Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsschein einer öffentlichen Impfempfehlung. Freigabe des Impfstoffes und gutachtliche Äußerung dazu seitens des Bundesgesundheitsamtes. Verursacher- und Nutznießerprinzip im Impfschadensrecht. Zuständigkeit der Zivilgerichte bei Streitigkeiten wegen eines Impfentschädigungsanspruchs nach allgemeinen öffentlich-rechtlichen Aufopferungsgrundsätzen
Leitsatz (redaktionell)
1. Zuständig für einen Impfentschädigungsanspruch nach allgemeinen öffentlich-rechtlichen Aufopferungsgrundsätzen (Art 75 ALR PR) sind die Zivilgerichte.
2. Erweckt der behandelnde Arzt den Eindruck einer bereits bestehenden öffentlichen Impfempfehlung, so wird hierdurch von der zuständigen Gesundheitsbehörde kein der "öffentlichen Empfehlung" gleichzusetzender Rechtsschein erzeugt. Vielmehr erfordert die Schadenersatzpflicht des Staates ein zusätzliches pflichtwidriges Tun oder Unterlassen der zuständigen Verwaltungsstellen. Das kann ua dann zu bejahen sein, wenn die zuständige Behörde das den Rechtsschein verursachende Verhalten der mit Impfungen regelmäßig befaßten Medizinalpersonen kannte oder bei pflichtgemäßer Sorgfalt hätte erkennen und so die Wirkung hätte verhindern können.
Orientierungssatz
1. Die Freigabe eines Impfstoffs durch das Bundesgesundheitsamt ist einer "öffentlichen Empfehlung" iS des § 51 Abs 1 S 1 Nr 3 BSeuchG nicht gleichzusetzen.
2. Zum Rechtsschein einer öffentlichen Impfempfehlung (vgl BSG vom 1980-05-29 9 RVi 3/79 = BSGE 50, 136 = SozR 3850 § 51 Nr 6).
3. Es verstößt nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 GG), daß das BSeuchG den Versorgungsanspruch von der "öffentlichen Empfehlung" abhängig macht.
Zudem ist es dem Gesetzgeber nicht verwehrt, zur Ordnung bestimmter Lebenssachverhalte Stichtage einzuführen; sie müssen allerdings sachlich vertretbar sein (vgl BVerfG 1978-10-10 2 BvL 10/77 = BVerfGE 49, 261, 275).
4. Für einen hilfsweise geltend gemachten allgemeinen öffentlich-rechtlichen Aufopferungsanspruch, der neben den Ansprüchen nach den §§ 51 ff BSeuchG bestehen soll, ist der Rechtsweg zu den Sozialgerichten nicht gegeben.
Normenkette
BSeuchG § 51 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 61 Abs. 2 S. 1; SGG § 51 Abs. 4 Fassung: 1969-07-27, § 52 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03; GG Art. 3 Abs. 1; ALR PR Art. 75
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 11.08.1981; Aktenzeichen L 4 Vi 3/79) |
SG Speyer (Entscheidung vom 28.06.1979; Aktenzeichen S 5 Vi 1/77) |
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Impfentschädigung. Ein Anfallsleiden führt sie auf eine Impfung zurück, die bei ihr 1969 im Alter von 3 1/2 Jahren gegen Masern vorgenommen worden war. Sie verlangt Versorgung nach dem Bundesseuchengesetz (BSeuchG); hilfsweise Entschädigung nach dem Grundsatz des öffentlich-rechtlichen Aufopferungsanspruchs gemäß Art 75 Einleitung zum Preußischen Allgemeinen Landrecht (Einl Pr ALR).
Die Versorgungsverwaltung lehnte den Antrag auf Impfentschädigung ab (Bescheid vom 16. August 1976 und Widerspruchsbescheid vom 15. April 1977).
Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat ua ausgeführt: Das für das Land Rheinland-Pfalz zuständige Ministerium für Soziales, Gesundheit und Sport habe mit Runderlaß vom 20. Juni 1973 (MinBlatt 1973 Spalte 307) die Impfung gegen Masern erst mit Wirkung vom 1. September 1973 an öffentlich empfohlen. Zuvor und insbesondere zur Zeit der Impfung der Klägerin habe eine solche öffentliche Empfehlung nicht bestanden. Die Freigabe des benutzten Impfstoffes im November 1967 durch das Bundesgesundheitsamt sei der öffentlichen Empfehlung nicht gleichzusetzen. Ebensowenig habe die zuständige Behörde nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme den Rechtsschein einer Empfehlung gesetzt. Es fehle an einem dem beklagten Land bzw dessen Behörde oder Amtspersonen zurechenbaren Verhalten. Über den hilfsweise oder subsidiär geltend gemachten Aufopferungsanspruch nach Art 75 Einl Pr ALR sei nicht zu entscheiden. Insoweit seien die Sozialgerichte nicht zuständig. Die Entscheidung darüber obliege den Zivilgerichten. Außerdem verstoße die Ablehnung eines Entschädigungsanspruchs nicht gegen Art 3 Grundgesetz (GG). Der Staat sei nicht verpflichtet, alle Impfschäden abzugelten. Unbilligkeiten, die regelmäßig mit einer Stichtagregelung - wie dem zeitlich fixierten Inkrafttreten eines Gesetzes - vorhanden seien, müßten hingenommen werden.
Die Klägerin hat die - vom LSG zugelassene - Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 51 Abs 1 Ziffer 3 BSeuchG, des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art 3 Abs 1 GG) sowie des Grundsatzes des öffentlich-rechtlichen Aufopferungsanspruchs. Ihre Mutter - so die Klägerin - habe nach Beratung durch die behandelnde Kinderärztin von einer staatlichen Empfehlung ausgehen müssen. Das LSG habe die in dieser Richtung beantragte nochmalige Zeugeneinvernahme unterlassen. Außerdem stehe die behördliche Freigabe des verwendeten Impfstoffes einer öffentlichen Impfempfehlung gleich. Es verstoße auch gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, wenn der Anspruch nach dem BSeuchG allein von der öffentlichen Empfehlung abhängig gemacht werde, obwohl derselbe amtlich freigegebene Impfstoff sowohl davor wie auch danach Verwendung gefunden habe. Ein Rückgriff auf den allgemeinen öffentlich-rechtlichen Aufopferungsanspruch sei nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) zulässig, wenn der spezielle Anspruch nach dem BSeuchG versage.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz und des Sozialgerichts Speyer sowie die angefochtenen Verwaltungsbescheide aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den "cerebralen Leidenszustand" als Impfschaden anzuerkennen und Versorgungsrente ab Antragstellung zu gewähren; hilfsweise, das Berufungsurteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Die Beteiligten sind mit der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet, soweit ein Rechtsanspruch auf Impfentschädigung nach dem BSEuchG in Streit steht. In bezug auf den geltend gemachten Aufopferungsanspruch ist der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nicht gegeben.
Das LSG hat zutreffend einen Rechtsanspruch auf Impfentschädigung verneint. Es hat festgestellt, daß die Masernschutzimpfung nicht aufgrund einer öffentlichen Empfehlung durchgeführt worden war, wie dies § 51 Abs 1 Satz 1 Nr 3 BSeuchG idF des 2. Änderungsgesetzes vom 25. August 1971 -BGBl I 1401- (jetzt idF des Gesetzes vom 18. August 1980 -BGBl I 1469-) fordert. Diese öffentliche Impfempfehlung ist durch das zuständige Landesministerium für Soziales, Gesundheit und Sport (MinBlatt 1973 Spalte 307) erst mit Stichtag ab 1. September 1973 ausgesprochen worden. Dennoch hält die Klägerin die Anspruchsvoraussetzungen nach dem BSeuchG für gegeben. Die Freigabe des Impfstoffes sei der öffentlichen Impfempfehlung gleichzusetzen. Dem ist nicht zu folgen.
Adressat der Freigabe des bei der Klägerin verwendeten Masernimpfstoffes durch das Bundesgesundheitsamt am 3. November 1967 waren einmal der Hersteller und zum anderen Apotheken und Medizinalpersonen, nicht aber jeder Bürger. Die Bedeutung dieser behördlichen Maßnahmen liegt darin, daß damit die Herstellung, der Vertrieb sowie die Verwendung des Impfstoffes erlaubt sind. Zur fraglichen Zeit war Rechtsgrundlage dafür § 19 Abs 3 idF des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes vom 23. Juni 1964 (BGBl I S 365). Danach sollte sichergestellt werden, daß bei der Verwendung von Impfstoffen keine gesundheitlichen Schäden beim Menschen verursacht werden, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen. Der Bundesminister für das Gesundheitswesen ist ermächtigt worden, im Benehmen mit weiteren Bundesbehörden Regelungen für die Herstellung, Aufbewahrung und das Inverkehrbringen sowie für eine staatliche Prüfung zu treffen. Die staatliche Kontrolle des Impfstoffes ist aber unabhängig davon, ob eine öffentliche Impfempfehlung vorgesehen oder zu erwarten ist.
Überdies enthält auch das Gutachten des Bundesgesundheitsamtes keine der Öffentlichkeit gegenüber ausgesprochene Empfehlung, sich gegen Masern impfen zu lassen. Vielmehr befaßt sich die Behörde damit gutachtlich mit dem Für und Wider einer Freigabe. In diesen wissenschaftlichen Erörterungen erschöpft sich das Gutachten, wenn es auch im konkreten Fall den Nutzeffekt der Schutzimpfung herausstellt und die Freigabe befürwortet. Der Inhalt des Gutachtens bestätigt dies, so etwa wenn es darin heißt "die Indikation zur individuellen Masernschutzimpfung soll dem wohlabgewogenen Urteil des Arztes anheimgegeben werden" oder "sie ist keine Angelegenheit des öffentlichen Gesundheitsdienstes". Wenn das Bundesgesundheitsamt dennoch Jahre danach eine öffentliche Empfehlung zur Masernimpfung befürwortete, waren hierfür neuere medizinische Erkenntnisse maßgebend (vgl Bundesgesundheitsblatt 1974, S 292). Aber auch diese Äußerung richtete sich lediglich an die für die öffentliche Impfempfehlung zuständigen Länder und nicht etwa an die Allgemeinheit.
Ebensowenig rechtfertigt es der zu beurteilende Sachverhalt, den geltend gemachten Versorgungsanspruch wegen eines von der zuständigen Behörde hervorgerufenen Rechtsscheins der öffentlichen Impfempfehlung gleichzusetzen. Die in diesem Zusammenhang vorgetragene Rüge der mangelnden Sachaufklärung (§ 103 SGG) greift nicht durch. Nach dem Vortrag der Klägerin sollte die beantragte nochmalige Zeugeneinvernahme den Nachweis erbringen, daß die Kinderärztin bei der Mutter der Klägerin den Eindruck einer bereits bestehenden öffentlichen Impfempfehlung erweckt habe. Allein daraus läßt sich jedoch ein anspruchsbegründender Tatbestand nicht ableiten. Vielmehr erfordert das "Einstehen-müssen" des beklagten Landes ein zusätzliches pflichtwidriges Tun oder Unterlassen der zuständigen Verwaltungsstellen. Das kann nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (BSGE 50, 136 = SozR 3850 § 51 Nr 6) ua dann zu bejahen sein, wenn die zuständige Behörde das den Rechtsschein verursachende Verhalten der mit Impfungen regelmäßig befaßten Medizinalpersonen kannte oder bei pflichtgemäßer Sorgfalt hätte erkennen und sie die Wirkung hätte verhindern können. Keiner dieser letztgenannten Kriterien, die einen Rechtsanspruch auf Versorgung hätten begründen können, hat die Klägerin dargetan (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Folglich hat das LSG den Beweisantrag nicht ohne hinreichende Begründung abgelehnt.
Ferner ist das dem Kläger grundrechtlich garantierte subjektive öffentliche Recht auf Gleichbehandlung (Art 3 Abs 1 GG) nicht verletzt. Das Gesetz knüpft den Versorgungsanspruch nicht schlechthin an die Tatsache einer auf eine Impfung zurückzuführenden Gesundheitsschädigung. Es verlangt vielmehr, daß die Impfung gesetzlich vorgeschrieben oder aufgrund des Gesetzes angeordnet oder von einer Behörde öffentlich empfohlen worden ist. Es hat sich an die Richtlinie gehalten, daß nur derjenige zu entschädigen ist, der genötigt worden ist, durch das Impfenlassen dem Wohl des Gemeinwesens ein Sonderopfer zu bringen (BSG SozR 3850 § 51 Nr 3). Dies setzt voraus, daß das Sonderopfer, das der einzelne Impfgeschädigte erbracht hat, durch Rechtsnormen "abverlangt" oder zumindest "nahegelegt" sein muß (BSG SozR 3850 § 51 Nr 5 mwN). Hingegen genügt es nicht, daß die Impfung auch für das staatliche Gesundheitswesen - wie hier durch eine freiwillige Impfung - bedeutsam sein kann. Damit wird ein dem ersatzpflichtigen Land zurechenbares Verhalten, das den Entschädigungsanspruch auslöst, gerade nicht begründet.
Zudem ist es dem Gesetzgeber nicht verwehrt, zur Ordnung bestimmter Lebenssachverhalte Stichtage einzuführen; sie müssen allerdings sachlich vertretbar sein (BVerfGE 49, 275). So ist es hier. Nach dem Gutachten des Bundesgesundheitsamtes zur Masernschutzimpfung nach dem Stand von 1968 (BGBl 1969, 359) hatten die seinerzeitigen medizinischen Erkenntnisse noch nicht ausgereicht, um kontrollierte oder kontrollierbare Massenimpfungen auf der Grundlage einer öffentlichen Empfehlung vorzunehmen. Einen dahingehenden Vorschlag unterbreitete die "Ständige Impfkommission des Bundesgesundheitsamtes" erst im Februar 1974 (BGBl 1974, 291). Infolgedessen war es nicht sachwidrig, die Masernschutzimpfung erst vom September 1973 an öffentlich nahezulegen.
Soweit die Klägerin hilfsweise einen allgemeinen öffentlichrechtlichen Aufopferungsanspruch geltend macht, der neben den Ansprüchen nach den §§ 51 ff BSeuchG bestehen soll, ist der Rechtsweg zu den Sozialgerichten nicht gegeben. Die zwingenden Prozeßvoraussetzungen, wozu ua die Zulässigkeit des Rechtswegs gehört, ist vom Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen und festzustellen.
§ 61 Abs 2 Satz 1 BSeuchG eröffnet bei "öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten in Angelegenheiten der §§ 51 bis 54 Abs 1 BSeuchG" den Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit (§ 51 Abs 4 SGG). Das 2. Änderungsgesetz vom 25. August 1971 (BGBl I 1401) schränkte damit die in § 40 Abs 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) enthaltene traditionelle Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte bei Aufopferungsansprüchen (BSGE 26, 129, 133) dahin ein, daß nunmehr für die im BSeuchG normierten Ansprüche die Sozialgerichte zuständig sind. Für diese Rechtswegzuweisung waren rechtssystematische Gründe maßgebend. Die Verweisung auf die entsprechende Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) in § 51 Abs 1 BSeuchG ließ es wegen des Sachzusammenhanges angebracht erscheinen, die Entscheidung über Impfschadensfälle den Gerichten zuzuweisen, die für die Angelegenheit nach dem BVG zuständig sind (BT-Drucks VI/1568 S 10 zu § 61). Jedoch blieben von der Zuständigkeit der Sozialgerichte weiterhin ausgenommen die hier im einzelnen nicht interessierenden Streitigkeiten über Entschädigungsansprüche nach den §§ 49 und 57 BSeuchG und über Erstattungsansprüche nach § 49 Abs 4 Satz 2, § 49a Abs 1 Satz 5 und Abs 2 Satz 3 sowie § 49c Satz 1 (§ 61 Abs 1 BSeuchG) sowie in Fällen einer Versorgung, soweit sie nach den entsprechenden Vorschriften der Kriegsopferfürsorge - §§ 25 bis 27e BVG - gewährt wird (§ 61 Abs 3 BSeuchG).
Ob sich bei dieser Rechtslage aus § 61 Abs 2 BSEuchG trotz alledem eine zusätzliche Zuständigkeit ableiten läßt steht dahin. Darüber ist hier nicht zu befinden, zumal die Klägerin von der Möglichkeit eines Antrags auf eine Rechtswegverweisung (§ 52 Abs 3 SGG) keinen Gebrauch gemacht hat. Mithin war der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit für unzulässig zu erklären (§ 52 Abs 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen