Entscheidungsstichwort (Thema)
Inhalt des Revisionsantrags. Revisionsverfahren. Änderung eines bestandskräftigen begünstigenden Verwaltungsaktes
Leitsatz (amtlich)
1. Die bindende Wirkung der als Ersatzzeit in die Versicherungskarte eingetragenen Verfolgungszeit (BSG 1970-07-08 11 RA 164/67 = BSGE 31, 226, 230 = SozR Nr 1 zu § 1412 RVO) ist auf die Anerkennung dieser beitragslosen Versicherungszeit beschränkt.
2. Die als Begründung der Ersatzzeiteintragung dienende Annahme einer Verfolgung hat für die Verfolgteneigenschaft nach dem WGSVG keine selbständige Bedeutung.
3. Das vorsorgliche Verlassen des Reichsgebiets mehrere Jahre vor der nationalsozialistischen Machtübernahme und ebenso das vorsorgliche Verlassen der Tschechoslowakei mehrere Jahre vor deren Besetzung durch deutsche Truppen ist nicht auf nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen iS von § 2 Abs 1 BEG zurückzuführen und begründen deshalb nicht die Verfolgteneigenschaft.
Orientierungssatz
1. Das Begehren eines Altersruhegeldempfängers im Revisionsverfahren die Nachentrichtung von Beiträgen nach §§ 9, 10 WGSVG zuzulassen, hat letztlich ein höheres Altersruhegeld zum Ziel. Gemäß § 123 SGG ist daher auch im Revisionsverfahren sowohl über den Anspruch auf Beitragsnachentrichtung als auch über den Anspruch auf Gewährung eines höheren Altersruhegeldes unter Anrechnung der hierfür in Betracht zu ziehenden Zeiten zu entscheiden.
2. Die Änderung einer in die Versicherungskarte eingetragenen verfolgungsbedingten Ersatzzeit ist nur unter den Voraussetzungen des § 1744 RVO möglich, wenn dieser bei der Vornahme der Eintragung galt.
Auch durch Inkrafttreten des SGB 10 hat sich für diesen Fall die Rechtslage nicht geändert.
Bei bestandskräftigen rein begünstigenden Verwaltungsakten, bei denen auch nach § 1744 RVO in der vor dem 1.1.1981 geltenden Fassung eine neue Prüfung nicht vorgenommen werden konnte, sieht Art 2 § 40 Abs 2 S 3 SGB 10 ausdrücklich die Nichtanwendbarkeit von Art 1 §§ 44 bis 49 vor (vgl BSG 1982-12-15 GS 2/80 = BSGE 54, 223).
Normenkette
RVO § 1251 Abs 1 Nr 4 Fassung: 1970-12-22, § 1423 Fassung: 1957-02-23; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03; WGSVG § 1 Abs 1 Fassung: 1970-12-22, § 10; BEG § 2 Abs 1; RVO § 1412 Abs 3, § 1744 Fassung: 1953-09-03; SGG § 123 Fassung: 1953-09-03, § 164 Abs 2 S 3 Fassung: 1974-07-30; SGB 10 Art 2 § 40 Abs 2 S 3 Fassung: 1980-08-18; SGB 10 § 45 Fassung: 1980-08-18; WGSVG § 9
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 28.05.1980; Aktenzeichen I JBf 95/79) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 14.06.1979; Aktenzeichen 11 J 467/77) |
Tatbestand
Streitig ist unter den Beteiligten die Anerkennung einer Ersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) als Voraussetzung für eine Rentenerhöhung und für die Nachentrichtung von Beiträgen gemäß § 9 des Gesetzes über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG).
Der 1910 geborene Kläger war von 1925 bis 1929 versicherungspflichtig in Berlin tätig. Als tschechischer Staatsangehöriger jüdischen Glaubens leistete er von Oktober 1930 bis März 1932 Militärdienst in der Tschechoslowakei und war sodann bis Ende 1935 dort versicherungspflichtig tätig. Sodann wanderte er nach Palästina aus, war israelischer Staatsangehöriger und wurde schließlich infolge seiner Auswanderung nach Kanada 1962 kanadischer Staatsangehöriger. Im April 1975 beantragte er, ihm die Nachentrichtung von Beiträgen nach dem WGSVG zu gestatten. Im Februar 1976 beantragte er Altersruhegeld. Durch Bescheid vom 28. April 1977 lehnte die Beklagte die Nachentrichtung von Beiträgen mit der Begründung ab, beim Kläger sei eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit nicht aus Verfolgungsgründen unterbrochen oder beendet worden. Der Kläger habe seine versicherungspflichtige Beschäftigung in der Tschechoslowakei bereits im Juni 1935 aufgegeben; ein Zusammenhang mit einer dort erst nach dem 15. März 1939, dem Tag der Besetzung der Tschechoslowakei durch deutsche Truppen, möglichen Verfolgung im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes -BEG- bestehe daher nicht. Soweit in der Versicherungskarte Nr 5 der Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz unter dem 13. März 1970 für die Zeit vom 1. April 1933 bis zum 31. Dezember 1949 eine Ersatzzeit wegen politischer Verfolgung eingetragen sei, werde sie für die Zeit vor dem 15. März 1939 aufgehoben. Mit Bescheid vom 13. Mai 1977 bewilligte die Beklagte dem Kläger Altersruhegeld, rechnete aber auch hier nur die Zeit vom 15. März 1939 bis zum 31. Dezember 1949 als Ersatzzeit wegen nationalsozialistischer Verfolgung an.
Die gegen beide Bescheide gerichteten Klagen hat das Sozialgericht (SG) Hamburg durch Urteil vom 14. Juni 1979 abgewiesen. Es hat die Rechtsauffassung der Beklagten unter dem Gesichtspunkt eines in der Versicherungskarte Nr 5 enthaltenen offensichtlichen Schreibfehlers oder Irrtums bestätigt. Die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Hamburg mit Urteil vom 28. Mai 1980 zurückgewiesen. Es hat die Eintragung in die Versicherungskarte Nr 5 nicht als bindenden Verwaltungsakt und ihre Korrektur unter den Voraussetzungen des § 1423 RVO für möglich erachtet. Die Zeiten der behaupteten Arbeitslosigkeit von September 1929 bis Oktober 1930, des anschließenden Militärdienstes in der Tschechoslowakei bis zum 31. März 1932 und die Zeit vom Ende der versicherungspflichtigen Beschäftigung in der Tschechoslowakei im Jahre 1935 bis zum 15. März 1939 seien dem Kläger zu Recht nicht rentensteigernd angerechnet worden, weil die behauptete Arbeitslosigkeit in den Jahren 1929 und 1930 noch nicht verfolgungsbedingt habe sein können, der Militärdienst in der Tschechoslowakei mangels der Vertriebeneneigenschaft des Klägers dem deutschen Militärdienst nicht gleichgestellt werden könne und auch die Beendigung der versicherungspflichtigen Beschäftigung in der Tschechoslowakei im Jahre 1935 nicht verfolgungsbedingt gewesen sein könne, zumal der Kläger für sich selbst keinen Entschädigungsantrag gestellt habe.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger, das LSG habe den bindenden Charakter der in der Versicherungskarte Nr 5 eingetragenen Ersatzzeit verkannt und den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt. Es habe klären müssen, warum er im Sommer 1935 aus der Tschechoslowakei ausgewandert sei und welche Zustände damals in den Sudeten geherrscht hätten. Auch zu seiner behaupteten Rückkehr im Jahre 1935 nach Deutschland hätte es Ermittlungen anstellen müssen. Die Beweiswürdigung des LSG sei unrichtig, weil er ohne die Judenverfolgung sicher vor 1935 zu seinen Eltern nach Berlin zurückgekehrt wäre.
Der Kläger beantragt wörtlich, 1. das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 28. Mai 1980 aufzuheben. 2. Dem Antrag auf Nachentrichtung von Beiträgen gemäß §§ 9 und 10 WGSVG zu entsprechen und hierbei die Zeiten vom 1. Oktober 1930 bis zum 31. März 1932 und vom 1. Januar 1936 bis zum 15. März 1939 als Beitrags-, Ersatz- oder Ausfallzeiten anzuerkennen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Vorab ist der Inhalt des Revisionsantrages klarzustellen. Sein Wortlaut erweckt zunächst den Anschein, der Kläger wolle das Urteil des LSG zur Höhe seines Altersruhegeldes nicht beanstanden und nur noch den Anspruch auf Nachentrichtung von Beiträgen durchsetzen. Dagegen spricht allerdings der uneingeschränkte Aufhebungsantrag zu 1) und der Antrag zu 2), die Zeiten vom 1. Oktober 1930 bis zum 31. März 1932 und vom 1. Januar 1936 bis zum 15. März 1939 als Beitrags-, Ersatz- oder Ausfallzeiten anzuerkennen. Auch das Begehren, die Nachentrichtung von Beiträgen zuzulassen, hat letztlich ein höheres Altersruhegeld zum Ziel. Gemäß § 123 SGG ist daher auch im Revisionsverfahren sowohl über den Anspruch auf Beitragsnachentrichtung als auch über den Anspruch auf Gewährung eines höheren Altersruhegeldes unter Anrechnung der hierfür in Betracht zu ziehenden Zeiten zu entscheiden.
Hinsichtlich des Anspruchs auf Gewährung eines höheren Altersruhegeldes unter Berücksichtigung der Zeit vom 1. April 1933 bis zum 15. März 1939 als Ersatzzeit ist die Revision begründet; im übrigen ist sie unbegründet.
Die Beklagte hat in ihrem Bescheid vom 13. Mai 1977 als Ersatzzeit wegen politischer Verfolgung nur die Zeit vom 15. März 1939 bis zum 31. Dezember 1949 berücksichtigt. Sie hat dabei, wie die Revision zutreffend rügt, den bindenden Charakter der in der Versicherungskarte Nr 5 enthaltenen Ersatzzeitbescheinigung verkannt. Wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits mit Urteil vom 8. Juli 1970 entschieden hat (BSGE 31, 226, 230 = SozR Nr 1 zu § 1412 RVO), ist die Eintragung von Ersatzzeiten in die Versicherungskarte durch den Versicherungsträger ein feststellender Verwaltungsakt, mit dem der Versicherungsträger gesetzliche Tatbestandsmerkmale einer künftigen Leistungsgewährung ausnahmsweise im voraus feststellt. Er wird damit gemäß § 77 SGG für die Beteiligten in der Sache bindend, soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist.
Entgegen der Auffassung des LSG kommt eine Korrektur der Eintragung einer Ersatzzeit in die Versicherungskarte nach den Grundsätzen des § 1423 RVO nicht in Betracht. Aus § 1423 Abs 2 RVO ist zwar zu schließen, daß vor Ablauf von zehn Jahren nach Aufrechnung der Versicherungskarte die darin enthaltenen Eintragungen der Beschäftigungszeiten, der Arbeitsentgelte, der Beiträge und der Rechtsgültigkeit der Verwendung der in der Aufrechnung der Versicherungskarte bescheinigten Beitragsmarken noch korrigiert werden können. In den Fällen des § 1423 Abs 2 Satz 2 RVO gilt dies auch noch nach Ablauf von zehn Jahren. Indes kann diese Regelung nicht entsprechend auf die Eintragung von Ersatzzeiten angewendet werden. Das ist aus der in § 1423 Abs 5 RVO enthaltenen Anordnung der entsprechenden Anwendung auf den Nachweis der Seefahrtszeiten und Durchschnittsheuern der Seeleute zu schließen. Diese Regelung läßt erkennen, daß die von § 1423 Abs 1 und 2 RVO ausgehenden Sicherungen und die sich daraus ergebenden Korrekturmöglichkeiten nur auf die hier genannten Eintragungen bezogen sind, nicht aber auch auf alle übrigen Eintragungen in den Versicherungskarten. Andernfalls hätte es der von Abs 5 angeordneten beschränkten entsprechenden Anwendung der Abs 1 bis 4 nicht bedurft. Im übrigen könnte sich die Berichtigung einer Eintragung in die Versicherungskarte nur auf Schreib- und Rechenfehler vergleichbare Versehen beziehen, die mit dem Erklärungswillen des Erklärenden erkennbar in Widerspruch stehen. Das hat das BSG bereits mit Urteil vom 3. Oktober 1979 (BSGE 49, 51 = SozR 2200 § 1423 Nr 10) und Urteil vom 20. Februar 1980 (BSGE 49, 296, 298 = SozR 2200 § 1278 Nr 7) entschieden. Es hat dabei ausdrücklich betont, daß Verstöße gegen das materielle oder das Verfahrensrecht keine Versehen in diesem Sinne sind.
Die Änderung der verfolgungsbedingten Ersatzzeit in der Versicherungskarte Nr 5 des Klägers konnte die Beklagte, weil es sich dabei um einen den Kläger begünstigenden Verwaltungsakt handelt, nach dem bei Vornahme der Eintragung geltenden § 1744 RVO nur unter den Voraussetzungen dieser Bestimmung vornehmen. Daß diese zutrafen, hat weder die Beklagte behauptet, noch die Vorinstanz festgestellt. Damit verblieb es bei der bindenden Wirkung dieser Eintragung, die zwar nicht von der Beklagten stammt, die die Beklagte aber gegen sich gelten lassen muß (vgl hierzu BSG in SozR Nr 57 zu § 77 SGG; aaO Nr 60 = BSGE 32, 21).
Auch durch Inkrafttreten des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 10) hat sich für diesen Fall die Rechtslage nicht geändert. Denn gemäß Art 2 § 40 Abs 2 Satz 3 SGB 10 gilt hier die Regelung des Art 1 § 45 SGB 10 noch nicht. Die Eintragung in die Versicherungskarte Nr 5 des Klägers ist nämlich ein rein begünstigender Verwaltungsakt in der Sozialversicherung, der bereits bestandskräftig war und bei dem auch nach § 1744 RVO in der vor dem 1. Januar 1981 geltenden Fassung eine neue Prüfung nicht vorgenommen werden konnte. Für diese Fallgruppe sieht aber Art 2 § 40 Abs 2 Satz 3 SGB 10 ausdrücklich die Nichtanwendbarkeit von Art 1 §§ 44 bis 49 vor (vgl hierzu auch den Beschluß des Großen Senats vom 15. Dezember 1982 (GS 2/80).
Mithin muß die Beklagte bei Bemessung des Altersruhegeldes des Klägers uneingeschränkt von der in seiner Versicherungskarte Nr 5 eingetragenen Ersatzzeit ausgehen und ihm auch die Zeit vom 1. April 1933 bis zum 15. März 1939 als verfolgungsbedingte Ersatzzeit rentensteigernd anrechnen. Insoweit müssen die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben und die Beklagte in Abänderung des angefochtenen Bescheides zur Zahlung des entsprechend erhöhten Altersruhegeldes verurteilt werden.
Im übrigen ist die Revision des Klägers dagegen nicht begründet. Insbesondere gehen die zum Nachversicherungsbegehren erhobenen Rügen fehl.
Als Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) rügt die Revision, die Vorinstanz hätte "die Zustände in den Sudeten" prüfen müssen. Gemeint ist damit offenbar die Zuwendung der dortigen Bevölkerung im Jahre 1935 zum Nationalsozialismus. Inwiefern sich daraus dem LSG bei Prüfung der Frage, ob der Kläger in der Tschechoslowakei vor dem 15. März 1939 einer nationalsozialistischen Verfolgung ausgesetzt war, Anhaltspunkte geboten hätten und welches diese Anhaltspunkte gewesen wären, bezeichnet die Revision nicht. Sie genügt damit nicht der ihr bei Verfahrensrügen obliegenden Verpflichtung des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG, in der Revisionsbegründung die Tatsachen zu bezeichnen, die den gerügten Verfahrensmangel ergeben.
Soweit die Revision rügt, daß offensichtliche Beweise einer Rückkehr des Klägers im Jahre 1935 nach Deutschland nicht erhoben wurden, fehlt es wiederum an der Angabe der Tatsachen, in denen die für offensichtlich erachteten Beweise hätten bestehen sollen; dies insbesondere auch deshalb, weil die Revision selbst davon ausgeht, daß der Kläger im Sommer 1935 aus der Tschechoslowakei und seine Eltern etwa zur selben Zeit aus Berlin in die Tschechoslowakei ausgewandert sind. Schließlich ist auch die Feststellung des LSG, die Vertriebeneneigenschaft des Klägers nach § 1 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) sei nicht nachgewiesen, von der Revision nicht substantiiert angegriffen worden. Auch hierzu hätte es nämlich der Angabe der Tatsachen bedurft, aus denen das LSG nach Auffassung der Revision hätte erkennen können und müssen, daß der Kläger die Tatbestandsmerkmale des Vertriebenen im Sinne von § 1 - insbesondere Abs 2 Nr 1 - BVFG erfüllte.
Da somit in bezug auf die in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe nicht vorgebracht sind, ist das BSG an die im angefochtenen Urteil getroffenen Feststellungen gemäß § 163 SGG gebunden. Auf der Basis dieser Feststellungen erweist sich das Nachentrichtungsbegehren des Klägers als unbegründet.
Zur Beitragsnachentrichtung gemäß § 10 WGSVG sind nach Abs 1 Satz 1 dieser Bestimmung Verfolgte berechtigt, die nach § 9 WGSVG zur Weiterversicherung berechtigt sind. Voraussetzung für die Nachentrichtung ist mithin neben den Anforderungen des § 9 WGSVG die in § 1 Abs 1 WGSVG umschriebene Verfolgteneigenschaft. Sie ist mit dem Begriff des Verfolgten im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) identisch und erfordert einen durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen aus Gründen der Rasse erlittenen Schaden in der Sozialversicherung. Dabei sind nach § 2 Abs 1 BEG nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen solche Maßnahmen, die aus den Verfolgungsgründen des § 1 BEG auf Veranlassung oder mit Billigung einer Dienststelle oder eines Amtsträgers des Reiches, eines Landes, einer sonstigen Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts, der NSDAP, ihrer Gliederungen oder ihrer angeschlossenen Verbände gegen den Verfolgten gerichtet worden sind. Diese Voraussetzungen treffen auf den Kläger nicht zu.
Der Kläger hat nach den Feststellungen des LSG als tschechoslowakischer Staatsbürger, der sich dem deutschen Volkstum zugehörig fühlte, bereits im Herbst 1930 das deutsche Reichsgebiet verlassen und sich zur Ableistung des Militärdienstes in die Tschechoslowakei begeben. Er war also von diesem Zeitpunkt an nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen im Sinne von § 2 Abs 1 BEG schon aus räumlichen Gründen nicht ausgesetzt. Deshalb kann auch die Beendigung der versicherungspflichtigen Tätigkeit, die er im Anschluß an den Militärdienst in der Tschechoslowakei bis Ende 1935 verrichtete, nicht mit nationalistischen Gewaltmaßnahmen in Zusammenhang gebracht werden. Ein solcher Zusammenhang ist, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, erst von der Besetzung der Tschechoslowakei durch deutsche Truppen am 15. März 1939 an denkbar. Zu dieser Zeit war der Kläger aber nicht mehr in der Tschechoslowakei, weil er auch nach seinem Revisionsvorbringen bereits im Sommer 1935 aus der Tschechoslowakei auswanderte.
Beweggrund der Auswanderung des Klägers nach Palästina mögen sicherlich auch die im Jahre 1935 im Reichsgebiet bereits angelaufenen nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen gegen Menschen jüdischer Rasse oder jüdischen Glaubens gewesen sein. Es kann davon ausgegangen werden, daß der Kläger zur Auswanderung nach Palästina wesentlich von der Besorgnis bestimmt worden ist, daß bei einer etwaigen Besetzung der Tschechoslowakei durch die nationalsozialistischen Machthaber deren Verfolgungen sich auch gegen ihn richten würden. Das einer künftig als möglich erkannten Verfolgung vorbeugende vorsorgliche Verlassen eines Gebietes, das noch nicht zum nationalsozialistischen Machtbereich gehörte, rechnet aber weder das BEG noch das WGSVG zur entschädigungspflichtigen Verfolgung. So verlangt § 9 Satz 1 WGSVG für die Berechtigung zur Weiterversicherung, auf die sich die Berechtigung des § 10 Abs 1 WGSVG zur Nachversicherung bezieht, daß eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aus Verfolgungsgründen unterbrochen oder beendet worden ist oder daß bis zum Beginn der Verfolgung eine Ausfallzeit krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitslosigkeit zurückgelegt worden ist. Die mit Aufgabe der bisherigen versicherungspflichtigen Beschäftigung verbundene Auswanderung im Jahre 1935 aus der Tschechoslowakei nach Palästina ist von diesen Voraussetzungen nicht miterfaßt. Eine Befugnis zur Nachversicherung gemäß § 10 WGSVG besteht daher für den Kläger nicht.
An diesem Ergebnis ändert sich auch unter Berücksichtigung der in der Versicherungskarte Nr 5 des Klägers für die Zeit vom 1. April 1933 bis zum 31. Dezember 1949 unter dem Gesichtspunkt nationalsozialistischer Verfolgung eingetragenen Ersatzzeit nichts. Die Eintragung einer Ersatzzeit bedeutet, wie sich aus § 1250 Abs 1 Buchst b RVO iVm § 1412 Abs 2 RVO ergibt, daß der Träger der Rentenversicherung eine Zeit ohne Beitragsleistung zur anrechnungsfähigen Versicherungszeit erklärt, weil er die Voraussetzungen dafür für nachgewiesen erachtet. Handelt es sich dabei um den Tatbestand der nationalsozialistischen Verfolgung, so ist durch den feststellenden Verwaltungsakt der Ersatzzeiteintragung zwar die anrechnungsfähige Versicherungszeit festgestellt und der Bindungswirkung fähig, nicht aber der hierzu als Begründung dienende Verfolgungstatbestand. Nur auf diese Weise kann erreicht werden, daß eine sachlich unzutreffende, aber bindend gewordene Entscheidung über die Anerkennung einer Ersatzzeit die für den Versicherten erforderliche Verläßlichkeit bietet, ohne zugleich eine Kettenreaktion darauf beruhender und somit von den Voraussetzungen her zwangsläufig unrichtiger weiterer Verwaltungsakte auszulösen. Deshalb entfaltet die Eintragung der Ersatzzeit in der Versicherungskarte Nr 5 des Klägers keine Bindungswirkung hinsichtlich der Frage, ob bei ihm eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aus Verfolgungsgründen unterbrochen oder beendet worden ist oder ob überhaupt bei ihm ein Verfolgungstatbestand vorliegt. Die Eintragung ist insoweit vielmehr nur eine von all den für diese Frage bedeutsamen Tatsachen, aus denen schließlich die eigenständige Feststellung der Voraussetzungen des WGSVG für eine Wiedergutmachung in der Sozialversicherung herzuleiten ist. Der Kläger war nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG bereits seit Herbst 1930 in der Tschechoslowakei und hatte diese Ende 1935 bereits infolge Auswanderung nach Palästina verlassen. Die Eintragung einer Ersatzzeit vom 1. April 1933 bis zum 31. Dezember 1949 in die Versicherungskarte Nr 5 des Klägers ersetzt nicht das Erfordernis, daß er der im Jahre 1933 im Reichsgebiet und im Jahre 1939 in der Tschechoslowakei einsetzenden nationalsozialistischen Verfolgung aus Gründen der Rasse und des Glaubens ausgesetzt gewesen ist (vgl § 3 Abs 1 WGSVG). Eine Nachversicherung des Klägers ist daher auch unter Berücksichtigung der bindenden Wirkung der Eintragung einer Ersatzzeit in seiner Versicherungskarte Nr 5 nicht möglich.
Soweit der Kläger die Anerkennung der Zeit vom 1. Oktober 1930 bis zum 31. März 1932 begehrt, kommt wegen des in diese Zeit fallenden tschechischen Militärdienstes nur die Annahme einer Ersatzzeit im Sinne von § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO in Betracht. Hier ist die Anrechnung der Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes im Sinne der §§ 2 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) als Ersatzzeiten vorgesehen. Da der Kläger keinen militärischen Dienst nach deutschem Wehrrecht geleistet hat, die Vertriebeneneigenschaft im Sinne des § 1 des BVFG bei ihm nach den Feststellungen des LSG nicht nachgewiesen ist, und er den Dienst in der tschechoslowakischen Wehrmacht nicht während eines der beiden Weltkriege geleistet hat, handelt es sich bei dem tschechischen Militärdienst von 1930 bis 1932 nicht um militärischen Dienst im Sinne von § 2 BVG. Auch die von § 3 BVG aufgezählten Hilfstatbestände erfassen diesen Dienst nicht. Er kann dem Kläger daher nicht als Ersatzzeit angerechnet werden.
Nach alledem muß die Revision des Klägers zurückgewiesen werden, soweit sie die Nachentrichtung von Beiträgen nach dem WGSVG und die Anrechnung des tschechischen Militärdienstes als Ersatzzeit zum Gegenstand hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1661903 |
BSGE, 181 |