Entscheidungsstichwort (Thema)

Anspruch auf Tuberkulose-Heilbehandlung gegen den Rentenversicherungsträger bei Unterbringung in Anstaltspflege

 

Leitsatz (redaktionell)

Hat der Rentenversicherungsträger mit der Gewährung von Tuberkulose-Heilbehandlung begonnen, bevor der Tuberkulosekranke in Anstaltspflege untergebracht wurde, so findet RVO § 1244a Abs 7 S 3 keine Anwendung. In diesem Fall bleibt der Rentenversicherungsträger auch während der Anstaltspflege für die Gewährung stationärer Tuberkulose-Heilbehandlung gemäß BSHG § 135 Abs 1 zuständig.

 

Normenkette

RVO § 1244a Abs. 7 S. 3 Fassung: 1959-07-23; BSHG § 135 Abs. 1 Fassung: 1969-09-18

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. November 1970 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) hatte dem Versicherten, der seit langem an einer Lungentuberkulose erkrankt und wegen dieses Leidens seit 1964 ununterbrochen behandlungsbedürftig war, ein stationäres Heilverfahren gewährt. Der Heilstättenaufenthalt mußte aus disziplinarischen Gründen abgebrochen, der Versicherte auf gerichtliche Anordnung hin in geschlossenen Anstalten untergebracht werden. Daraus wurde er zwar wiederholt zur Pflege in offene Anstalten beurlaubt. Diese Beurlaubungen fanden aber jeweils wegen ordnungswidrigen Verhaltens des Patienten ihr vorzeitiges Ende. Stets hatte die Beklagte die Kosten der Krankenbehandlung getragen. Für die Zeit von der letzten Zwangseinweisung des Versicherten an lehnte die Beklagte die weitere Kostenübernahme mit dem Hinweis darauf ab, daß nach § 1244 a Abs. 7 Satz 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bei einer Zwangsunterbringung der Anspruch auf Heilbehandlung gegen sie entfalle. An dieser Ansicht hielt sie auch fest, als der Versicherte durch das Amtsgericht (AG) abermals in eine offene Heilstätte, und zwar vom 19. Mai 1967 bis 12. Februar 1968 beurlaubt wurde.

Der Träger der Sozialhilfe - Kläger -, zu dessen Lasten die letzten stationären Behandlungen des Versicherten gegangen waren, verlangt von der Beklagten die Erstattung derjenigen Auslagen, die ihm während des letzten Zeitabschnitts in Höhe von 6.819,67 DM entstanden sind.

Seine Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen; das Landessozialgericht (LSG) hat ihr dagegen stattgegeben (Urteil des SG Münster vom 12. Juni 1969; Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 11. November 1970). Die Leistungspflicht der Beklagten ergibt sich für das Berufungsgericht daraus, daß ihre einmal begründete Zuständigkeit bis zum Ende der Heilbehandlung überhaupt und damit auch nach der Zwangsunterbringung des Kranken weiterbestanden habe (§ 135 des Bundessozialhilfegesetzes - BSHG -).

Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt, das Berufungsurteil aufzuheben. Sie meint, der Versicherte sei durch seine Absonderung zum Schutz der Allgemeinheit vor Ansteckung aus dem Verantwortungsbereich des Rentenversicherungsträgers herausgenommen worden. Über Art und Umfang der Krankenversorgung habe der Versicherungsträger danach nicht mehr, wie es § 1244 a Abs. 5 RVO vorsehe - nach seinem Ermessen - befinden können. Auch die sogenannte Beurlaubung habe den Zwangscharakter der angeordneten Maßnahme nicht aufgehoben. Die Vorschrift des § 135 BSHG über die Fortdauer der ersten Zuständigkeit beziehe sich nicht auf die Durchführung sicherheits- und gesundheitspolizeilicher Maßnahmen. Um diese gehe es aber hier.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision hat keinen Erfolg.

Der Anspruch des Sozialhilfeträgers auf Erstattung der Kosten, die er für die Heilbehandlung des an Tuberkulose erkrankten Versicherten bestritten hat, findet in § 59 Abs. 2 Satz 2 BSHG seine gesetzliche Grundlage. Der Träger der Rentenversicherung ist verpflichtet, diesen Ersatz zu leisten, weil ihm die Heilbehandlung oblag (§ 1244 a bs. 1, 3 RVO).

Der gegen ihn gerichtete Anspruch entfiel nicht deshalb, weil der Versicherte während des Heilverfahrens auf gerichtliche Anordnung hin in Anstaltspflege untergebracht werden mußte. § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO läßt zwar bei Unterbringung in Anstaltspflege den Anspruch gegen den Rentenversicherungsträger nicht entstehen. Deshalb hat auch das Bundessozialgericht (BSG) entschieden, daß Heilmaßnahmen der Versicherungsträger nicht in Betracht kommen, wenn der Versicherte sich zur Zeit seiner Erkrankung an Tbc in Anstaltspflege befindet (BSG SozR Nr. 12 zu § 1244 a RVO) oder wenn die obrigkeitlich angeordnete Anstaltspflege und die Heilfürsorge wegen Tuberkuloseerkrankung gleichzeitig beginnen (BSG SozR Nr. 14 zu § 1244 a RVO). Anders hat dagegen der 5. Senat des BSG (SozR Nr. 2 zu § 27 des Tuberkulosehilfegesetzes - THG - vom 23. Juli 1959) den Sachverhalt beurteilt, daß der Sozialversicherungsträger mit der Erfüllung seiner Leistungspflicht begonnen hatte, bevor der Asylierungsfall eintrat. Alsdann habe, so hat der 5. Senat im Hinblick auf § 27 Abs. 3 THG und § 135 Abs. 1 Satz 1 BSHG entschieden, der Rentenversicherungsträger für die Kosten der Heilbehandlung weiterhin aufzukommen. Der 5. Senat hat in diesem Zusammenhang von einem Weiterbestehen der einmal begründeten "Zuständigkeit" gesprochen. - Man wird allerdings der Beklagten einräumen müssen, daß - mit Ausnahme der Kostenlast - die sachliche Zuständigkeit sich ohnehin ändert. Dies folgt daraus, daß der Kranke aus dem Verantwortungsbereich der Rentenversicherungsträger herausgenommen und in Anstaltspflege eingewiesen wird. Damit wird der Funktionsbereich des Rentenversicherungsträgers ausgeschaltet, überlagert oder zumindest stark eingeengt. Infolgedessen tritt eine Wirkung ein, die nach der gesetzgeberischen Absicht gerade vermieden werden sollte, nämlich ein Auseinanderfallen von Aufgabenträger und Kostenträger (BSG SozR Nrn. 4 und 12 zu § 1244 a RVO mit Hinweis auf die Gesetzesmaterialien, insbesondere Begründung zu § 24 des Entwurfs eines THG, Bundestagsdrucks. III/349 S. 19). Auch der Gedanke, auf dem § 135 BSHG beruht, daß der Betreute während der gesamten Dauer des Heilverfahrens nur von einer Stelle Leistungen erhalten soll, kann vom Sachablauf her nicht verwirklicht werden. Das zeigt sich, wenn die Zwangsasylierung endet, das Bedürfnis der Krankenbehandlung aber fortdauert. In einem solchen Falle wird an der Leistungspflicht des Rentenversicherungsträgers nicht zu zweifeln sein, wenn auch vorher die für die Unterbringung maßgebliche Stelle die Aufwendung für die Tuberkuloseversorgung zu tragen hatte. - Der Beklagten ist ferner zuzugeben, daß der Wortlaut des § 135 Abs. 1 Satz 1 BSGH die von ihr vertretene Ansicht zuläßt. Die angeführte Vorschrift ordnet nicht generell die Fortdauer der bisherigen Verantwortlichkeit an. Vielmehr bezieht sie sich auf die "sachliche Zuständigkeit eines in § 132 BSHG genannten Leistungsträgers". Dazu zählt aber nicht ohne weiteres die für die Unterbringung der Anstaltspflege nach § 130 BSHG gegebene Kostenpflicht. Dafür, daß § 135 BSHG die Zuständigkeit nicht ganz allgemein, sondern nur für einen beschränkten Kreis von Tatbeständen festlegt, spricht außerdem die Existenz weiterer inhaltsverwandter Normen im BSHG, wie des § 60 und § 128 Abs. 1, 2 Satz 2.

Der Gesetzesfassung allein muß aber kein entscheidendes Gewicht beigemessen werden. § 135 BSHG entspricht nicht nur weitgehend dem früheren § 27 Abs. 3 Sätze 1-3 THG, sondern bedeutet - wie der 5. Senat hervorgehoben hat - die Fortsetzung und Verdeutlichung der früheren Rechtslage. Nach § 27 THG konnte aber tatsächlich die Deutung gerechtfertigt erscheinen, daß ein " Zuständigkeits "-wechsel regelmäßig - von den im Gesetz ausdrücklich erwähnten und hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen - ausgeschlossen sein sollte. Dazu wird im einzelnen auf die erwähnte Entscheidung des 5. Senats hingewiesen.

Angesichts der aufgezeigten Auslegungszweifel glaubt der erkennende Senat, sich im Interesse einer kontinuierlichen Rechtsfindung der Rechtsprechung des 5. Senats anschließen zu sollen. Das Berufungsurteil ist sonach zu bestätigen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669988

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