Leitsatz (amtlich)
Für den Begriff der "Verursachung" iS des BVG § 5 Abs 2 Buchst a ist die im Recht der Kriegsopferversorgung geltende Kausalitätsnorm maßgebend; es kommt daher weder auf die Widerrechtlichkeit der schädigenden Handlung noch auf ein Verschulden des Besatzungsangehörigen an.
Normenkette
BVG § 5 Abs. 2 Buchst. a
Tenor
Auf die Revision der Kläger werden das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 15. Mai 1959, das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 17. Januar 1957, der Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts Baden-Württemberg vom 29. April 1955 und der Bescheid des Versorgungsamts S. vom 9. Juni 1954 aufgehoben.
Der Beklagte wird verurteilt, den Klägern Hinterbliebenenrente vom 1. September 1952 an zu gewähren.
Der Beklagte hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Ehemann und Vater der Kläger, der Buchvertreter K R (R.), starb am 10. Juli 1945 an den Folgen eines Verkehrsunfalles. Er wohnte mit seiner Familie in H, das die amerikanische Besatzungsmacht kurz vor dem Unfall an die russische Besatzungsmacht übergeben hatte. R. versuchte damals, sich eine Existenz als Buchhändler zu gründen. Er war häufig mit Kraftfahrzeugen unterwegs und wurde dabei auch für das Landratsamt H tätig.
Am Unfalltag fuhr er mit seinem Motorrad in den südlichen Teil des Kreises H, stellte sein Motorrad in S ab und wurde einige Zeit später mit einem russischen Offizier gesehen, der ihn auf einem Motorrad mitnahm. Der Russe fuhr am Ortsausgang von S mit dem Motorrad gegen einen Randstein, beide stürzten, R. erlitt einen Schädelbasisbruch und starb noch an demselben Tage im Kreiskrankenhaus H.
Die Kläger beantragten am 1. September 1952 Hinterbliebenenversorgung, die das Versorgungsamt S. mit Bescheid vom 9. Juni 1954 ablehnte, weil R. bei einem nichtgeklärten Verkehrsunfall verunglückt sei. Das Landesversorgungsamt Baden-Württemberg wies den Widerspruch durch Bescheid vom 29. April 1955 mit der Begründung zurück, daß eine Verhaftung des R. nicht nachgewiesen werden könne.
Auch das Sozialgericht (SG) Stuttgart hat die Klage durch Urteil vom 17. Januar 1957 abgewiesen, da eine Verhaftung nicht anzunehmen sei, zumal R. offenbar in gutem Einvernehmen mit den Besatzungsdienststellen gestanden habe. Außerdem hätten die Russen einen Verhafteten nicht auf dem Soziussitz eines Motorrades abtransportiert.
Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat die Berufung der Kläger durch Urteil vom 15. Mai 1959 zurückgewiesen; es hat die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, der schädigende Vorgang sei nicht infolge einer besonderen Gefahr eingetreten, die mit der militärischen Besetzung deutschen Gebietes zusammenhing (§ 5 Abs. 1 Buchst. d des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -); denn es lasse sich nicht nachweisen, daß R. unfreiwillig mitgefahren sei. Die Umstände sprächen eher für das Gegenteil, da R. den deutschen und sowjetischen Dienststellen gut bekannt gewesen sei und die notwendigen Ausweispapiere besessen habe, um sich in einem größeren Bezirk frei bewegen zu können, während die übrige Bevölkerung damals noch strengen Verkehrsbeschränkungen unterworfen war. Ferner hätten die Russen einen Verhafteten nicht auf dem Soziussitz abtransportiert, weil der Verhaftete den Fahrer vor sich gehabt hätte, ihn hätte unschädlich machen und fliehen können. Auch § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG rechtfertige den Versorgungsanspruch nicht. Es sei nicht nachgewiesen, daß das Unglück von einem Besatzungsangehörigen verursacht, nämlich widerrechtlich und schuldhaft herbeigeführt worden sei. Außerdem sei der Haftungsausschluß in § 8 a des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) zu berücksichtigen.
Gegen das am 12. Juni 1959 zugestellte Urteil des LSG haben die Kläger am 16. Juni 1959 Revision eingelegt und beantragt,
das angefochtene Urteil, das Urteil des SG Stuttgart vom 17. Januar 1957 sowie die Bescheide des Beklagten vom 9. Juni 1954 und 29. April 1955 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den Klägern vom 1. September 1952 ab Hinterbliebenenrente zu gewähren,
hilfsweise, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 12. September 1959 haben die Kläger die Revision am 11. September 1959 begründet und gerügt, das Berufungsgericht habe § 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sowie § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG und insbesondere § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG verletzt. Sie meinen, der Begriff des Verursachens im BVG erfordere nicht den Nachweis eines Verschuldens, der gerade in der turbulenten Zeit vor dem 1. August 1945 kaum erbracht werden könne. Im einzelnen wird auf die Revisionsbegründung der Kläger Bezug genommen.
Der Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend; er beantragt,
die Revision gegen das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 15. Mai 1959 als unbegründet zurückzuweisen.
Die frist- und formgerecht eingelegte und begründete Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG); sie ist auch begründet.
Die Kläger haben nach § 38 Abs. 1 BVG Anspruch auf Hinterbliebenenrente, weil ihr Ehemann und Vater an den Folgen einer Schädigung i. S. des § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG i. V. m. § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG gestorben ist. Nach dieser Vorschrift gelten als nachträgliche Auswirkung kriegerischer Vorgänge auch Schäden, die in Verbindung mit dem zweiten Weltkrieg durch Angehörige der Besatzungsmächte vor dem Tage verursacht worden sind, von dem an Leistungen nach anderen Vorschriften gewährt werden. Der Unfall, den R. erlitten hat, ereignete sich am 10. Juli 1945, also vor dem Tage, von dem an für Schädigungen durch Angehörige der Besatzungsmächte im Gebiet der Bundesrepublik oder in Berlin Leistungen nach anderen Vorschriften gewährt werden (Art. 1 und 4 des Gesetzes Nr. 47 - Entschädigungsgesetz der Alliierten Hohen Kommission vom 8. Februar 1951 -, Amtsbl. der Alliierten Hohen Kommission für Deutschland, 1951, 767; Art. 1 der VO Nr. 508 der Kommandanten des amerikanischen, britischen und französischen Sektors von Berlin - GVBl für Berlin, 1951, 403; § 2 des Bundesgesetzes über die Abgeltung von Besatzungsschäden vom 1. Dezember 1955 - BGBl I 734).
Der Ansicht des LSG, der 31. Juli 1945 sei auch für die in der sowjetischen Besatzungszone erlittenen Schäden der maßgebliche Stichtag, kann jedoch nicht beigepflichtet werden, da Vorschriften über die Abgeltung von Besatzungsschäden in Thüringen weder von den westlichen Besatzungsmächten noch von der Bundesrepublik oder von der sowjetischen Besatzungsmacht und den deutschen Behörden in der sowjetischen Besatzungszone erlassen worden sind (vgl. auch SBZ = Archiv 1959, 248; ferner Hartnick/Schmack, Das Sozialversicherungsrecht, 2. Aufl., 1955 S. 171 ff). Für Besatzungsschäden in Thüringen gilt daher § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG auch über den 1. August 1945 hinaus (BSG 1, 98, 102), allerdings mit der Einschränkung, daß die Schadenszufügung in Verbindung mit dem zweiten Weltkrieg stehen muß. Das trifft für den Unfall des R. zu, da er sich nur 2 Monate nach Beginn des Waffenstillstands ereignete und Thüringen erst kurze Zeit vor dem Unfall von amerikanischen Truppen geräumt und durch sowjetische Truppen besetzt worden war.
Der Unfall des R. ist auch i. S. des § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG durch einen Angehörigen der Besatzungsmacht verursacht worden; denn es kommt - entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts - nicht darauf an, ob der Besatzungsangehörige widerrechtlich und schuldhaft gehandelt hat. Dem LSG kann insbesondere nicht beigetreten werden, wenn es den Begriff der Verursachung in dieser Vorschrift im Hinblick auf § 4 des Bundesgesetzes über die Abgeltung von Besatzungsschäden i. S. eines Verschuldens des Besatzungsangehörigen auszulegen versucht. Es ist zwar richtig, daß das BVG eine Definition des Begriffs der Verursachung nicht enthält und daß deshalb eine Auslegung erfolgen muß (BSG 1, 72, 75/76; 6, 192, 193; vgl. auch BSG 13, 175, 176). Diese Auslegung ist aber bei § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG nicht anders vorzunehmen als bei § 5 Abs. 1 BVG, nämlich nach den Grundsätzen, die das Bundessozialgericht (BSG) in ständiger Rechtsprechung (BSG 1, 72, 150, 268) vom Reichsversicherungsamt und Reichsversorgungsgericht zum Begriff der Ursächlichkeit übernommen hat.
Danach sind als Ursache oder Mitursache diejenigen Bedingungen unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Widerrechtlichkeit und Verschulden, die nach § 4 des Besatzungsschäden-Abgeltungsgesetzes und nach § 823 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) Anspruchsvoraussetzungen sind, scheiden im übrigen bei § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG auch deshalb aus, weil das BVG die Verursachung durch Angehörige der Besatzungsmächte ebenso behandelt wie die Verursachung durch Verkehrsmittel, bei denen man von Schuld nicht sprechen kann. Jedenfalls sind Widerrechtlichkeit und Verschulden kein Maßstab für die "Verursachung" i. S. des Rechts der Kriegsopferversorgung. Die Widerrechtlichkeit würde gerade die Kriegsopfer von der Versorgung ausschließen, die in kriegstypischer Weise verletzt oder getötet worden sind, da die Verletzung oder Tötung häufig nach Kriegsrecht gerechtfertigt wäre. Hiernach kommt es bei Anwendung der im Recht der Kriegsopferversorgung geltenden Kausalitätsnorm auch im Rahmen des § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG nicht auf ein Verschulden des Täters an (vgl. BSG in SozR BVG § 1 Bl. Ca 29 Nr. 58; vgl. auch BVerwG 12, 307, 308). Das LSG hätte daher den von den Klägern geltend gemachten Anspruch nicht daran scheitern lassen dürfen, daß eine Schuld des russischen Offiziers nicht nachgewiesen werden kann, sondern hätte prüfen müssen, ob der russische Offizier den Unfall i. S. der Rechtsprechung zur Kausalität in der Kriegsopferversorgung verursacht hat.
Bei Anwendung der Kausalitätsnorm ist zunächst davon auszugehen, daß der russische Offizier eine Bedingung für den Unfall gesetzt hat, ohne daß die näheren Umstände des Unfalls bekannt zu sein brauchen; denn er hat das Motorrad geführt, auf dem R. saß. Das hat auch das Berufungsgericht festgestellt und das Revisionsgericht ist an diese Feststellung gebunden (§ 163 SGG). Andere Umstände, die als Bedingungen für den eingetretenen Erfolg - Unfalltod des Ehemanns und Vaters der Kläger - in Betracht kommen könnten, sind nicht festgestellt. Das LSG hat vielmehr ausdrücklich dargelegt, daß nähere Einzelheiten über das Zustandekommen des Unfalls unbekannt sind. Insbesondere konnte das LSG keine Tatsachen feststellen, nach denen das eigene Verhalten des R. oder etwaige andere Umstände zum Eintritt des Erfolges (Unfalltod) beigetragen haben. Mithin hat der russische Offizier die einzige bekannte Bedingung gesetzt, die zu dem Unfall geführt hat und die daher als wesentliche Ursache i. S. der Kausalitätsnorm anzusehen ist. Das Nichtbekanntsein weiterer Einzelheiten müssen nicht die Kläger gegen sich gelten lassen; vielmehr geht dies zu Lasten des Beklagten, da die Nichterweislichkeit einer anderen, nicht eine unmittelbare Kriegseinwirkung i. S. des § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG darstellenden Ursache für den Unfalltod dem Prozeßbeteiligten zuzurechnen ist, der sich auf diese Ursache als einer sogenannten rechtshindernden Tatsache beruft oder berufen könnte (vgl. auch BSG 7, 249, 254).
Die Schädigung i. S. des § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG braucht auch nicht in einer besatzungstypischen Weise herbeigeführt sein; denn eine solche Einschränkung läßt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Insbesondere läßt sich hierfür nicht - wie der Beklagte meint - der Begriff der "besonderen Gefahr" heranziehen, der in § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG angeführt ist. Da § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG auf § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG Bezug nimmt und nicht auf § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG, läßt sich keine Beziehung zu der "besonderen Gefahr" des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG herstellen.
Der Anspruch der Kläger scheitert endlich auch nicht an § 8 a des StVG vom 19. Dezember 1952 i. d. F. vom 16. Juli 1957 (BGBl I 710). Diese Vorschrift, die bis 1957 in dem Absatz 2 des § 8 StVG enthalten war, ist eine Ausnahme von dem Grundsatz der Gefährdungshaftung im Betrieb von Kraftfahrzeugen. Der Kraftfahrzeughalter haftet ausnahmsweise nicht, wenn eine Person zu Schaden kommt, die im Kraftfahrzeug befördert wurde, sofern die Beförderung nicht entgeltlich und nicht geschäftsmäßig geschah. Die Voraussetzungen dieser Ausnahmevorschrift wären im vorliegenden Falle erfüllt; der russische Offizier hat R. nicht entgeltlich und nicht geschäftsmäßig befördert. Es ist auch richtig, daß die Kriegsopferversorgung gewisse Ähnlichkeiten mit der Gefährdungshaftung aufweist. Aber die Vorschrift des § 8 a StVG kann hier aus zwei Gründen keine Anwendung finden. Es fehlt an einer ausdrücklichen Verweisung, wie sie das Berufungsgericht aus Art. 3 des Gesetzes Nr. 47 (aaO) und aus § 4 Abs. 2 des Besatzungsschäden-Abgeltungsgesetzes entnommen hat. Beide Vorschriften gelten - wie schon oben ausgeführt - nur für Schäden, die nach dem 31. Juli 1945 und im Gebiet der Bundesrepublik entstanden sind. Sie lassen sich auf die Verhältnisse vor dem 1. August 1945 auch nicht entsprechend anwenden, weil es sich damals noch um unmittelbar mit dem Kriegsgeschehen zusammenhängende Zustände handelte, die einer geordneten Verwaltung des besetzten Landes durch die Besatzungsmacht nicht gleichgesetzt werden können. Das Besatzungsschäden-Abgeltungsgesetz geht demnach davon aus, daß vor dem 1. August 1945 verursachte Schäden noch als Kriegsschäden zu werten sind (vgl. Haupt/Mey/Obert, Kommentar zum Gesetz über die Abgeltung von Besatzungsschäden, Anm. 15 zu § 2). Ferner bestehen zwischen dem Entschädigungsgedanken der Kriegsopferversorgung und der Gefährdungshaftung nach dem StVG trotz gewisser Berührungspunkte doch grundsätzliche Unterschiede, die es verbieten, Rechtsgedanken aus der Gefährdungshaftung in die Kriegsopferversorgung zu übernehmen. Die Haftung nach dem StVG trifft den Kraftfahrzeughalter, weil er ein gefahrbringendes Fahrzeug in Betrieb setzte (vgl. Müller, Straßenverkehrsrecht, 21. Aufl., Berlin 1959, § 7 StVG, Vorbemerkung zu B). Dagegen gewährt die Bundesrepublik den Kriegsopfern Versorgung, auch wenn sie die Schädigungen nicht verursacht hat.
Da der Klageanspruch nach § 5 Abs. 2 Buchst. a BVG begründet ist, konnte es dahingestellt bleiben, ob der Anspruch auch nach § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG gerechtfertigt wäre. Die in diesem Zusammenhang erhobene Rüge einer Verletzung des § 128 SGG brauchte daher ebenfalls nicht geprüft zu werden.
Der Senat konnte nach § 170 Abs. 2 Satz 1 SGG in der Sache selbst entscheiden, da die vom LSG getroffenen Feststellungen für die Entscheidung ausreichten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen