Leitsatz (amtlich)
Wird während des Berufungsverfahrens in einem Streit über die Herabsetzung der Unfallrente diese Rente entzogen, so wird auch der Entziehungsbescheid Gegenstand des Berufungsverfahrens. Dies gilt selbst dann, wenn die Berufung gegen den Herabsetzungsbescheid unzulässig ist. Es ist ein wesentlicher Mangel seines Verfahrens, wenn das Landessozialgericht seine Entscheidung auf den Erstbescheid beschränkt und nicht mit über den Zweitbescheid entscheidet.
Normenkette
SGG § 96 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 153 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03; RVO § 608 Fassung: 1924-12-15
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 2. März 1955 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger begehrt die Gewährung einer Unfallrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 40 v.H.. Er erlitt am 12. Dezember 1951 an Bord der "Cläre Hugo Stinnes" einen Arbeitsunfall. Die Beklagte erkannte als dessen Folgen einen Bruch des zweiten Lendenwirbels, eine Kopfwunde und eine Gehirnerschütterung an. Sie gewährte, abgesehen von der Heilbehandlung, zunächst die Vollrente und vom 2. August 1952 an eine vorläufige Teilrente von 40 v.H. der Vollrente (Bescheid vom 29. August 1952). Mit Wirkung vom 1. Juni 1953 an setzte die Beklagte diese Rente auf eine vorläufige Teilrente nach einer MdE. von 30 v.H. herab (Bescheid vom 27. April 1953). Das Sozialgericht Schleswig, auf welches das Verfahren von dem zunächst vom Kläger angerufenen Oberversicherungsamt Schleswig übergegangen war, hob diesen Bescheid auf und verurteilte die Beklagte, dem Kläger vom 1. Juni 1953 an eine Unfallrente nach einer MdE. von 40 v.H. als Dauerrente zu gewähren (Urteil vom 23. September 1954). Bei der Festsetzung der MdE. wich es sowohl von den Schätzungen der Vorgutachter als auch von der Schätzung des zur Sitzung herangezogenen Internisten, der eine MdE. von 20 v.H. angenommen hatte, ab. Am Schluß der Urteilsschrift nach der Schlußformel "Es war demnach, wie geschehen, zu entscheiden" und nach der Stellungnahme zur Kostenfrage heißt es: "Gegen dieses Urteil ist binnen eines Monats nach Zustellung das Rechtsmittel der Berufung an das Landessozialgericht Schleswig zulässig".
Die Beklagte legte gegen dieses Urteil Berufung beim Landessozialgericht Schleswig ein. Sie ist der Ansicht, das Sozialgericht habe dadurch, daß es entgegen der Meinung der Gutachter, ohne ein Obergutachten einzuholen, eine eigene Schätzung des Grades der MdE. vornahm, die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung überschritten.
Während des Berufungsverfahrens entzog die Beklagte die Rente mit Ablauf des Monats November 1954 (Bescheid vom 27. Oktober 1954). Sie reichte dem Landessozialgericht eine Abschrift dieses Bescheides ein.
Das Landessozialgericht verwarf die Berufung als unzulässig (Urteil vom 2. März 1955): Der Rechtsstreit betreffe nur den Grad der MdE., deshalb sei die Berufung ausgeschlossen. Darin, daß das Sozialgericht den Grad der MdE. anders als die ärztlichen Sachverständigen bewertet habe, liege keine fehlerhafte Beweiswürdigung und damit auch kein wesentlicher Mangel des Verfahrens. Die Schätzungen der Ärzte gäben dem Gericht wohl wertvolle Hinweise, doch seien sie nicht bindend. Die Befunde in den Gutachten seien klar genug, um dem Gericht eine eigene Schätzung der MdE. zu ermöglichen. Eines Obergutachtens hätte es deshalb nicht bedurft. Der Entziehungsbescheid vom 27. Oktober 1954 sei nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden, weil er keinen anderen Bescheid ändere oder ersetze. Die Festsetzung der Dauerrente nach einer MdE. von 40 v.H. sei durch das Urteil des Sozialgerichts erfolgt.
Das Landessozialgericht ließ die Revision nicht zu. Sein Urteil wurde der Beklagten am 18. April 1955 zugestellt. Sie legte dagegen am 6. Mai 1955 Revision ein und begründete sie gleichzeitig. Sie hat in der mündlichen Verhandlung beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen: Die Revision sei statthaft, weil das Berufungsgericht zweifach gegen wesentliche Verfahrensvorschriften verstoßen habe. Das Landessozialgericht hätte ihren Entziehungsbescheid in das Berufungsverfahren einbeziehen und darüber mit entscheiden müssen (Verstoß gegen §§ 153, 96 SGG). Außerdem habe das Sozialgericht am Schluß seines Urteils die Berufung zugelassen. Das Landessozialgericht hätte sie deshalb nicht als unzulässig verwerfen dürfen (Verstoß gegen § 150 Nr. 1 SGG). Die Revision sei auch begründet. Sowohl der Herabsetzungs- als auch der Entziehungsbescheid seien zu Recht ergangen.
Der Kläger hat beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Während des Revisionsverfahrens erließ die Beklagte vorsorglich einen weiteren Entziehungsbescheid (Bescheid vom 13. Juni 1955) und reichte dem Bundessozialgericht eine Durchschrift ein.
Die Revision ist statthaft, weil ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt worden ist und auch vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG. Bd. 1 S. 150). Das Berufungsgericht hätte den Rentenentziehungsbescheid mit in sein Verfahren und seine Entscheidung einbeziehen müssen.
Wird nach der Klageerhebung der Bescheid durch einen neuen geändert oder ersetzt, so wird auch der neue Bescheid Gegenstand des Verfahrens (§ 96 Abs. 1 SGG). Diese im Unterabschnitt über das Verfahren im ersten Rechtszug stehende Vorschrift gilt entsprechend auch für das Berufungsverfahren. Das folgt aus ihrer uneingeschränkten Übernahme in die für das Berufungsverfahren anwendbaren Vorschriften (§ 153 Abs. 1 SGG; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 4. Auflage, S. 242 s). Diese Ansicht wird dadurch bestätigt, daß für das Revisionsverfahren der Fall eines Zweitbescheids eine eigene Regelung gefunden hat (§ 171 Abs. 2 SGG). Der Kläger verliert zwar hinsichtlich des Zweitbescheids, der während des Berufungsverfahrens ergeht, zu Gunsten der Prozeßwirtschaftlichkeit das Vorverfahren und die erste Instanz, doch bestehen dagegen keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Die gerichtliche Nachprüfung des Zweitbescheids ist auch bei dieser Regelung gewährleistet (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz). Das Prinzip des Rechtsstaats gebietet es nicht, daß der Rechtsweg einen Instanzenzug haben muß (BVerfG. Bd. 4 S. 74).
Voraussetzungen für die Rechtsfolge aus § 96 SGG sind, daß gegen den Erstbescheid Klage erhoben - oder bei der entsprechenden Anwendung dieser Vorschrift im Berufungsverfahren, daß Berufung gegen das im Streit um den Erstbescheid erlassene Urteil des Sozialgerichts eingelegt - ist, daß der Rechtsstreit, wenn der Zweitbescheid ergeht, noch rechtshängig ist und schließlich, daß der neue Bescheid den zunächst angefochtenen Bescheid ändert oder ersetzt. Diese Voraussetzungen sind gegeben.
Die Berufung des Klägers gegen den Herabsetzungsbescheid ist vom Oberversicherungsamt Schleswig als Klage auf das Sozialgericht Schleswig übergegangen (§ 215 Abs. 2 und 4 SGG).
Die Beklagte hat gegen das Urteil des Sozialgerichts Berufung eingelegt. Beim Erlaß des Entziehungsbescheids lag noch keine rechtskräftige Entscheidung über den Herabsetzungsbescheid vor. Das Verfahren schwebte noch. Es ist nicht erforderlich, daß die Berufung wegen des zunächst angefochtenen Bescheids - für sich allein genommen - statthaft ist. Auch unzulässige Klagen und Berufungen begründen die Rechtshängigkeit. Entscheidend ist es in diesem Zusammenhang nur, daß der Anspruch rechtshängig geworden ist und die Rechtshängigkeit noch fortbestand (Brackmann a.a.O., S. 242 r; LSG. Baden-Württemberg in Breithaupt 1955 S. 318; LSG. Schleswig in Breithaupt 1955 S. 432; Wilde in ZfS. 1954 S. 141). Der neue Bescheid ändert auch den voraufgegangenen Bescheid. Der Entziehungsbescheid läßt das Anerkenntnis des Unfalls als Arbeitsunfall bestehen und bejaht weiterhin den Zusammenhang bestimmter Gesundheitsstörungen mit dem Arbeitsunfall, ändert aber die Bewertung der Einbuße der Erwerbsfähigkeit. Er ist gegenüber dem Herabsetzungsbescheid ein Änderungsbescheid im Sinne von § 96 SGG.
Beim Vorliegen dieser Voraussetzungen ist der Entziehungsbescheid kraft Gesetzes Gegenstand des Verfahrens geworden. Es bedurfte dazu weder einer Klageerhebung wegen dieses Bescheids noch der Einlegung eines Rechtsmittels. Das Landessozialgericht war deshalb verpflichtet, über den Entziehungsbescheid mit zu entscheiden. Es hätte von sich aus auf eine Ergänzung der Anträge der Beteiligten, die der neuen Sachlage entsprachen, hinwirken müssen (§§ 153, 106 SGG). Die Beschränkung auf eine Entscheidung nur über den Herabsetzungsbescheid war fehlerhaft. Das Verfahren des Landessozialgerichts leidet wegen der Nichtbeachtung des § 96 SGG an einem wesentlichen Mangel (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Dieses Ergebnis entspricht der Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamts, das die Entziehung der Rente als eine Neufeststellung ansah und deshalb einen Entziehungsbescheid im Rahmen des § 1608 RVO, dem Vorläufer des § 96 SGG, mit in das Verfahren einbezog (AN. 1916 S. 721).
Die Ansicht des Landessozialgerichts, der Entziehungsbescheid sei nicht Gegenstand des Verfahrens geworden, trifft nicht zu. Die Einbeziehung des späteren Bescheids in das schwebende Verfahren wegen eines früheren Bescheids erfolgt kraft Gesetzes, und die Voraussetzungen dafür lagen, wie bereits ausgeführt wurde, zur Zeit der Urteilsfällung vor. Entgegen der Meinung des Landessozialgerichts ist es in diesem Zusammenhang nicht bedeutsam, daß zwischen den beiden Bescheiden das Urteil des Sozialgerichts liegt. Über den Erstbescheid lag trotz dieses Urteils noch keine rechtskräftige Entscheidung vor. Die Einbeziehung des Zweitbescheids in den Rechtsstreit erfolgt auch im Berufungsverfahren (§§ 153, 96 SGG), so daß, falls der spätere Bescheid erst während dieses Prozeßabschnitts ergeht, stets eine - nicht rechtskräftige - Entscheidung des Sozialgerichts zwischen den Bescheiden liegt.
Aus diesen Erwägungen ist die Revision statthaft und damit, weil die sonstigen Formerfordernisse (§§ 164, 166 SGG) beachtet worden sind, zulässig. Eines Eingehens auf die weitere Verfahrensrüge der Beklagten, das Landessozialgericht hätte auch deswegen zu einem Sachurteil kommen müssen, weil das Sozialgericht die Berufung zugelassen habe, bedarf es deshalb nicht. Es kann dahingestellt bleiben, ob in der vom Sozialgericht gewählten Fassung der Urteilsschrift eine Zulassung der Berufung liegt (vgl. dazu BSG. "Sozialrecht" zu § 150 SGG, Bl. Da 3 Nr. 10).
Die Revision ist auch begründet (§ 162 Abs. 2 SGG). Das Urteil des Landessozialgerichts beruht auf der Verletzung der genannten Verfahrensvorschrift (§§ 153, 96 SGG). Das Landessozialgericht hätte seine Prüfung und seine Entscheidung auf den Entziehungsbescheid erstrecken müssen.
Das Bundessozialgericht mußte deshalb das Urteil des Vordergerichts aufheben. Es konnte jedoch in der Sache selbst nicht entscheiden, weil bisher keine Tatsachenfeststellung getroffen worden ist. Der Rechtsstreit war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG). Dabei wird das Berufungsgericht auch zu der Frage Stellung nehmen müssen, wie bei der Verbindung einer - für sich allein genommenen - unzulässigen Berufung mit einem zulässigerweise sofort vor das Berufungsgericht gebrachten Zweitbescheid zu entscheiden ist (vgl. dazu für den Fall der Verbindung einer unzulässigen Berufung mit einer zulässigen: Brackmann a.a.O., S. 250 d; Wilde in NJW. 1956 S. 448; Peters-Sautter-Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, Stand 1956, § 143 SGG, Anm. 4).
Die Kostenentscheidung bleibt auch hinsichtlich der Kosten des Revisionsverfahrens dem Urteil des Landessozialgerichts überlassen.
Fundstellen