde. - Im übrigen sei die Verurteilung der Beklagten schon deshalb nicht aufrechtzuerhalten, weil die Klägerin bereits mehr erhalten habe, als ihr zustehe; denn eine Witwenrentenabfindung hätte nach der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG 24, 227) überhaupt nicht an eine Berechtigte im Ausland überwiesen werden dürfen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie macht geltend, die Beklagte habe trotz ihres, der Klägerin, Auslandsaufenthalts die Pflicht sowohl zur Zahlung der vollen Rente als auch zur Leistung der Abfindungssumme, beides sei in bindenden Verwaltungsakten anerkannt.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision der Beklagten führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.
Entgegen der Ansicht der Klägerin hinderte der Bescheid vom 18. Dezember 1961 die Beklagte nicht, geltend zu machen, die Witwenrente habe zwischen November 1961 und Mai 1962 geruht. Die Beklagte konnte durch diesen Bescheid nur in dem Umfange gebunden sein, der durch den Inhalt ihres Verwaltungsaktes gedeckt war. Der Ausspruch der Beklagten bezog sich jedoch mit seinem ausdrücklichen Hinweis auf die beschränkte Zeitspanne des Auslandsbesuches und in der Situation, in der er - für die Klägerin erkennbar - erging, nur auf den Fall eines vorübergehenden Aufenthalts. Hätte dieser Sachverhalt sich nachträglich als unzutreffend herausgestellt und wäre der Tatbestand erfüllt, an den das Gesetz - unabhängig von einer Verwaltungsentscheidung - die Rechtsfolge des Ruhens knüpft, dann stünde der angeführte Bescheid dem Vorgehen der Beklagten nicht entgegen. Daß es so ist, steht indessen nicht fest.
Für die Entscheidung in diesem Rechtszuge ist - mangels eindeutiger Feststellungen durch das Berufungsgericht - von dem Geschehensablauf auszugehen, wie er von der Klägerin vorgetragen worden ist. Danach erscheint der Aufenthalt der Klägerin im Ausland als ein auf absehbare Zeit geplanter Ausnahmezustand. Selbst wenn die Klägerin von Anfang an die Absicht gehabt haben sollte, in den Vereinigten Staaten nach Möglichkeiten einer neuen Existenz Ausschau zu halten, so hätte sie sich doch zunächst nur besuchsweise nach dorthin begeben. Solange sie dort keinen festen Fuß gefaßt hatte und ihre Absicht zur Heimkehr binnen angemessener Zeit erkennbar blieb, war sie nur vorübergehend außerhalb der Bundesrepublik. Besuchsaufenthalte sind - ähnlich wie Aufenthalte zu Kur-, Ausbildungs- oder Studienzwecken - gemeinhin ihrer Natur nach zeitlich begrenzt. Die Frage, ob ein Aufenthalt vorübergehender oder ständiger Art ist, kann allerdings nicht oder nicht allein aus den Gründen des Verweilens an einem Ort oder aus dem Willen des Betreffenden heraus beantwortet werden. Der Wille des einzelnen kann seinem Verbleib an diesem oder jenem Ort durchaus entgegenstehen; gleichviel wird ein ständiger Aufenthalt gegeben sein können (vgl. dazu BSG 31. März 1965 - 2 RU 229/61 -). Vorübergehend ist ein Aufenthalt, wenn und solange den gesamten Umständen nach anzunehmen ist, daß er beschränkt sein soll. Dafür, ob ein Aufenthalt als vorübergehend oder gewöhnlich zu bewerten ist, sind die Motive, die den einzelnen leiten, und sein Wille neben anderen Momenten unentbehrliche Erkenntnismittel, besonders dann, wenn der Auslandsaufenthalt und seine zeitliche Ausdehnung vorwiegend von der freien persönlichen Entschließung abhängen (vgl. RVA AN 1930, IV 472).
Diese Kriterien sind auch bei Anwendung der §§ 1317 ff RVO zu beachten. § 1320 RVO, wonach als vorübergehend ein Aufenthalt bis zur Dauer eines Jahres "gilt", ist nicht erschöpfend, sonst hätte in § 1319 RVO statt der Unterscheidung durch "vorübergehenden" oder "gewöhnlichen" Aufenthalt schlechthin die Jahresfrist eingesetzt werden können. Damit wäre aber die gesetzgeberische Absicht nicht voll zur Geltung gekommen. Unerheblich bliebe dann sowohl der Fall, daß eine für lange oder endgültig vorgesehene Trennung von der Bundesrepublik wider Erwarten noch während des ersten Jahres rückgängig gemacht wird, als auch jener, daß eine als kurze Unterbrechung des Inlandaufenthalts gedachte Reise sich nach einigen Monaten in einen Dauerzustand verwandelt. Man müßte unterstellen, daß der Gesetzgeber die Würdigung solcher Geschehensabläufe habe abschneiden wollen, obgleich nach den verwendeten Begriffen "vorübergehender" und "gewöhnlicher" Aufenthalt eine Beurteilung solcher Umstände geboten erscheint. Die Zeitschranke des § 1320 RVO soll die Gesetzesanwendung nur erleichtern, den Begriff des vorübergehenden Aufenthalts aber nicht durch eine starre Zeitangabe ersetzen. Der letzteren Auffassung ist bereits die Regierungsbegründung zu § 1320 RVO (Bundestagsdrucks. III/1109) entgegengetreten. Dort ist ausgeführt worden, ein Aufenthalt von einem Jahr solle nicht in allen Fällen als vorübergehend angesehen werden; sei der Wille des Berechtigten von vornherein darauf gerichtet, gewöhnlich außerhalb der Bundesrepublik und des Landes Berlin zu wohnen, dann sei der Tatbestand des vorübergehenden Aufenthalts von Anfang an nicht erfüllt. So wenig wie der Wortlaut des Gesetzes dazu verleiten darf, jede Abwesenheit vom Inland bis zu einem Jahr als vorübergehend anzusehen, so unrichtig ist es auch, jedes Verweilen im Ausland, das über die Jahresfrist hinausdauert, allein schon deshalb von seinem Anbeginn an als gewöhnlichen Aufenthalt zu behandeln. Die gesamten Begleitumstände sind vielmehr in Rechnung zu stellen.
Das LSG hat es - von seiner Rechtsansicht her folgerichtig - an der Gesamtwürdigung der Umstände des Falles fehlen lassen. Damit dies nachgeholt werden kann, ist die Vorentscheidung aufzuheben und der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Was die Zahlung der Witwenrentenabfindung anbetrifft, so kann die Beklagte sich nunmehr nicht mit Rücksicht auf die in BSG 24, 227 veröffentlichte Entscheidung darauf berufen, daß diese Leistung überhaupt nicht ins Ausland hätte transferiert werden dürfen. Die Beklagte hat - im Gegensatz zu ihrer jetzigen Einlassung - durch den Bescheid vom 6. Februar 1963 ihre Zahlungspflicht als solche anerkannt. Dieser Ausspruch unterliegt, wenn er auch dem objektiven Recht widerstreitet, der Bindungswirkung des § 77 SGG. Soweit die Beklagte jedoch bereits damals - wenn auch mit abweichender Begründung - in bezug auf einen Teil der Abfindungssumme von dem Ruhen der Leistung ausging, ist sie auch jetzt berechtigt, die Zahlung zu verweigern. Diese Rechtsfolgen wird das LSG bei seiner neuen Entscheidung zu beachten haben.
Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen