Entscheidungsstichwort (Thema)
Konkurrenz zwischen Ausfallzeit und Beitragszeit
Leitsatz (amtlich)
Die während einer anzurechnenden Ausfallzeit iS des AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 6 (= RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 6 entrichteten Beiträge bleiben bei der Berechnung der Rente gemäß AVG § 32 Abs 7 S 2 (= RVO § 1255 Abs 7 S 2) unberücksichtigt (Anschluß an BSG 1975-12-09 GS 1/75 = SozR 2200 § 1259 Nr 13).
Normenkette
AVG § 32 Abs. 7 S. 2 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1255 Abs. 7 S. 2 Fassung: 1965-06-09; AVG § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 Fassung: 1965-06-09; AVG § 37a S. 1 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1260a S. 1 Fassung: 1965-06-09
Tenor
Auf die Sprungrevision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 9. Juli 1975 aufgehoben.
Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 18. Dezember 1972 wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die von der Klägerin während einer anzurechnenden Ausfallzeit entrichteten Beiträge entgegen § 32 Abs. 7 Satz 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) bei der Berechnung des Altersruhegeldes berücksichtigt werden können.
Die im Dezember 1907 geborene Klägerin hatte bereits von August 1940 bis Januar 1946 Ruhegeld aus der Angestelltenversicherung bezogen. Trotz der deswegen im damaligen Zeitraum vorgelegenen Versicherungsfreiheit (§ 13 AVG in der bis zum 31. Dezember 1956 gültigen Fassung = AVG a. F.) waren für sie laut der am 9. Januar 1947 aufgerechneten Versicherungskarte Nr. 8 vom 15. November 1943 an Pflichtbeiträgen entrichtet worden. Die der Klägerin ab 1. Dezember 1958 gewährte Rente wegen Berufsunfähigkeit wurde durch Bescheid vom 16. Januar 1969 unter Anrechnung der Beitragszeit vom 15. November 1943 bis 31. Januar 1946 neu berechnet, weil diese von der Beklagten infolge Zeitablaufes (§ 145 Abs. 2 AVG) nicht mehr beanstandet werden konnte.
Mit Bescheid vom 18. Dezember 1972 wandelte die Beklagte die Berufsunfähigkeitsrente der Klägerin in das Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres um. Dabei blieben die für die Zeit vom 15. November 1943 bis 31. Januar 1946 entrichteten Beiträge gemäß § 32 Abs. 7 Satz 2 AVG unberücksichtigt.
Auf die hiergegen erhobene Klage verpflichtete das Sozialgericht (SG) die Beklagte, "bei der Berechnung des Altersruhegeldes für die Zeit vom 15. November 1943 bis 31. Januar 1946 an Stelle der nach § 32 a AVG angesetzten Durchschnittswerteinheiten bis zum 31. Dezember 1964 die tatsächlich für diese Zeiten entrichteten Beiträge zugrunde zu legen". Zur Begründung führte es im wesentlichen aus: Der Gesetzgeber habe mit der durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 9. Juni 1965 (RVÄndG) eingeführten Vorschrift des § 32 Abs. 7 Satz 2 AVG nur eine "Vergünstigung der Versicherten" herbeiführen wollen und die Möglichkeit einer Verschlechterung nicht gesehen mit der Folge, daß eine Regelung für den Fall der möglichen Verschlechterung nicht getroffen worden sei. Es liege somit eine uneigentliche Gesetzeslücke vor, d. h. der Gesetzgeber habe zwar für den Zusammenfall von Ausfallzeiten und Beitragszeiten eine Norm geschaffen, der jedoch die Entscheidung für den vorliegenden Fall nicht entnommen werden dürfe, da sonst der Gesetzeszweck vereitelt werde. Abhilfe könne daher nur eine analoge Rechtsschöpfung bringen. Diese bestehe darin, daß der Versicherungsträger eine Vergleichsberechnung durchzuführen habe. Ergebe sich für den Versicherten bei der Berücksichtigung der tatsächlich entrichteten Beiträge - wie hier - eine günstigere Rentenberechnung, dann sei diese anzuwenden und § 32 Abs. 7 Satz 2 AVG außer Betracht zu lassen (Urteil vom 9. Juli 1975).
Die Beklagte hat mit schriftlicher Zustimmung der Klägerin die vom SG zugelassene Sprungrevision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 32 Abs. 7 Satz 2 AVG durch das Erstgericht.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Sprungrevision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - ) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist begründet.
Der Zeitraum vom 15. November 1943 bis 31. Januar 1946, in welchem die Klägerin - vor Vollendung ihres 55. Lebensjahres - ein Ruhegeld bezogen hat, ist gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 AVG bei dem der Klägerin im angefochtenen Bescheid gewährten Altersruhegeld als Ausfallzeit zu werten. Da es sich hierbei unter Berücksichtigung der Halbbelegungsvorschrift des § 36 Abs. 3 AVG auch um eine anzurechnende Ausfallzeit handelt, bleiben die während ihrer Dauer von der Klägerin entrichteten - wirksamen - Pflichtbeiträge bei der Berechnung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage nach § 32 Abs. 7 Satz 2 AVG außer Betracht. Diese Vorschrift ist durch Art. 1 § 2 Nr. 16 d RVÄndG in das AVG eingefügt worden und mit Wirkung vom 1. Januar 1966 in Kraft getreten (Art. 5 § 10 Abs. 1 d RVÄndG). Sie enthält - wie der Große Senat (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem Beschluß vom 9. Dezember 1975 (GS 1/75 = SozR 2200 § 1259 Nr. 13) zu der inhaltsgleichen Vorschrift des § 1255 Abs. 7 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) betont hat - gerade bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 1259 Abs. 1 Nr. 5 und 6 RVO (= § 36 Abs. 1 Nr. 5 und 6 AVG) eine klare Ausnahmeregelung in bezug auf die Nichtanrechnung von Pflichtbeiträgen, die während solcher Ausfallzeiten entrichtet worden sind.
Der Rechtsauffassung des SG, die in § 32 Abs. 7 Satz 2 AVG getroffene Regelung sei nur für den Fall anzuwenden, daß eine Berücksichtigung der während der Ausfallzeit geleisteten Beiträge keine günstigere Rentenhöhe bewirken würde, kann indes nicht zugestimmt werden. Die vom Erstgericht für seine Entscheidung gegebene Begründung ist bereits im Ansatzpunkt verfehlt, weil sie irrtümlich davon ausgeht, der Gesetzgeber habe die Möglichkeit einer - ausnahmsweisen - Schlechterstellung der Versicherten durch die neu eingeführte Vorschrift nicht gesehen, so daß eine durch analoge Rechtsschöpfung auszufüllende Gesetzeslücke vorliege. Hierbei wird dem Umstand nicht genügend Rechnung getragen, daß die gemäß § 32 Abs. 7 Satz 2 AVG bei der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage unberücksichtigt bleibenden Beiträge im Rahmen des § 37 a AVG durch eine zusätzliche Leistung honoriert werden, soweit sie für Zeiten nach dem 31. Dezember 1956 entrichtet worden sind. Die durch § 37 a AVG in der Fassung des RVÄndG eingeführte Bewertung der während einer anzurechnenden Ausfallzeit entrichteten Beiträge ist vom erkennenden Senat bereits mit Urteil vom 30. April 1971 (SozR Nr. 1 zu § 1260 a RVO) als mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar und damit als geltendes Recht angesehen worden. Die Bewertung nur der nach dem 31. Dezember 1956 entrichteten Beiträge in dieser Regelung wurde im Bericht zur Bundestags-Drucksache IV/3233 (zu § 1260 a, S. 5) wie folgt begründet:
"Die Berücksichtigung nur der Beiträge, die nach dem 31. Dezember 1956 entrichtet wurden, beruht auf der Erwägung, daß erst seit diesem Zeitpunkt Beiträge in nennenswertem Umfang angefallen sind (Einführung der Zurechnungszeit). Die davor liegenden, während einer Ausfallzeit entrichteten Beiträge rechtfertigen nicht den Verwaltungsaufwand."
Daraus erhellt, daß - entgegen der Annahme des SG - der Gesetzgeber bei Schaffung des RVÄndG die besondere Situation der Versicherten mit vor dem 1. Januar 1957 entrichteten und mit einer Ausfallzeit zusammenfallenden Beiträgen erkannt, ihr aber bewußt keine Rechnung getragen hat. Er hat insbesondere die Anwendung des § 32 Abs. 7 Satz 2 AVG bewußt nicht davon abhängig gemacht, daß eine Begünstigung des Versicherten in jedem Einzelfall stattfindet. Damit erweist sich die vom Erstgericht befürwortete Vergleichsberechnung als rechtlich nicht zulässig (vgl. hierzu auch bereits Beschluß des GS aaO, S. 28).
Gegen die umfassende Anwendung des § 32 Abs. 7 Satz 2 AVG auch für den hier vorliegenden Fall einer nach § 37 a AVG ausgeschlossenen Bewertung der Beiträge bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Bei dieser - in der Entscheidung des Senats vom 30. April 1971 aaO ausgeklammerten - Prüfung ist davon auszugehen, daß die Annahme des Gesetzgebers zutrifft, die Gruppe der Versicherten, die durch die gänzliche Nichtberücksichtigung der vor dem 1. Januar 1957 entrichteten Beiträge einen Nachteil erleiden, sei gering. Unter Beachtung der Entscheidung des GS aaO verhindert die Entrichtung von Pflichtbeiträgen eine anrechenbare Ausfallzeit im Sinne des § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO (= § 36 Abs. 1 Nr. 1 AVG), so daß in diesen Fällen die Voraussetzungen für die Anwendung des womöglich nachteiligen § 1255 Abs. 7 Satz 2 RVO (= § 32 Abs. 7 Satz 2 AVG) ohnehin nicht vorliegen. Der nach dieser Entscheidung in Betracht kommende Anwendungsbereich der Vorschrift bei Entrichtung freiwilliger Beiträge während einer Ausfallzeit oder bei Entrichtung von Pflichtbeiträgen während einer Rentenbezugszeit u. a. im Sinne der §§ 1259 Abs. 1 Nr. 6 RVO, 36 Abs. 1 Nr. 6 AVG kann sich aber im Hinblick auf den umfassenden Ausschluß einer zulässigen Beitragsleistung nach den §§ 13, 190 AVG a. F., 1236, 1443 RVO a. F. nur in seltenen Ausnahmefällen auf die Zeit vor dem 1. Januar 1957 beziehen. Dies zeigt gerade die vorliegende Beitragsentrichtung vom 15. November 1943 bis 31. Januar 1946. Sie war an sich infolge des damaligen Ruhegeldbezugs gemäß § 13 AVG a. F. unzulässig gewesen und muß nur deshalb als rechtswirksam behandelt werden, weil es die Beklagte versäumt hat, die Richtigkeit der entsprechenden Eintragungen in der für die Klägerin ausgestellten Versicherungskarte Nr. 8 innerhalb der zehnjährigen Frist des § 145 Abs. 2 Satz 1 AVG anzufechten. Derartige Besonderheiten in Einzelfällen darf der Gesetzgeber aber im Bereich des Sozialversicherungsrechts vernachlässigen, weil bei der in diesem Bereich gebotenen Ordnung von Massenerscheinungen typisierende Regelungen unerläßlich sind (vgl. hierzu Urteil des Senats vom 30. April 1971 aaO sowie BSG in SozR Nr. 9 zu Art. 2 § 15 ArVNG und BSG 31, 136, 137 unter Hinweis auf die einschlägige Rechtsprechung des BVerfG).
Da somit der Gesetzgeber bei der Anwendung des § 32 Abs. 7 Satz 2 AVG von einer Vergleichsberechnung im Sinne der Ausführungen des SG bewußt und in zulässiger Weise abgesehen hat, muß das angefochtene Urteil aufgehoben werden und dem Klagebegehren der Erfolg versagt bleiben (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen