Orientierungssatz
1. Bei der Beurteilung materiell-rechtlicher Ansprüche muß dasjenige Gesetz Anwendung finden, unter dessen zeitlicher Geltung die Voraussetzungen für die Entstehung des Anspruchs verwirklicht worden sind.
2. Die Auffassung, ein Antrag sei bis zur endgültigen Entscheidung in jedem Zeitpunkt als neu gestellt anzusehen und daher auch nach Eintritt einer Rechtsänderung nach dem zur Zeit der Entscheidung geltendem Recht zu beurteilen, trifft nicht zu.
3. Der Anspruch auf Heiratsabfindung nach § 44 BVG alte Fassung ist daher nicht begründet, wenn im Zeitpunkt der Wiederverheiratung die Witwenrente noch nicht beantragt oder festgestellt war und auch nicht mehr festgestellt werden kann (Anschluß an BSG vom 1955-08-24 9 RV 184/55).
Normenkette
BVG § 44 Fassung: 1950-12-20, § 44 Fassung: 1953-08-07; KOVG BE 1951 Art. 4 Abs. 3 S. 2; BVG § 61 Abs. 2
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 22.06.1954) |
Tenor
Unter Aufhebung der Urteile des Landessozialgerichts Berlin vom 22. Oktober 1954 und des Sozialgerichts Berlin vom 22. Juni 1954 wird die Klage abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin war in erster Ehe mit ... verheiratet, der als Soldat am 16. August 1944 in einem Kriegslazarett gestorben ist. Die Klägerin, die bis dahin in ... gewohnt hat, ging am 17. Februar 1951 in ... eine zweite Ehe mit ... ein. Am 20. Februar 1951 ist ihr die Zuzugsgenehmigung nach ... erteilt worden.
Am. 27. September 1951 beantragte die Klägerin die Gewährung einer Heiratsabfindung auf Grund des § 44 Bundesversorgungsgesetz (BVG). Das Versorgungsamt ... hat durch Bescheid vom 14. Juli 1952 den Antrag abgelehnt, da sie im Zeitpunkt ihrer Wiederverheiratung keinen Anspruch auf Witwenrente (§ 38 BVG) gehabt habe. Sie hätte die Rente noch am 23. Juli 1951 - drei Monate nach der Verkündung des BVG in ... - beantragen können, aber diese Frist sei versäumt.
Das Landesversorgungsamt ... hat durch Entscheidung vom 3. März 1953 den Einspruch der Klägerin zurückgewiesen, da der neue Anspruch nach dem BVG verspätet angemeldet worden sei. Überdies habe der Anspruch auf Heiratsabfindung gemäß § 44 BVG einen angemeldeten Witwenrentenanspruch zur Voraussetzung.
Auf die von der Klägerin hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Berlin durch Urteil vom 22. Juni 1954 die vorangegangenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin die gesetzliche Witwenabfindung in Höhe von DM 1200,- zu zahlen. Das Sozialgericht hat seine Entscheidung damit begründet, daß die Klägerin Witwe eines im Kriege verstorbenen Soldaten gewesen sei und sich im Zeitpunkt der Wiederverheiratung befugt in ... aufgehalten habe. Richtig sei, daß sie den Anspruch nicht innerhalb der Frist, die nach Art. 4 Abs. 3 Satz 2 des Gesetzes über die Versorgung der Opfer des Krieges vom 12. April 1951 (GVOBl. für Berlin, S. 317) am 23. Juli 1951 endete, geltend gemacht habe. Hierauf könne es aber nicht ankommen, denn diese Fristbestimmung lege lediglich den Zeitpunkt des Beginns der Zahlung fest, bestimme aber nicht, daß nach Ablauf dieser Frist ein Anspruch nicht mehr bestehe. Das Gericht halte sich außerdem für verpflichtet, dasjenige Gesetz anzuwenden, welches im Zeitpunkt der Urteilsfindung gelte, also § 44 BVG in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des BVG vom 7. August 1953 (BGBl. Teil I, S. 862).
Gegen dieses Urteil hat der Beklagte am 28. Juli 1954 Berufung eingelegt und Klageabweisung beantragt. Durch Urteil vom 22. Oktober 1954 hat das Landessozialgericht Berlin die Berufung zurückgewiesen. Das Berufungsgericht stimmt im Endergebnis mit dem Sozialgericht überein. In der Begründung führt es aus, daß, solange nicht über einen Antrag endgültig entschieden sei, der Antragsteller diesen aufrecht erhalte, also auch noch nach dem Eintritt der Rechtsänderung. Sofern das neue Recht nicht ausdrücklich erkennen lasse, daß es nur für solche Anträge gelte, die nach seinem Inkrafttreten gestellt sind, finde es auf alle Anträge Anwendung, die im Zeitpunkt seines Inkrafttretens noch nicht erledigt sind. Die Klägerin habe den Anspruch vor Ablauf eines Jahres nach Wiederverheiratung gestellt, an die vorherige Geltendmachung des Rentenanspruchs sei er nicht gebunden.
Gegen dieses am 8. November 1954 zugestellte Urteil, in welchem die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zugelassen wurde, hat der Beklagte am 29. November 1954 Revision eingelegt und beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen. In der Revisionsbegründung, eingegangen am 21. Dezember 1954, wird ausgeführt, daß für die Entscheidung über einen Versorgungsanspruch nach dem BVG die zur Zeit der Geltendmachung des Anspruchs in Kraft befindliche Fassung des Gesetzes maßgebend sei. Danach sei aber ein Anspruch auf Witwenrente nicht entstanden, also auch kein Anspruch auf Heiratsabfindung.
Die Klägerin hat beantragt, die Revision zurückzuweisen. Ihr Vertreter trug den Inhalt der Schriftsätze vom 22. März und 10. August 1955 vor.
Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Sie ist auch sachlich gerechtfertigt.
Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt von der Frage ab, ob der im Jahre 1951 geltend gemachte Anspruch auf Heiratsabfindung nach § 44 BVG in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des BVG vom 7. August 1953 (BGBl. I S. 862) - § 44 neue Fassung - oder nach § 44 in der Fassung vom 20. Dezember 1950 (BGBl. I S. 791) - § 44 alte Fassung - zu beurteilen ist. § 44 BVG neue Fassung bestimmt in den neueingefügten Sätzen 2 und 3: "Der Antrag auf Heiratsabfindung ist innerhalb eines Jahres nach der Wiederverheiratung zulässig. Er ist nicht an die vorherige Geltendmachung eines Rentenanspruchs gebunden".
Die Vorschriften des BVG und seiner Novellen, die auf Grund von ... Übernahmegesetzen in ... inhaltsgleich Anwendung finden, sind im Revisionsverfahren nachprüfbares Recht im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG (vgl. Urteile des Bundessozialgerichts vom 7. Juli 1955 - 10 RV 160/54 - und vom 24. August 1955 - 9 RV 184/55 -).
Nach allgemeinen Grundsätzen muß bei der Beurteilung materiell-rechtlicher Ansprüche dasjenige Gesetz Anwendung finden, unter dessen zeitlicher Geltung die Voraussetzungen für die Entstehung des Anspruchs verwirklicht worden sind. Für die Neufassung des § 44 BVG ergibt sich dies noch besonders daraus, daß der Gesetzgeber im Artikel V des Zweiten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des BVG vom 7. August 1953 das Inkrafttreten der Änderung des § 44 BVG auf den Tag der Verkündung, also den 11. August 1953, festgesetzt hat. Außerdem ist in dem schriftlichen Bericht des Ausschusses des Bundestages für Kriegsopfer- und Kriegsgefangenenfragen als Begründung für die Gesetzesänderung angeführt, daß die Neufassung die Gewährung einer Heiratsabfindung "künftig" auch den Witwen ermöglichen soll, die aus irgendwelchen Gründen einen Antrag auf Heiratsabfindung erst nach der Wiederverheiratung stellen.
Hieraus ergibt sich, daß die Auffassung des Landessozialgerichts, ein Antrag sei bis zur endgültigen Entscheidung in jedem Zeitpunkt als neu gestellt anzusehen und daher auch nach Eintritt einer Rechtsänderung nach dem zur Zeit der Entscheidung geltendem Recht zu beurteilen, nicht zutrifft.
Wesentliche Voraussetzung für den Anspruch auf Heiratsabfindung nach der neuen Fassung des BVG ist aber, daß die Wiederverheiratung in einem Zeitpunkt stattgefunden hat, der es der Berechtigten noch ermöglicht, innerhalb der neu eingeführten Jahresfrist wirksam den Antrag auf Heiratsabfindung zu stellen.
Aus diesen Erwägungen ist der Senat der Auffassung, daß eine Witwe, die sich vor dem 11. August 1952, dem frühesten Beginn der in § 44 Satz 2 in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des BVG vom 7. August 1953 (BGBl. I S. 862) genannten Jahresfrist wiederverheiratet hat, eine Heiratsabfindung nach dem BVG nur auf Grund des § 44 BVG in seiner ursprünglichen Fassung vom 20. Dezember 1950 beanspruchen kann, wie der Senat bereits in seinem Urteil vom 24. August 1955 - 9 RV 184/55 - ausgesprochen hat.
Der Anspruch der Klägerin auf Heiratsabfindung ist daher nach § 44 BVG alte Fassung zu beurteilen, weil sie bereits am 17. Februar 1951 sich wiederverheiratet hat. § 44 BVG alte Fassung entspricht dem § 39 Reichsversorgungsgesetz (RVG) mit dem Unterschied, daß im RVG die Worte "anstelle der Witwenrente", im BVG die Worte "anstelle des Anspruchs auf Witwenrente" gebraucht werden. Wie der Senat in dem oben erwähnten Urteil ausgesprochen hat, war aber nach der Rechtsprechung des Reichsversorgungsgerichts der Begriff "Anspruch auf Witwenrente" dem Begriff "Witwenrente" gleichzusetzen. Die Fassung des § 44 BVG hat nur den in der Rechtsprechung geprägten Ausdruck übernommen (RVGer., Entsch. Slg. Bd. 2 S. 274). Aus der gegenüber § 39 RVG im wesentlichen unveränderten Fassung des § 44 BVG wie auch aus dem Begriff und Zweck einer "Abfindung" ergibt sich, daß die Heiratsabfindung einer versorgungsberechtigten Witwe nicht einen selbständigen, sondern einen von der Witwenrente abhängigen Versorgungsanspruch darstellt, der die Gewährung der Witwenrente voraussetzt. Der Senat hat daher auch im vorliegenden Falle an seiner Rechtsauffassung festgehalten (vgl. Urteil vom 24. August 1955 - Az. 9 RV 184/55 -), daß der Anspruch auf Heiratsabfindung nach § 44 BVG alte Fassung nicht begründet ist, wenn im Zeitpunkt der Wiederverheiratung die Witwenrente noch nicht beantragt oder festgestellt war und auch nicht mehr festgestellt werden kann.
Die Klägerin konnte, nachdem sie sich am 17. Februar 1951 wiederverheiratet hatte, am 27. September 1951 im Hinblick auf § 61 Abs. 2 BVG den Antrag auf Witwenrente nicht mehr mit der Wirkung stellen, daß die Rente noch für den Heiratsmonat zu gewähren war.
Nach alledem ist ihr Anspruch auf Heiratsabfindung unbegründet. Mithin waren die angefochtenen Urteile der Vordergerichte aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen