Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstufung der nichtdeutschen Versicherungs- und Beschäftigungszeiten eines Angestellten (FRG §§ 15, 16)
Leitsatz (amtlich)
Je höherwertig die im Herkunftsland ausgeübte Beschäftigung ist, um so weniger hängt nach FRG § 22 Anl 1 Buchst B der Erwerb von Erfahrungen ausschließlich oder vorwiegend vom Zeitablauf und damit vom Lebensalter ab. Entscheidend ist vielmehr, welche Qualität die berufliche Tätigkeit des Angestellten im Herkunftsland hatte (Fortführung von BSG 1979-10-04 1 RA 61/78 = SozR 5050 § 22 Nr 10).
Orientierungssatz
1. Zur Frage der Einstufung eines Projektleiters bzw Leiters der Projektabteilung eines elektrotechnischen Betriebes, der noch nicht 45 Jahre alt ist, in die Leistungsgruppen 2 oder 3 zu FRG § 22 Anl 1 Buchst b.
2. Die Einstufung nach der Berufsbezeichnung geschieht nur, wenn sich "nicht nach den Merkmalen der ausgeübten Beschäftigung eine Einstufung in eine andere Leistungsgruppe ergibt". Das bedeutet, daß die Einstufung nach den Beschäftigungsmerkmalen der Definitionen der Einstufung nach den Berufsbezeichnungen in den Berufskatalogen vorgeht.
Normenkette
FRG § 15 Fassung: 1960-02-25, § 16 Fassung: 1960-02-25, § 22 Abs 1 S 1 Fassung: 1960-02-25, § 22 Anl 1 Buchst B
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 13.06.1978; Aktenzeichen L 6 An 1113/77) |
SG Heilbronn (Entscheidung vom 15.03.1977; Aktenzeichen S 4 An 638/76) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Bewertung von nichtdeutschen Versicherungszeiten.
Der 1923 geborene Kläger, Inhaber des Vertriebenenausweises A, ist im September 1965 aus der Tschechoslowakei (CSSR) in die Bundesrepublik zugezogen. Er hat in seiner Heimat als Elektriker gelernt und wurde später Elektromeister, stellvertretender Betriebsleiter und - bis 1956 - Elektroprojektant. Vom 1. Januar 1957 bis 14. Januar 1960 war er nach seinen Angaben in seinem Betrieb Leiter der Projektabteilung und studierte nebenher Elektrotechnik. Am 25. November 1960 schloß er das Studium mit der Anerkennung als Elektroingenieur ab. Bereits ab Januar 1960 arbeitete der Kläger - bis zu seiner Ausreise ins Bundesgebiet - als Projektleiter.
Auf den Antrag des Klägers vom Januar 1973 stellte die Beklagte unter Anwendung des Fremdrentengesetzes (FRG) für Zeiten vor dem Zuzug des Klägers die Versicherungsunterlagen her. Für die Zeit ab 1957 legte die Beklagte dabei die Leistungsgruppe B 3 der Anlage 1 zu § 22 FRG zugrunde, anerkannte aber im späteren Streitverfahren ab 30. November 1960 - Abschluß des Hochschulstudiums - die Leistungsgruppe B 2 aaO.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage des Klägers gegen den entsprechenden Bescheid der Beklagten vom 1. April 1975 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. April 1976 abgewiesen (Urteil vom 15. März 1977). In der angefochtenen Entscheidung vom 13. Juni 1978 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers hiergegen zurückgewiesen und ausgeführt: Bei dem Kläger lägen die nach Leistungsgruppe 2 aaO erforderlichen "besonderen Erfahrungen", die nach den "Berufskatalogen" üblicherweise erst mit etwa dem 45. Lebensjahr erworben seien, für die Zeit vor November 1960 nicht vor. Der Kläger sei damals zwischen 33 und 37 Jahren alt gewesen. Es widerspreche dem Prinzip der Eingliederung der Vertriebenen, wenn die erforderlichen Erfahrungen bereits als zu einem Zeitpunkt erworben angenommen würden, der sowohl zur Vollendung des 45. Lebensjahres als auch vor Abschluß des Hochschulstudiums liege.
Gegen dieses Urteil hat der Senat die Revision zugelassen (Beschluß vom 13. März 1979).
Mit der Revision trägt der Kläger vor: Nach einem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29. Januar 1975 seien Angestellte mit abgeschlossener Hochschulausbildung regelmäßig bereits vor dem 45. Lebensjahr der Leistungsgruppe B 2 zuzuordnen. Dies gelte insbesondere dann, wenn eine Einstufung nach anderen als altersmäßigen Grundsätzen möglich sei. In erster Linie komme es auf die Position an, die der Antragsteller bekleidet habe. Entscheidend sei hier, daß er in leitender Position beschäftigt gewesen sei.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg
vom 13. Juni 1978 aufzuheben und die Beklagte unter
Abänderung des Bescheides vom 1. April 1975 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. April 1976
sowie des Urteils des Sozialgerichts Heilbronn
vom 15. März 1977 zu verpflichten, für die Zeit vom
1. Januar 1957 bis 29. November 1960 die
Leistungsgruppe 2 der Anlage 1 B zu § 22 FRG zugrunde
zu legen,
hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und
Entscheidung an das Landessozialgericht Baden-Württemberg
zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, die Leistungsgruppe 2 der Anlage 1 B zu § 22 FRG verlange besondere Erfahrungen. Wer sich noch in Ausbildung befinde, verfüge noch nicht über umfassende, geschweige denn mehrjährige Berufserfahrung. Schon bei der Leistungsgruppe B 3 aaO verlange das Gesetz regelmäßig eine mindestens 10jährige Berufspraxis. Erst recht lasse sich eine Zuordnung der Leistungsgruppe B 2 aaO für den streitigen Zeitraum 1957 bis 1960 nicht begründen. Insbesondere sei es nicht gerechtfertigt, die Leistungsgruppe B 2 bereits vom ersten Tag der Hochschulausbildung an zuzuordnen. Dies würde bedeuten, daß der Kläger bessergestellt würde als ein Angestellter mit abgeschlossener Hochschulausbildung.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist zulässig und im Sinne des Hilfsantrages des Klägers auf Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz auch begründet.
Bei dem Kläger, als Vertriebener im Sinne des § 1 Bundesvertriebenengesetz (BVFG) anerkannt, stehen nach §§ 1, 15 Abs 1 Satz 1 FRG die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegten Beitragszeiten den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich. Für solchermaßen anrechenbare nichtdeutsche Beitragszeiten, zu denen beim Kläger die in der CSSR beim tschechoslowakischen Versicherungsträger verbrachten Beitragszeiten zählen, sind nach § 22 Abs 1 Satz 1 FRG Lohn-, Gehalts- oder Beitragsklassen der Anlagen 4 bis 14 zugrunde zu legen, und zwar nach Maßgabe der Anlage 1. Die Anlage 1 zu § 22 FRG legt die Definitionen der Leistungsgruppen fest, und zwar unter Buchstabe B für die Rentenversicherung der Angestellten, der der Kläger mit den vorliegend allein streitigen Beschäftigungen in seiner Heimat vom 1. Januar 1957 bis 29. November 1960 als "Leiter der Projektabteilung" und "Projektleiter" offensichtlich eines elektrotechnischen Betriebs nach § 20 Abs 1 Satz 2 FRG zuzuordnen ist.
Die fünf Leistungsgruppen, in die sich die Anlage 1 B zu § 22 FRG gliedert, setzen sich aus der Definition und aus beispielhaft ("unter anderem") aufgeführten Berufsbezeichnungen (Berufskatalogen) zusammen. Die Einstufung nach der Berufsbezeichnung geschieht aber nur, wenn sich "nicht nach den Merkmalen der ausgeübten Beschäftigung eine Einstufung in eine andere Leistungsgruppe ergibt". Das bedeutet, daß die Einstufung nach den Beschäftigungsmerkmalen der Definitionen der Einstufung nach den Berufsbezeichnungen in den Berufskatalogen vorgeht (vgl Jantz/Zweng/Eicher, Das neue Fremdrenten- und Auslandsrentenrecht, 2. Aufl, § 22 FRG, Anm 4; ferner BSG in SozR Nr 4 und Nr 11 zu § 22 FRG sowie in BSGE 29, 181 = SozR Nr 8 zu § 22 FRG). Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ergibt folgendes:
Die Berufsbezeichnung "Leiter der Projektabteilung" oder "Projektleiter" findet sich in keinem Berufskatalog der Leistungsgruppen 3 und 2 aaO (vgl dazu auch die Blätter zur Berufskunde, herausgegeben von der Bundesanstalt für Arbeit, Bd 3 d, Nr 3 - I R 01, Diplomingenieur/Elektrotechniker, S 8). Im angefochtenen Urteil ist nicht festgestellt, worin die vom Kläger angegebenen Tätigkeiten im einzelnen bestanden haben. Das LSG hat sich auf die Feststellung beschränkt, daß der Kläger in der streitigen Zeit "eine an sich für Hochschulabsolventen vorbehaltene Stelle innehatte". Nach dem Gesamtinhalt des angefochtenen Urteils kann der Senat davon ausgehen, daß der Kläger in dieser Zeit eine Tätigkeit mit den Merkmalen eines Elektroingenieurs mit Hochschulabschluß ausübte. Da der "Ingenieur" sowohl im Berufskatalog der Leistungsgruppe 3 (30 bis 45 Jahre) als auch in der Leistungsgruppe 2 (über 45 Jahre) ohne jede nähere Kennzeichnung dahin aufgeführt ist, ob es sich um einen Hochschul-, Fachschul- oder sonstigen Ingenieur handelt - die Berufsbezeichnung "Ingenieur" war früher gesetzlich überhaupt nicht geschützt -, geben die Berufskataloge auch für den vorliegenden Fall keinen entscheidenden Hinweis für eine Einstufung des Klägers in Leistungsgruppe 3 oder 2. Daher muß auf die Definitionen der Tätigkeitsmerkmale zurückgegriffen werden.
Die Definition zu Leistungsgruppe 2 aaO nennt Angestellte mit besonderen Erfahrungen und selbständigen Leistungen in verantwortlicher Tätigkeit mit eingeschränkter Dispositionsbefugnis, die Angestellte anderer Tätigkeitsgruppen einzusetzen und verantwortlich zu unterweisen habe. Zu Unrecht geht das LSG davon aus, beim Kläger läge hinsichtlich der streitigen Zeit als Leiter der Projektabteilung und als Projektleiter das Erfordernis der "besonderen Erfahrungen" schon deswegen nicht vor, weil er das 45. Lebensjahr damals noch nicht erreicht hatte.
Es ist zwar richtig, daß im Berufskatalog der Leistungsgruppe 2 aaO die meisten Tätigkeiten den Vermerk "über 45 Jahre" aufweisen. Daß damit das Definitionsmerkmal "besondere Erfahrungen" allgemeingültig und verbindlich ausgelegt wäre, läßt sich daraus indessen noch nicht schließen. So fehlt beim Chefkameramann wie beim Oberarzt dieser Zusatz, ohne daß die Annahme begründbar wäre, daß gerade bei diesen Berufen - im Sinne der allgemeinen Definition - "besondere Erfahrungen" entbehrlich wären. Die Gegenüberstellung der Definitionen und Berufskataloge der verschiedenen Leistungsgruppen zeigt vielmehr, daß das Gesetz bei geringerwertigen Tätigkeiten für die Gewinnung von Erfahrungen dem Zeitfaktor - zu Recht - größeres Gewicht beimißt (Leistungsgruppe 3: "mehrjährige Berufserfahrung") als bei höherwertigen Tätigkeiten (Leistungsgruppe 2: "besondere Erfahrungen"). In der - höchsten - Leistungsgruppe 1 verzichtet der Gesetzgeber schlechthin darauf, Erfahrungen auch nur zu erwähnen, wenngleich sie dort stillschweigend auch vorausgesetzt werden (vgl dazu insbesondere die ständige Rechtsprechung des 11. Senats des BSG, zB BSGE 39, 95 = SozR 5050 Nr 1 zu § 22 FRG; BSGE 40, 284, 286). Je höherwertig eine Tätigkeit ist, deren Ausübung dann freilich eine zumeist besonders langdauernde und qualifizierte Ausbildung voraussetzt, um so weniger hängt nach Anlage 1 Buchstabe B aaO der Erwerb von Erfahrungen ausschließlich oder vorwiegend vom Zeitablauf und damit vom Lebensalter ab. Dementsprechend hat ua der 11. Senat des BSG bereits darauf hingewiesen, daß die "besonderen Erfahrungen" der Leistungsgruppe 2 bei erforderlicher Hochschulausbildung schon lange vor Vollendung des 45. Lebensjahres, wenn auch in der Regel "nicht vor Vollendung des 30. Lebensjahres" erworben sein können (BSGE 39, 95, 96). Der erkennende Senat hat diesen Gedanken auch auf nichtakademisch gebildete Angestellte in hochqualifizierter beruflicher Position ausgedehnt und ausgesprochen, daß auch für solche eine Einstufung sogar in die Leistungsgruppe 1 aaO schon vor Vollendung des 30. Lebensjahres in Frage kommt (vgl Urteil vom 4. Oktober 1979 - 1 RA 61/78). Der Senat hat aaO herausgestellt, daß die in den Berufskatalogen der Anlage 1 B zu § 22 FRG vorgenommene Schematisierung unter Zugrundelegung von Lebensalterbereichen nicht dazu führen dürfe, einen schon in jüngeren Lebensjahren erreichten ungewöhnlichen beruflichen Erfolg als nicht eingetreten zu betrachten. Aus einem solchen ungewöhnlichen Erfolg dürfe vielmehr auf - besonders früh und besonders rasch erworbene - berufliche Erfahrungen geschlossen werden.
Nach allem kommt es im vorliegenden Fall entscheidend darauf an, welche Qualität die berufliche Tätigkeit des Klägers in seiner Heimat als Leiter der Projektabteilung und als Projektleiter hatte. Bislang liegen hierzu im wesentlichen nur seine eigenen Angaben vor; tatrichterliche Feststellungen fehlen. Das angefochtene Urteil muß daher aufgehoben und dem LSG durch Zurückverweisung der Sache Gelegenheit gegeben werden, die erforderlichen Feststellungen nachzuholen. Ist dies geschehen, wird das LSG möglicherweise aus der Art der fraglichen Tätigkeit des Klägers Schlüsse darauf ziehen können, ob bei ihm vorzeitig besondere berufliche Erfahrungen im Sinne der Leistungsgruppe 2 der Anlage 1 B aaO gegeben sind.
Im Zuge seiner Feststellungen wird das LSG insbesondere zu prüfen haben, welche Tätigkeit sich hinter der Bezeichnung "Leiter der Projektabteilung" und "Projektleiter" verbirgt. Dabei wird zu ermitteln sein, wie groß der Betrieb und wie groß die Abteilung des Klägers in diesem Betrieb war, welche "Projekte" nach Zahl, technischem Umfang und technischem Standard er zu betreuen hatte und ob der Kläger seine Stellung - insbesondere wenn sie tatsächlich eine Hochschulausbildung voraussetzte - vollwertig oder nicht vollwertig ausübte. Im ersteren Fall wird zu klären sein, aufgrund welcher Umstände er hierzu ausnahmsweise in der Lage war. Da die Leistungsgruppen der Anlage 2 zu § 22 FRG auf Beschäftigte in der Privatwirtschaft ausgerichtet sind (BSG SozR Nr 3 zu § 22 FRG; BSGE 39, 95, 96 = SozR 5050 § 22 Nr 1), wird das LSG nicht außer Betracht lassen dürfen, welche Besonderheiten im Verhältnis dazu bei einer Beschäftigung im planwirtschaftlichen Betrieb eines sozialistischen Staates in Rechnung zu stellen sind.
Nach alledem war zu entscheiden wie geschehen und der Kostenanspruch der Endentscheidung in der Sache vorzubehalten.
Fundstellen