Entscheidungsstichwort (Thema)
Beitragszeiten in der DDR. Versicherung von Strafgefangenen in der DDR
Orientierungssatz
1. Zur Frage, ob RVO § 1397 Abs 6 auch dann anzuwenden ist, wenn die staatliche Gefängnisverwaltung der DDR vom Lohn des Gefangenen Beträge abzog - ohne sie abzuführen -, die der Höhe nach den nicht geschuldeten Sozialversicherungsbeiträgen entsprechen.
2. Bloße anwartschaftserhaltende Zahlungen, die von der Volkspolizei entrichtet werden, sind keine Beiträge und begründen auch keine Beitragszeiten. Solche Anwartschaftsgebühren dienen lediglich der Erhaltung der Anwartschaft und begründen keine weiteren darüber hinausgehenden Rechte an die Versicherung.
Normenkette
RVO § 1397 Abs 6 Fassung: 1972-10-16; FRG § 15 Abs 1 Fassung: 1960-02-25, § 17 Abs 1 Fassung: 1960-02-25
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 09.03.1979; Aktenzeichen L 14 J 51/76) |
SG Duisburg (Entscheidung vom 27.01.1976; Aktenzeichen S 7 J 323/74) |
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob dem Kläger die Zeit vom 1. Juli 1954 bis 1. Juni 1956, die er als politischer Häftling in der DDR verbracht hat, als weitere Beitragszeit vorzumerken ist.
Der Kläger war von Mitte 1949 bis Ende 1951 in der DDR versicherungspflichtig tätig. Nach einer Untersuchungshaft vom 25. August 1952 bis zum 14. April 1953 mußte er in der DDR vom 15. April 1953 bis zum 1. Juni 1956 eine Zuchthausstrafe verbüßen. Während dieser Strafzeit arbeitete er nacheinander als Tischlerhilfsarbeiter, landwirtschaftlicher Arbeiter, Verladearbeiter, Netzestricker, Bauhilfsarbeiter und Materialverwalter und ab 1. Juli 1955 bis zum Ende der Strafzeit als Betriebsabrechner.
Bei seiner Entlassung erhielt der Kläger eine Bescheinigung der Strafvollzugsanstalt, wonach für ihn in der Zeit vom 27. August 1952 bis zum 1. Juni 1956 Gebühren zur Aufrechterhaltung der Rentenanwartschaft durch die Deutsche Volkspolizei gezahlt worden seien.
Im November 1956 wurde der Kläger in der Bundesrepublik als politischer Häftling iS des § 1 des Häftlingshilfegesetzes (HHG) anerkannt. Er entrichtete hier in der Folge teils freiwillige, teils Pflichtbeiträge zu der Angestelltenversicherung.
Im Januar 1973 erweiterte der Kläger, der hinsichtlich der Anerkennung der Zeiten vom 15. April 1953 bis 16. Juni 1953 und vom 15. August 1953 bis 30. Juni 1954 ein zusprechendes Urteil erstritten hatte, gegenüber der Beklagten seinen Antrag dahin, daß ihm auch die restlichen Zeiten seiner Haft in der DDR als Beitragszeiten anerkannt würden. Mit Bescheid vom 12. April 1973 hat die Beklagte dem Kläger jedoch lediglich die Zeiten vom 15. April 1953 bis 16. Juni 1953 und vom 15. August 1953 bis 30. Juni 1954 als Beitragszeiten anerkannt und diese Anerkennung schließlich auch zu sechs Sechstel vorgenommen (Bescheid vom 18. Dezember 1973). Der Widerspruch des Klägers blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 24. September 1974).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. Januar 1976). Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 9. März 1979 die Berufung des Klägers zurückgewiesen und im wesentlichen ausgeführt:
In der Zeit nach dem 30. Juni 1954 habe es in der DDR keine Rechtsgrundlage mehr für eine Versicherung des Klägers als Strafgefangener gegeben. Für ihn habe weder eine Pflichtversicherung noch eine freiwillige Versicherung bestanden. Bis 1954 sei Rechtsgrundlage für die Sozialversicherung der Strafgefangenen § 4 Abs 2 der Verordnung (VO) der DDR vom 3. April 1952 über die Beschäftigung von Strafgefangenen (GBl der DDR S 275) gewesen, wonach die während des Strafvollzugs zur Arbeit eingesetzten Inhaftierten der Sozialversicherung unterlegen hätten. Diese Bestimmung sei am 1. Juli 1954 gemäß § 2 Abs 2 iVm Abs 1 der VO der DDR vom 10. Juni 1954 über den Arbeitseinsatz von Strafgefangenen (GBl der DDR S 567) außer Kraft getreten. Gemäß § 1 der VO vom 10. Juni 1954 sei nunmehr das Innenministerium der DDR ermächtigt gewesen, den Arbeitseinsatz von Strafgefangenen in eigener Zuständigkeit neu zu regeln. Diese Neuregelung sei durch die Vereinbarung über die sozialversicherungsrechtliche Regelung für Personen während und nach der Inhaftierung vom 15. Juli 1954 mit Wirkung vom 1. Juli 1954 erfolgt. Die aufgrund dieser Vereinbarung vom 15. Juli 1954 ergangenen Arbeitsrichtlinien der Zentralverwaltung der Sozialversicherung der DDR über die Leistungsgewährung für Haftentlassene und Familienangehörige von Inhaftierten besagten, daß Inhaftierte während der Haft keinen Anspruch auf Leistungen der Sozialversicherung hätten und daß für die Zeit der Inhaftierung, die weder wartezeiterfüllend noch rentensteigernd wirke, auch wenn der Inhaftierte während der Haft in einem Betrieb zur Arbeit eingesetzt werde, die Hauptverwaltung der Deutschen Volkspolizei für jeden Inhaftierten, der vor der Inhaftierung rentenversichert gewesen sei, eine Anwartschaftsgebühr an die Zentralverwaltung der Sozialversicherung entrichte. Nach Art 4 der ersten Durchführungsverordnung (Durchführungs-VO) vom 9. April 1947 zur VO über die freiwillige und zusätzliche Versicherung in der Sozialversicherung könne in der DDR die Anwartschaft auf Gewährung von Renten und Zusatzrenten durch die Zahlung einer Anwartschaftsgebühr von 1,-- DM aufrechterhalten werden. Auch § 24 Abs 4 der Mustersatzung der Deutschen Verwaltung für Arbeit und Sozialfürsorge vom 12. September 1947 lasse erkennen, daß in der DDR die Anwartschaft auf Rente bei Unterbrechung von Beitragszahlungen durch Entrichtung einer Anwartschaftsgebühr aufrechterhalten werden müsse und könne. Die Verpflichtung zur Zahlung von Anwartschaftsgebühren im vorliegenden Fall beweise gerade, daß der Kläger während der hier streitigen Zeit nicht Mitglied einer Sozialversicherungseinrichtung gewesen sei und daß für ihn weder eine Pflichtversicherung noch eine freiwillige Versicherung bestanden habe. Die Zahlung einer bloßen Anwartschaftsgebühr rechtfertige aber nicht die Anwendung des § 15 des Fremdrentengesetzes (FRG). Selbst wenn von dem Arbeitslohn des Klägers in der Zeit vom 1. Juli 1954 bis 1. Juni 1956 Sozialversicherungsbeiträge entgegen den geltenden Rechtsvorschriften der DDR einbehalten worden seien, könnten diese Zeiten nicht nach § 15 FRG anerkannt werden. Ohne das Recht oder die Verpflichtung zur Beitragszahlung könne nicht durch bloßes Abziehen von Beiträgen eine Mitgliedschaft in der Versichertengemeinschaft begründet werden.
Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 15 Abs 1 Satz 1 und 17 Abs 1 Buchst a FRG iVm den §§ 1250 und 1397 Abs 6 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sowie den §§ 27, 119 Abs 6 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Ihm seien in der fraglichen Zeit Sozialversicherungssätze von seinem Lohn abgezogen worden. Der Rechtsgedanke der §§ 1250, 1397 Abs 6 RVO bzw 27, 119 Abs 6 AVG müsse auch hier angewendet werden.
Der Kläger beantragt,
die angefochtenen Bescheide der Beklagten sowie das
angefochtene Urteil und das Urteil des Sozialgerichts
Duisburg vom 27. Januar 1976 aufzuheben und die Beklagte
sowie die Beigeladene zu verurteilen, die Zeit vom
1. Juli 1954 bis 1. Juni 1956 als weitere Beitragszeit
vorzumerken.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie trägt vor: Die Rechtsanwendung durch das angefochtene Urteil sei nicht zu beanstanden. Auch wenn dem Kläger trotz des Fehlens eines versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses Sozialversicherungsbeiträge rechtswidrig abgezogen worden seien, fehle es an einer Beitragszeit. Denn auch im Bundesgebiet würden, wenn Beiträge trotz des Fehlens eines Beschäftigungsverhältnisses und trotz fehlender Versicherungspflicht entrichtet würden, keine wirksamen Beitragszeiten begründet. Wenn in der DDR die aus dem besonderen Gewaltverhältnis entspringende Gefangenenvergütung für einen Arbeitseinsatz während der Strafzeit wie Lohn berechnet werde, dh Abzüge vorgenommen würden, die den Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen entsprächen, so dürfte das einmal darauf beruhen, daß die Gefangenen als Arbeitsbelohnung netto keinesfalls mehr erhalten sollten als ein freier Arbeitnehmer. Im übrigen bleibe es der Gefängnisverwaltung unbenommen, die Einnahmen aufgrund der Gefangenenarbeit und die damit im Zusammenhang stehenden Ausgaben haushaltsmäßig wie Lohn zu behandeln, um zB die Wirtschaftlichkeit der Gefangenenarbeit besser kontrollieren und mit anderen staatlichen Unternehmen vergleichen zu können. Ebenso mache die Abrechnung der Arbeitsvergütung mit den Gefangenen in Anlehnung an die lohnrechtlichen Bestimmungen diese nicht zu Entgelt, das Sozialversicherungspflicht auslöse. Das bedeute, daß die fiktiven Sozialversicherungsbeiträge nicht zu tatsächlichen Beiträgen würden. Daß Sozialversicherungsbeiträge an die Sozialversicherungsträger abgeführt worden seien, habe das LSG aber gerade nicht feststellen können.
Die Beigeladene beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig, jedoch unbegründet. Die Entscheidung des LSG, die Zeit vom 1. Juli 1954 bis 1. Juni 1956 sei nicht als Beitragszeit anzurechnen, ist rechtlich nicht zu beanstanden.
Nach §§ 15, 17 Abs 1a FRG stehen Beitragszeiten, die nach dem 30. Juni 1945 bei einem außerhalb des Geltungsbereichs des FRG befindlichen Träger zurückgelegt worden sind, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich. Da der Verlust von Zeiten entschädigt werden soll, die nach fremdem Recht eine Anwartschaft begründet und nicht nur erhalten haben, ist es auch für die Anwendung des § 15 FRG entscheidend, ob nach fremdem Recht Beitragszeiten vorliegen (BSG, Breithaupt 1978, 446, 451). Beitragszeit iS des § 15 Abs 1 FRG ist jede auf Versicherungspflicht beruhende Zugehörigkeit zu einer Versicherungseinrichtung, die den Anforderungen des § 15 Abs 2 Satz 1 FRG genügt und durch die ein irgendwie geartetes Beitragssystem finanziert wird (BSG, SozR Nr 16 zu § 15 FRG), dh jedes Beitragen zur finanziellen Deckung eines gesetzlichen sozialen Sicherungssystems, das dem Erwerb eines Rentenanspruchs dient (BSG Urteil vom 15. Dezember 1972, 5 RKn 3/71; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd I/2 S 296m IV). Da durch § 15 FRG der Verlust einer anwartschaftsbegründenden fremden Zeit entschädigt werden soll, scheidet es auch aus, daß diese durch innerstaatliches Recht erst fingiert wird. Deshalb kann es hier auch dahinstehen, ob § 1397 Abs 6 RVO überhaupt anzuwenden wäre, wenn der gleiche Fall, wie er vom Kläger behauptet wird, sich in der Bundesrepublik zugetragen hätte, nämlich daß eine staatliche Gefängnisverwaltung vom Lohn der Gefangenen Beträge abzog - ohne sie abzuführen -, die der Höhe nach den nicht geschuldeten Sozialversicherungsbeiträgen entsprechen. Auf jeden Fall kann aus § 1397 Abs 6 RVO nicht hergeleitet werden, daß außerhalb der Bundesrepublik, also dort, wo § 1397 Abs 6 RVO nicht gilt, Beitragszeiten bestehen, die dann wieder über § 15 FRG in der Bundesrepublik zu berücksichtigen sind. Daß die Beträge, die dem Kläger abgezogen wurden, von der Gefängnisverwaltung der DDR an den Sozialversicherungsträger weitergeleitet worden seien, ist vom LSG gerade nicht festgestellt worden. Es geht vielmehr, ebenso wie der Kläger, davon aus, daß der Sozialversicherungsträger der DDR Beiträge des Klägers in der streitigen Zeit nicht entgegengenommen hat und läßt es dahingestellt, ob die Gefängnisverwaltung entsprechende Teile des Lohnes einbehalten hat.
Der Kläger war als Gefangener nach dem 1. Juli 1954 in der DDR nicht versicherungspflichtig und versicherungsfähig. Diese rechtliche Feststellung des LSG ist in der Revisionsinstanz nicht nachprüfbar, da es sich beim Recht der DDR nicht um Bundesrecht oder sonstiges im Bereich des Berufungsgerichts geltendes oder über den Bereich des Berufungsgerichts hinausreichendes Recht, also nicht um revisibles Recht handelt. Insoweit sind die rechtlichen Wertungen des LSG für das Revisionsgericht bindend (§ 162 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-, § 202 SGG iVm § 562 der Zivilprozeßordnung -ZPO-; BSG SozR 5050 § 15 Nr 7).
Auf die vom Kläger aufgeworfene Frage, ob fremde Beitragszeiten nach § 15 FRG unabhängig davon berücksichtigt werden müssen, ob sie nach fremdem oder innerstaatlichem Recht anrechenbar sind (vgl BSG SozR Nr 19 zu § 15 FRG; Brackmann Bd I S 294 l) kommt es im vorliegenden Fall deshalb nicht an, weil das LSG in tatsächlicher Hinsicht davon ausgeht, daß Beiträge an den Versicherungsträger nicht abgeführt worden sind, so daß eine Beitragszeit gar nicht vorliegt.
Zu Recht hat das LSG auch ausgeführt, daß bloße anwartschaftserhaltende Zahlungen, die von der Volkspolizei für den Kläger entrichtet worden sind, keine Beiträge waren und auch keine Beitragszeiten begründeten (Hoernigk/Jahn/Wickenhagen, Fremdrentengesetz, Kommentar 1978, § 15 RnNr 2, S 163; Haensel/Lippert, Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz, vormals Merkle/Michel, Stand Dezember 1973, § 15 FRG, S 252/6). Solche Anwartschaftsgebühren dienen lediglich der Erhaltung der Anwartschaft und begründen keine weiteren darüber hinausgehenden Rechte an die Versicherung. Sie erhalten zwar die erworbenen Rechte aus Beitragszeiten, begründen aber keine Ansprüche und auch nicht die Zugehörigkeit zum Versicherungssystem (vgl BSGE 3, 86: keine Gleichstellung von Beitragszahlung und Zahlung von Anerkenntnisgebühren).
Wie die Beigeladene zu Recht ausgeführt hat, ist der Sachverhalt, für den der Kläger Entschädigung begehrt, vom Gesetzgeber nicht übersehen worden. In Fällen wie denen des Klägers bietet die Ersatzzeitenregelung (§ 1251 Abs 1 Nr 5 RVO; § 28 Abs 1 Nr 5 AVG) dem Versicherten bereits hinreichenden Schutz.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen