Leitsatz (amtlich)
Die Weiterzahlung des früheren Facharbeiterlohnes steht der Berufsunfähigkeit dann nicht entgegen, wenn diese nicht aufgrund einer rechtlichen Verpflichtung, sondern auf bloßer Kulanz des Arbeitgebers beruht.
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 17.11.1980; Aktenzeichen L 3 J 175/79) |
SG Itzehoe (Entscheidung vom 11.04.1979; Aktenzeichen S 5 J 60/78) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um den Anspruch des Klägers auf Berufsunfähigkeitsrente. Der im Jahre 1934 geborene Kläger hat den Beruf eines Elektroinstallateurs erlernt und bis 1961 ausgeübt. Danach war er bis 1965 als Gastwirt selbständig tätig. Im darauffolgenden Jahr (1966) nahm er eine Beschäftigung bei der Firma F. H. auf, bildete sich durch Absolvierung von Elektronik-Kursen und durch berufliche Praxis zum Elektromechaniker fort und wurde mit Montagearbeiten bei den Kunden seines Arbeitgebers beauftragt. Hierbei leitet er zeitweilig Montagegruppen und war anderen Monteuren gegenüber weisungsbefugt. Nach einem Herzinfarkt setzte der Kläger ab November 1977 seine Tätigkeit für seinen früheren Arbeitgeber fort, wurde jedoch wegen seines Gesundheitszustandes nicht mehr mit Montagearbeiten, sondern mit Verkabelungen im Schrankbau beschäftigt. Hierfür erhielt er seinen früheren Facharbeiterlohn nach der Tarifgruppe 8 des Metalltarifs. Mit dieser Entlohnung wurde er im Herbst 1979 in den Verwaltungsbereich übernommen und führte dort Bürohilfsarbeiten aus. Seit dem 1. Januar 1980 arbeitet der Kläger als Hilfskraft im Angestelltenverhältnis und ist dort mit Rücksicht auf seine frühere Tätigkeit zur Erhaltung seines Lohnniveaus in die Tarifgruppe K 4 des Metalltarifs eingestuft. Den im Dezember 1977 gestellten Antrag auf Versichertenrente lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 15. Februar 1978 ab. Die hiergegen erhobene Klage blieb ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 11. April 1979). Auf die Berufung des Klägers verurteilte das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 17. November 1980 die Beklagte zur Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente ab 1. Januar 1978. Es führte zur Begründung aus, im Rahmen des § 1246 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) sei der Kläger als Facharbeiter mit Vorgesetztenfunktion bzw als besonders hoch qualifizierter Facharbeiter zu behandeln. Er habe eine Gruppe von bis zu 13 Facharbeitern geleitet und die Verantwortung für ihre Arbeit getragen. Für seine Arbeit sei der Kläger in die Spitzengruppe der Lohnskala der gewerblichen Arbeitnehmer iS der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) eingestuft gewesen. Seine frühere Berufstätigkeit könne der Kläger nicht mehr fortsetzen; zumutbare Verweisungstätigkeiten gebe es nicht. Auch könne der Kläger nicht auf seine derzeit ausgeübte Tätigkeit zumutbar verwiesen werden. Nach dem qualitativen Wert dieser Tätigkeit könne nicht einmal ein Facharbeiter darauf verwiesen werden. Der damit erzielte Lohn entspreche nicht der Arbeitsleistung, sondern werde lediglich aus einer weder durch Tarifvertrag noch durch Betriebsvereinbarung abgesicherten Kulanz als Anerkennungsgehalt gewährt. Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision macht die Beklagte geltend, der Kläger sei auf seine derzeit ausgeübte Angestelltentätigkeit zumutbar zu verweisen. Sein bisheriger Beruf sei nicht der eines Facharbeiters mit Vorgesetztenfunktion gewesen. Weiterhin habe die Berufsunfähigkeitsrente eine Lohnersatzfunktion, während der Kläger keine zu ersetzende Lohneinbuße habe. Hierbei spiele es keine Rolle, ob dieser Lohn tarifvertraglich abgesichert, oder nur freiwillig vom Arbeitgeber gezahlt werde.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 17. November 1980 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Itzehoe vom 11. April 1979 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Mit Recht hat das LSG das Vorliegen von Berufsunfähigkeit iS des § 1246 Abs 2 RVO bejaht und die Beklagte zur Rentengewährung verurteilt. Die von der Beklagten hiergegen erhobenen Revisionsrügen greifen nicht durch. Es ist nicht zu beanstanden, wenn das LSG als bisherigen Beruf des Klägers den eines besonders hoch qualifizierten Facharbeiters bzw eines Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion ansieht und demgemäß den Kreis der in Betracht kommenden zumutbaren Verweisungstätigkeiten enger zieht. Damit bewegt sich das LSG im Rahmen der Rechtsprechung des BSG (vgl Urteil des 5. Senats vom 30. März 1977 - 5 RJ 98/76 - = BSGE 43, 243 = SozR 2200 § 1246 Nr 16; Urteile des erkennenden Senats vom 19. Januar 1978 - 4 RJ 81/77 = BSGE 45, 276 = SozR 2200 § 1246 Nr 27 und vom 28. Juni 1979 - 4 RJ 53/78 - = SozR 2200 § 1246 Nr 44). Diese Rechtsprechung betrifft die Gruppe der Facharbeiter, die sich aus dem Kreis der übrigen Facharbeiter dadurch deutlich herausheben, daß sie entweder in ihrem Berufsbereich über die allgemeine Berufserfahrung hinaus besonders hoch qualifiziert sind oder als Vorgesetzte (Vorarbeiter) anderer Facharbeiter eine erhöhte Verantwortung tragen. Den fachlichen Kenntnissen sowie dem Verantwortungsbereich entspricht ein qualitativ höherer Wert der Arbeitsleistung, der bei Anwendung des § 1246 Abs 2 RVO eine im Vergleich zu anderen Facharbeitern eingeschränkte Verweisung auf andere als die bisher ausgeübten Tätigkeiten rechtfertigt.
Ob diese Voraussetzungen vorliegen, muß im Einzelfall vom Tatsachengericht im Wege der Prüfung und Wertung des bisherigen Berufes eines Versicherten festgestellt werden. Von wesentlicher Bedeutung ist dabei die Einstufung eines Versicherten in die Tätigkeitsgruppen der Lohnskala eines Tarifes sowie die Tatsache, daß er seinerseits keinem Vorgesetzten im Arbeitsverhältnis unterstellt ist.
Diese Kriterien hat das LSG seinem Urteil zugrundegelegt. Es ist davon ausgegangen, daß der Kläger Leiter einer Gruppe von Facharbeitern gewesen ist, und die Verantwortung für die Arbeit dieser Gruppe getragen hat. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger in einem wesentlichen Bereich seiner Tätigkeit regelmäßig den Weisungen anderer Arbeiter unterstanden hätte. Ein Über- oder Unterordnungsverhältnis anderen Obermonteuren oder Richtmeistern gegenüber hat lediglich zeitweise von Fall zu Fall aufgrund der Art der jeweils anfallenden Arbeit bestanden. Diese Feststellungen des LSG sind verfahrensfehlerfrei zustande gekommen. Die vom LSG daraus gezogenen Schlußfolgerungen zur Bestimmung des bisherigen Berufs des Klägers sind nicht zu beanstanden.
Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG gibt es keine Tätigkeit, auf die der Kläger zumutbar verwiesen werden könnte. Der Senat ist mit dem LSG der Auffassung, daß dem Kläger auch eine Verweisung auf seine derzeit ausgeübte Tätigkeit bei seinem früheren Arbeitgeber nicht zumutbar ist. Der Kläger übt eine Tätigkeit aus, die nach ihrem qualitativen Arbeitswert nicht der eines Facharbeiters entspricht, sondern kaufmännische Hilfsarbeiten umfaßt. Seine tarifliche Einstufung beruht nicht auf dem Arbeitsinhalt, sondern erfolgt aus Kulanz.
Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl Urteil vom 19. Januar 1978 - 4 RJ 35/77 = BSGE 45, 267, 270 = SozR 2200 § 1246 Nr 26 und Urteil vom 19. März 1980 - 4 RJ 13/79 = SozR 2200 § 1246 Nr 60 S 181) kann eine Verdienstsicherung die Verweisbarkeit des Versicherten auf eine ausgeübte Tätigkeit begründen. In der Regel wird das Vorliegen eines solchen Sachverhalts die Berufsunfähigkeit ausschließen. An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Ihr liegt der Gedanke zugrunde, daß es eine wesentliche Aufgabe der Rentenversicherung ist, die durch den Eintritt des Versicherungsfalles herbeigeführten wirtschaftlichen Schäden auszugleichen. Das geschieht durch die Gewährung einer Sozialleistung, die Lohnersatzfunktion hat, der Rente. Dieser Sozialleistung bedarf es in der Regel nicht, wenn die soziale Sicherheit eines Versicherten infolge der rechtlich abgesicherten Weitergewährung des bisherigen Lohnes nicht beeinträchtigt ist. Insoweit treten für den Versicherten keine Belastungen ein, für die die Solidargemeinschaft aller Versicherten einzutreten hätte.
Eine andere Beurteilung kann dann angebracht sein, wenn die ausgeübte Tätigkeit so einfacher Art ist, daß sie im Arbeitsleben einen erheblichen - und damit nicht mehr zumutbaren - Abstieg des Versicherten zur Folge hat, daß er auch durch die Weiterzahlung des früheren Lohnes nicht mehr ausgeglichen werden kann (so der vom BSG am 12.11.1980 - 1 RJ 104/79 = SozR 2200 § 1246 Nr 69 S 218 f entschiedene Fall). Weiter ist von Bedeutung, ob der Arbeitgeber zur Weiterzahlung des früheren Lohnes rechtlich verpflichtet ist, (zB aufgrund eines Tarifvertrages oder einer Betriebsvereinbarung). Ist dies nicht der Fall (so im Urteil des 5. Senats vom 11.3.1982 - 5b/5 RJ 166/80), kann der Versicherte auch nicht unbedingt auf den Fortbestand seiner Rechtsstellung, und damit die Gewährleistung seiner sozialen Sicherheit vertrauen. Er erleidet einen Nachteil, der durch die Berufsunfähigkeitsrente als Leistung der Solidargemeinschaft auszugleichen ist. Typisch hierfür sind die Fälle der Weiterzahlung des früheren Lohnes aus bloßer Kulanz, oder sonstigem Entgegenkommen. Hierzu hat das LSG im vorliegenden Fall eindeutige und unangegriffene tatsächliche Feststellungen getroffen und ermittelt, daß dem Kläger sein derzeitiges Arbeitsentgelt nur aus Kulanz gewährt wird. Hiernach hat der Kläger keinen abgesicherten Rechtsanspruch auf die Weitergewährung seines früheren Lohnes; vielmehr beruht die Lohnzahlung auf einem freiwilligen Entgegenkommen des Arbeitgebers. Sie verschafft dem Kläger somit gegenüber seiner früheren Position nur eine wesentlich mindere soziale Sicherheit.
Demgemäß steht dem Kläger ein Anspruch auf Berufsunfähigkeitsrente zu.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
BSGE, 25 |
Breith. 1983, 322 |