Leitsatz (amtlich)
Zu der Anrechnung eines nach BBG § 125 Abs 1 aF vorschußweise gewährten Unterhaltsbeitrags - AVG § 68 Abs 2 S 1 Halbs 2 (Fortführung BSG 1968-01-16 11 RA 104/65 = SozR Nr 23 zu § 1291 RVO).
Leitsatz (redaktionell)
Unterhaltsbeitrag nach BBG § 125 aF Bedeutung von Richtlinien:
1. Auch bei dem nach BBG § 125 aF gewährten Unterhaltsbeitrag handelt es sich um einen neuen Versorgungsanspruch iS des AVG § 68 Abs 2.
2. Die Behörde bindet sich selbst, wenn sie Verwaltungsvorschriften erläßt, um eine einheitliche und gleiche Ausübung des Ermessens zu gewährleisten. Die Versagung einer durch Richtlinien näher bestimmten Kannleistung würde deshalb für denjenigen, der die geforderten Voraussetzungen erfüllt, dem aber gleichwohl die begehrte Leistung versagt wird, in der Regel einen im Klageweg verfolgbaren Anspruch auf sachgerechte Ausübung des Ermessens begründen.
Normenkette
RVO § 1291 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 68 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 Fassung: 1957-02-23; BBG § 125 Abs. 1 Fassung: 1953-07-14; SGG § 54 Abs. 2 S. 2
Tenor
Die Revision der Beigeladenen gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 21. Juni 1966 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die im Jahre 1886 geborene Klägerin hatte nach dem Tode ihres ersten Ehemannes aus dessen Angestelltenversicherung eine Witwenrente bezogen, die jedoch wieder weggefallen war, als sie im Jahre 1939 einen seit Jahren pensionierten Reichsbahnbeamten heiratete. Dieser ist im Juni 1961 gestorben. Auf Antrag der Klägerin gewährte ihr die beigeladene Bundesbahn daraufhin vom 1. Oktober 1961 an einen Unterhaltsbeitrag nach § 125 Abs. 1 des Bundesbeamtengesetzes (BBG) aF in Höhe von 204,17 DM monatlich (Mindestsatz); die Zahlung erfolgte unter dem Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs und nur vorschußweise bis zur Bewilligung der wiederaufgelebten Witwenrente aus der Angestelltenversicherung (AnV) des ersten Ehemannes, weil erst dann die endgültige Festsetzung des Unterhaltsbeitrages möglich sei.
Die Beklagte erkannte mit Bescheid vom 3. Oktober 1962 den Anspruch der Klägerin auf Witwenrente aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes nach § 68 Abs. 1 Satz 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) in Verbindung mit Art. 2 § 25 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) an, zahlte aber nur für die Zeit vom 1. Juli bis 30. September 1961 den Betrag von 3 x 72,10 DM = 216,30 DM. Für die Zeit vom 1. Oktober 1961 an lehnte sie eine Zahlung ab, weil nach dem letzten Halbsatz des § 68 Abs. 2 Satz 1 AVG der von diesem Zeitpunkt an gewährte Unterhaltsbeitrag der Beigeladenen als ein infolge Auflösung der zweiten Ehe erworbener neuer Versorgungsanspruch auf die Witwenrente anzurechnen sei. Die Klägerin hielt diese Rechtsauffassung für falsch, weil sie aus ihrer zweiten Ehe keinen Rechtsanspruch auf Versorgung nach beamtenrechtlichen Vorschriften erworben habe, ihr der Unterhaltsbeitrag der Deutschen Bundesbahn vielmehr nur vorschußweise als Kann-Leistung gewährt werde; sie begehrte deswegen mit der Klage Aufhebung des Bescheids vom 3. Oktober 1962 und Weiterzahlung der wiederaufgelebten Witwenrente. Die zum Verfahren beigeladene Deutsche Bundesbahn schloß sich der Rechtsauffassung der Klägerin an.
Das Sozialgericht (SG) entschied im Sinne der Klägerin. Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil auf und wies die Klage ab. Die Revision wurde zugelassen. Nach der Ansicht des Berufungsgerichts ist die nach § 68 Abs. 2 AVG wiederaufgelebte Witwenrente gegenüber dem Unterhaltsbeitrag aus § 125 Abs. 1 BBG aF subsidiär und deshalb dieser auf die Witwenrente anzurechnen und nicht umgekehrt. Bei jenem Unterhaltsbeitrag handele es sich nicht um eine freiwillige, sondern um eine auf gesetzlicher Grundlage beruhende Kann-Leistung, deren Gewährung im pflichtgemäßen Ermessen der Dienstbehörde liege. Unter "Anspruch" im Sinne des § 68 Abs. 2 Satz 1 AVG seien nicht nur Ansprüche im rechtstechnischen Sinne zu verstehen, sondern alle wiederkehrenden auf Versorgung und Unterhalt gerichteten Leistungen, gleichgültig, ob sie auf einem Rechtsanspruch oder einer Kann-Leistung beruhen. Werde einer Witwe jener Unterhaltsbeitrag trotz Vorliegens der Voraussetzungen vorenthalten, könne sie auf Aufhebung des ablehnenden Bescheides klagen. Bei dem Unterhaltsbeitrag handele es sich somit um einen neuen Anspruch im Sinne des § 68 Abs. 2 Satz 1 AVG (Urteil vom 21. Juni 1966).
Die Beigeladene legte frist- und formgerecht Revision ein. Sie beantragt (sinngemäß),
das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil als unbegründet zurückzuweisen, soweit nicht der Rechtsstreit inzwischen in der Hauptsache erledigt sei.
Sie meint, das LSG habe § 68 Abs. 2 Satz 1 AVG unrichtig angewandt. Bei der Bemessung von Unterhaltsbeiträgen nach § 125 Abs. 1 BBG aF seien Sozialversicherungsrenten aus eigener oder anderer Beitragsleistung zu berücksichtigen; die kraft Gesetzes wiederauflebende Witwenrente könne hiervon nicht ausgenommen werden. Das Berufungsgericht habe zu Unrecht eine ohne unmittelbaren Rechtsanspruch gewährte Kann-Leistung in einen Versorgungsanspruch umgedeutet.
Die Beklagte beantragte
die Zurückweisung der Revision.
Die Klägerin ist vor dem Revisionsgericht nicht vertreten.
Während des Verfahrens ist durch die Neufassung des BBG vom 22. Oktober 1965 (BGBl I 1776) auch § 125 Abs. 1 BBG geändert und - mit Wirkung vom 1. Januar 1967 an (Art. 13 Nr. 3 des Haushaltssicherungsgesetzes vom 20. Dezember 1965 - BGBl I 2065, 2176) - die bisherige Kann-Leistung in eine Muß-Leistung umgewandelt worden. Die Beigeladene hat daraufhin der Klägerin mit Bescheid vom 23. Februar 1967 einen Unterhaltsbeitrag in Höhe des gesetzlichen Witwengeldes vom 1. Januar 1967 an gewährt, ohne die wiederaufgelebte Witwenrente zu berücksichtigen. Streitig ist daher nur noch die Anrechnung des Unterhaltsbeitrages für die Zeit vom 1. Oktober 1961 bis zum 31. Dezember 1966.
Die Revision ist zulässig; denn auch ein am Verfahren Beteiligter, der - wie hier - nach § 75 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) beigeladen ist, kann Revision einlegen; er darf nur keine abweichenden Sachanträge stellen (§ 75 Abs. 4 Satz 2 SGG). Das ist aber auch nicht geschehen. Die Beigeladene hat das Berufungsurteil angefochten, weil es nach ihrer Auffassung mit ihren berechtigten Interessen nicht in Einklang steht. In den für sie nachteiligen Wirkungen (Nicht-Auszahlung der Witwenrente wegen Anrechnung des Unterhaltsbeitrages) des nach ihrer Ansicht unrichtigen Berufungsurteils liegt ihre Beschwer (vgl. BSG 8, 291).
Die Revision ist jedoch unbegründet. Das LSG hat zu Recht angenommen, daß die Klägerin gegenüber der Beigeladenen aus ihrer zweiten Ehe einen neuen Versorgungsanspruch im Sinne des § 68 Abs. 2 AVG erlangt hat.
Nach § 68 Abs. 2 AVG muß sich die Klägerin auf die wiederaufgelebte Witwenrente aus der AnV ihres ersten Ehemannes einen infolge der Auflösung ihrer zweiten Ehe erworbenen neuen Versorgungsanspruch anrechnen lassen. Zweifellos beruht der ihr auf Grund der Neufassung des BBG vom 1. Januar 1967 an gewährte Unterhaltsbeitrag auf einem solchen neuen Versorgungsanspruch. Gleiches gilt aber auch für den während der streitigen Zeit nach § 125 Abs. 1 BBG aF gewährten Unterhaltsbeitrag. Zwar beruhte er lediglich auf einer Kann-Vorschrift. Dies bedeutete, daß die zuständige Dienststelle nicht in jedem Falle einen Unterhaltsbeitrag bewilligen mußte. Es waren hierzu aber Richtlinien ergangen (vgl. Bekanntmachung der Neufassung der allgemeinen Verwaltungsvorschriften zu den Abschnitten V und IX des BBG und der Richtlinien nach § 155 Abs. 3 Satz 2 BBG vom 19. September 1962, Bundesanzeiger Nr. 183, Beilage S. 36). Hierin kam zutreffend zum Ausdruck, daß bei der Gewährung eines Unterhaltsbeitrages Leistungen außer Betracht zu lassen seien, die auf Grund anderer Gesetze und Verordnungen nur subsidiär gewährt werden. Mit solchen Richtlinien wird bezweckt, daß die Verwaltung bei der Ausübung ihres Ermessens nach einheitlichen Grundsätzen handelt; insbesondere soll dadurch vermieden werden, daß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 des Grundgesetzes (GG) verstoßen wird. Die Behörde bindet sich selbst, wenn sie Verwaltungsvorschriften erläßt, um eine einheitliche und gleiche Ausübung des Ermessens zu gewährleisten. Die Versagung einer durch Richtlinien näher bestimmten Kann-Leistung würde deshalb für denjenigen, der die geforderten Voraussetzungen erfüllt, dem aber gleichwohl die begehrte Leistung versagt wird, in der Regel einen im Klageweg verfolgbaren Anspruch auf sachgerechte Ausübung des Ermessens begründen (vgl. BVerfG 18, 363; BSG 3, 198; 7, 75, 78; 9, 233, 239; BVerwG 19, 48, 56; Urteil vom 7. Dezember 1966 in "Der Öffentliche Dienst" 1967, 71; Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 9. Aufl., Bd. I S. 91 sowie Scholler in "Deutsch. Verw. Blatt" 1968, 409 ff). Hiernach hat das LSG zu Recht den "Anspruch" der Klägerin auf die Kann-Leistung nach § 125 BBG aF einem neuen Versorgungsanspruch im Sinne des § 68 Abs. 2 AVG gleichgestellt.
Die Beigeladene beruft sich insoweit zu Unrecht darauf, erst die Neufassung des § 125 Abs. 1 BBG (Muß-Leistung statt Kann-Leistung) und die geänderten Richtlinien (vgl. Richtlinien zur Änderung der Richtlinien nach § 155 Abs. 3 Satz 2 BBG vom 17. November 1966 - Beilage zum Bundesanzeiger Nr. 220 vom 25. November 1966) hätten bewirkt, daß wiederaufgelebtes Witwengeld und wiederaufgelebte Witwenrente nicht als Einkünfte im Sinne des § 125 Abs. 1 Satz 2 BBG anzusehen sind. Was unter anrechenbaren Einkünften im Sinne von § 125 Abs. 1 Satz 2 BBG zu verstehen ist, wird nämlich von der Neufassung des Satzes 1 dieser Bestimmungen nicht berührt. Die geänderten Richtlinien haben nach der Ansicht des Senats keine neue Rechtslage, sondern allenfalls eine Klarstellung dessen herbeigeführt, was schon bisher zu § 125 BBG aF Rechtens war (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 14. Februar 1968 - 1 RA 137/67 -), aber offenbar häufig verkannt wurde.
Entgegen der Auffassung der Beigeladenen kommt es unter diesen Umständen auch nicht entscheidend darauf an, daß der Klägerin ein Unterhaltsbeitrag nur vorschußweise unter dem Vorbehalt des Widerrufs gewährt worden ist und daß ihr mitgeteilt worden war, die endgültige Festsetzung des Unterhaltsbeitrages sei erst nach Bewilligung der wiederaufgelebten Witwenrente möglich. Zwar hat die Beigeladene damit deutlich gemacht, daß sie eine Leistung nur gewähren wolle, soweit diese höher sei als die wiederauflebende (-gelebte) Witwenrente - und insofern unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt von demjenigen, über den der erkennende Senat in seinem erwähnten Urteil vom 14. Februar 1968 zu befinden hatte. Das ändert aber nichts daran, daß der Klägerin - wie oben dargelegt - auch auf Grund der früheren Richtlinien ein Anspruch auf die Kann-Leistung nach § 125 Abs. 1 BBG aF zustand.
Der Senat hält an der bisherigen Rechtsprechung zu § 68 Abs. 2 AVG fest (vgl. BSG aaO sowie BSG 19, 153; 24, 293). Danach muß die Versorgung der Witwe in erster Linie aus den Ansprüchen erfolgen, die sie infolge der Auflösung der zweiten Ehe erworben hat. Die wiederaufgelebte Witwenrente ist gegenüber allen infolge der Auflösung der neuen Ehe erworbenen Versorgungs-, Unterhalts- oder Rentenansprüchen subsidiär, also gerade auch dem "Anspruch" auf den Unterhaltsbeitrag nach § 125 Abs. 1 BBG aF und nicht umgekehrt, wie die Beigeladene meint. Der subsidiäre Charakter der wiederaufgelebten Witwenrente ist sogar so stark, daß weder der Verzicht auf "Ansprüche", die infolge Auflösung der zweiten Ehe entstehen, noch eine vertragliche Umkehrung der Rangfolge die Höhe der wiederaufgelebten Rente beeinflußt (BSG 19, 153; 21, 279). Die wiederaufgelebte Witwenrente aus der Rentenversicherung gehört daher zu den Leistungen, die "auf Grund anderer Gesetze" - hier Reichsversicherungsordnung (RVO) und AVG- "nur subsidiär gewährt werden" und daher auch nach den früheren Richtlinien außer Betracht bleiben.
Da der Unterhaltsbeitrag höher ist als die Witwenrente, die die Klägerin aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes zu beanspruchen hätte, hat die Beklagte für die streitige Zeit den vorschußweise gewährten Unterhaltsbeitrag somit zu Recht auf die wiederaufgelebte Witwenrente angerechnet und eine Rentenzahlung abgelehnt. Die Revision der Beigeladenen muß daher als unbegründet zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen