Entscheidungsstichwort (Thema)

Zulassung des Rechtsmittels im Urteilstenor

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zur Frage, ob an der Rechtsprechung (zuletzt BSG 1971-03-23 7 RKg 14/69 = SozR Nr 51 zu § 150 SGG) festzuhalten ist, daß der Ausspruch der Berufungszulassung auch wirksam ist, wenn er sich nur in den Gründen des SG-Urteils befindet.

2. Eine Rechtsmittelzulassung in den Urteilsgründen entsprechend der bisherigen Rechtsprechung ist - auch bei begründeten Bedenken gegen diese Rechtsprechung - einstweilen noch als wirksam zu behandeln.

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Zulassung eines Rechtsmittels (Berufung, Revision) muß bei mündlicher Verhandlung mit der Urteilsformel verkündet werden; es genügt nicht, wenn die Zulassung in den Entscheidungsgründen ausgesprochen wird.

 

Normenkette

SGG § 150 Nr. 1 Fassung: 1974-07-30, § 136 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1953-09-03, § 132 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, Abs. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 31. Januar 1975 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der Kläger bezieht einkommensabhängige Versorgungsleistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Auf den Berufsschadensausgleich rechnete die Beklagte seine Erwerbsunfähigkeitsrente aus der Angestelltenversicherung und sein Ruhegeld aus seinem früheren öffentlichen Dienstverhältnis an (Bescheid vom 9. Juli 1973). Für die Zeit ab 1. Juli 1973 beantragte der Kläger eine Neufeststellung der Versorgungsbezüge, weil das Ruhegeld nunmehr geringer sei. Den Antrag lehnte das Versorgungsamt ab, weil die Rente aus der Angestelltenversicherung sich ab 1. Juli 1973 erhöht habe, diese Leistung zusammen mit dem Ruhegeld eine Einheit bilde und die Erhöhung des Gesamtbetrages nach dem 16. Rentenanpassungsgesetz bis zum 31. Dezember 1973 unberücksichtigt bleibe (Bescheid vom 20. Juli 1973). Mit dem Widerspruch, der erfolglos blieb (Bescheid vom 7. August 1973) und mit der Klage wandte sich der Kläger gegen die Zusammenrechnung der beiden Renten; wegen der Minderung des Ruhegeldes dürfe ihm bis zum 31. Dezember 1973 nur ein geringeres Einkommen als zuvor angerechnet werden. Das Sozialgericht (SG) hat aufgrund mündlicher Verhandlung durch Urteil vom 1. Februar 1974 die Klage abgewiesen. Die verkündete Urteilsformel, nach der auch keine Kosten zu erstatten sind, beruhte auf einem von allen drei Richtern unterschriebenen Vermerk über das Beratungsergebnis. In der Sitzungsniederschrift ist der vorgedruckte Satz "Anschließend wird der wesentliche Inhalt der Gründe mitgeteilt" durchgestrichen; für den Kläger war während der Verkündung niemand anwesend. Die schriftlichen Entscheidungsgründe enden mit dem Satz, die erkennende Kammer habe die Berufung nach § 150 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zugelassen, weil die Rechtsfrage, über die zu entscheiden gewesen sei, grundsätzliche Bedeutung habe und dazu kein Urteil eines übergeordneten Gerichtes bekannt sei. Der Kläger nahm einen Antrag auf Ergänzung des Urteils zurück und regte eine Berichtigung an. Der Kammervorsitzende bemerkte im Schreiben vom 29. Januar 1975, der Urteilsausspruch brauche nicht berichtigt zu werden, die Berufung sei im Urteil wirksam zugelassen worden; die Rechtsprechung habe in sämtlichen Gerichtsbarkeiten anerkannt, daß die Zulassung nicht im Tenor enthalten zu sein brauche.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung als unzulässig verworfen (Urteil vom 31. Januar 1975 -RSpDienst 9000 § 150 SGG, 2-4): Die nach § 148 Nr. 2 SGG ausgeschlossene Berufung sei nicht nach § 150 Nr. 1 SGG statthaft. Die Zulassung als eine Nebenentscheidung müsse entgegen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) in den Urteilstenor aufgenommen werden. Aber selbst wenn von dieser Rechtsprechung ausgegangen werde, sei die Berufung unzulässig. Die Gründe des angefochtenen Urteils enthielten bloß einen Hinweis auf eine anderweitig in der Vergangenheit getroffene Entscheidung, dagegen nicht den notwendigen Zulassungsausspruch als konstitutionellen Akt.

Der Kläger rügt mit der Revision, die das LSG zugelassen hat, eine Verletzung des § 150 Nr. 1 SGG. Das Berufungsgericht sei von der Rechtsprechung des BSG abgewichen, wie ein veröffentlichter Leitsatz zu dem Urteil verdeutliche. Nach der herrschenden Rechtsprechung könne die Zulassung eines Rechtsmittels auch in den Entscheidungsgründen ausgesprochen werden. Das sei hier geschehen.

Der Kläger beantragt,

das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Nach ihrer Ansicht vermag die Rechtsauffassung des Klägers ein Rechtsschutzbedürfnis für die Aufhebung des angefochtenen Urteils nicht zu begründen.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung an das LSG. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht das Rechtsmittel des Klägers als unzulässig verworfen.

Die Berufung war an sich nach § 148 Nrn. 2 und 3 SGG ausgeschlossen; denn sie betraf 1.) Versorgung für den bereits abgelaufenen Zeitraum vom 1. Juli bis 31. Dezember 1973 und 2.) die Neufeststellung einkommensabhängiger Versorgungsbezüge wegen Änderung der Einkommensverhältnisse. Entgegen der Auffassung des LSG war aber das Rechtsmittel nach § 150 Nr. 1 SGG kraft Zulassung statthaft, was im übrigen entgegen der Ansicht der Beklagten nichts mit dem Rechtsschutzbedürfnis zu tun hat.

Das SG hat die Berufung in dem Bewußtsein, daß sie ausgeschlossen ist, durch eine echte Entschließung im Sinne einer Anordnung zugelassen; dies war im Verhältnis zur Sachentscheidung über die Klageansprüche (§§ 53-56, 95, 123, 125 SGG) eine prozessuale Nebenentscheidung (BSGE 2, 121, 125; 4, 206, 209; 8, 135, 137; BGH, NJW 1956, 831 = LM Nr. 3 zu § 551 Ziff. 7 Zivilprozeßordnung - ZPO -). Die Entschließung des Gerichts als das Ergebnis der geheimen Abstimmung (§ 61 Abs. 2 SGG, §§ 193, 196 f Gerichtsverfassungsgesetz - GVG -, § 43 Deutsches Richtergesetz) hat in der schriftlichen Urteilsbegründung (§ 134 Satz 1, § 136 Abs. 1 Nr. 6, § 128 Abs. 1 Satz 2 SGG) der Vorsitzende als deren Verfasser mit der Formulierung, die Kammer habe die Berufung zugelassen, den Beteiligten und überhaupt der Öffentlichkeit bekanntgegeben. Dabei wurden die Beteiligten nicht bloß über die Rechtslage belehrt, was nicht genügen würde (BSG, aaO; BSG, KOV 1966, 218). Wenn - wie hier - der Ausspruch, die Berufung werde zugelassen, nicht in einer üblichen Entscheidungsformel (§ 132 Abs. 2 Satz 1, § 136 Abs. 1 Nr. 4 SGG) kundgetan wird, ist die in den Gründen enthaltene Verlautbarung, die Kammer habe beschlossen, die Berufung zuzulassen, in dieser Perfektform sachgemäß, d. h. in der Zeitform der Vorgegenwart oder vollendeten Gegenwart; sie drückt ein vergangenes, auf den Standpunkt des Sprechers bezogenes Geschehen aus. Auch in der Urteilsformel wird, genau genommen, mitgeteilt, was das Richterkollegium bereits entschieden hat. Stets ist von dieser Bekanntgabe - in dieser oder jener Form - der Entscheidungsakt, die Abstimmung und davon der vorausgehende, ebenfalls geheime Beratungsvorgang (§ 61 Abs. 2 SGG, §§ 194 bis 197 GVG) zu unterscheiden. Der Ausspruch der Zulassung wird überhaupt nicht dadurch beeinträchtigt, daß er in einem einzigen Satzgefüge mit der Begründung verbunden ist. Auf gleiche Weise wird die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG), falls sie nicht in einem besonderen Beschluß veröffentlicht, sondern in einer Urteilsberatung zusammen mit der Entscheidung in der Hauptsache beschlossen wurde, in den Urteilsgründen bekanntgemacht (BSGE 6, 80, 82). Sie braucht allerdings, ungeachtet der Streitfrage, um die es im vorliegenden Fall geht, deshalb nicht mit der Urteilsformel verkündet zu werden, weil diese prozessuale Nebenentscheidung der Entscheidung über die Hauptsache vorausgegangen sein muß und in dieser vorausgesetzt wird.

Nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG war der Ausspruch der Berufungszulassung auch in den Urteilsgründen wirksam (BSGE 2, 245, 246 f = SozR Nr. 11 zu § 150 SGG; BSGE 4, 206, 210; 8, 147, 149; 8, 154, 158; SozR Nrn. 10, 41, 51 zu § 150 SGG; KOV 1966, 218; KOV 1975, 190; BVBl 1975, 118). Gegen diese Rechtsprechung haben wiederholt Landessozialgerichte Bedenken erhoben, die sich das Berufungsgericht im vorliegenden Fall zu eigen gemacht hat (vgl. insbesondere Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 20. März 1975 - L 11 V 138/72 -, ZfS 1975, 191; Aktenzeichen des Revisionsverfahrens: 9 RV 178/75). Der erkennende Senat teilt diese Bedenken grundsätzlich, hält jedoch in diesem Fall die Zulassung aus den später noch darzulegenden Gründen ausnahmsweise noch für wirksam (im Ergebnis ebenso wie der 10. Senat des BSG im Urteil vom 11. November 1976 - 10 RV 181/75 -).

In den Fällen, in denen aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden wird (§ 124 Abs. 1, §§ 132, 61 Abs. 1 Satz 1 SGG, §§ 169 ff GVG), muß die Entschließung des Gerichts, daß die Berufung zugelassen wird, verkündet werden. Das ist nicht bloß zweckmäßig, sondern nach Vorschriften, die für das sozialgerichtliche Verfahren maßgebend sind, zwingend geboten. Dies folgt nicht allein aus dem Wortlaut der einschlägigen prozeßrechtlichen Regelungen, sondern auch zwangsläufig aus ihrem Sinn und Zweck.

Gerichtsentscheidungen müssen, abgesehen von dem hier nicht gegebenen Fall, daß sie ohne mündliche Verhandlung ergehen (§ 133 SGG), verkündet werden (§ 132 Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGG). Die Entscheidung als solche und ihre Verkündung sind als wesentliche Vorgänge der Verhandlung (§ 122 SGG; § 160 Abs. 2 ZPO) in die Sitzungsniederschrift aufzunehmen (§ 160 Abs. 3 Nrn. 6 und 7 ZPO). Beides ist im vorliegenden Fall ausweislich des allein beweiskräftigen Protokolls (§ 165 ZPO) allein mit der Urteilsformel, die den Klageanspruch und die Kostenerstattung (§ 193 SGG) betrifft, geschehen, jedoch nicht mit dem Ausspruch, daß die Berufung zugelassen worden ist. Auch für die letztgenannte Entscheidung wäre dies notwendig gewesen (BSGE 8, 135, 137 f). Die Zulassung wurde hier auch nicht mit den Entscheidungsgründen öffentlich bekanntgegeben. Die Gründe mußten nicht zwingend bei der Verkündung mitgeteilt werden. Nach § 132 Abs. 2 Satz 2 SGG "soll" dies nur geschehen, wenn Beteiligte anwesend sind; bei der Verkündung am 1. Februar 1974 war der Kläger weder anwesend noch vertreten. Die Entscheidung, daß die Berufung zugelassen wird, hätte nicht nur der Form halber nach den zuvor genannten Prozeßvorschriften verkündet werden müssen, sondern auch wegen des Grundsatzes der Rechtsklarheit. Für die Beteiligten muß mit der Verkündung feststehen, ob der Rechtsweg zur höheren Instanz kraft Zulassung eröffnet wird, mag auch ein Urteil, in dem das SG die kraft Gesetzes ausgeschlossene Berufung (§§ 144 - 149 SGG) nicht zugelassen hat, noch nicht mit der Verkündung rechtskräftig oder mindestens schlechthin unanfechtbar werden (vgl. § 150 Nrn. 2 und 3, § 151 Abs. 1 und 2 SGG). Die Beteiligten müssen bereits bei der Verkündung darauf vertrauen können, daß eine Zulassung der Berufung wirksam ist. Eine eindeutige Verlautbarung ist zudem deshalb notwendig, weil die Zulassung des Rechtsmittels die übergeordnete Instanz unbedingt bindet. Diese Wirkung ist für die Zulassung der Revision durch das SG und das LSG seit dem Gesetz zur Änderung des SGG vom 30. Juli 1974 (BGBl I 1625) ausdrücklich vorgeschrieben (§ 161 Abs. 2 Satz 2, § 160 Abs. 3 SGG; zum 2. Fall: Urteil des erkennenden Senats in SozR 1500 § 160 Nr. 21) und es ist kein Grund dafür erkennbar, daß das nicht auch für die Zulassung der Berufung gelten sollte, für die freilich eine gleichlautende Vorschrift im Gesetz fehlt. Die Bindung setzt voraus, daß der Richterspruch - hier über die Zulassung - überhaupt beschlossen wurde und außerdem ordnungsmäßig verlautbart ist. Die erste Voraussetzung kann bei einer bloßen Mitteilung in den Entscheidungsgründen zweifelhaft sein. An die Form der Bekanntgabe als Voraussetzung für das Wirksamwerden sind strenge Anforderungen zu stellen. Wenn der Gesetzgeber durch das bezeichnete Änderungsgesetz nicht ausdrücklich geregelt hat, daß die Zulassung der Berufung in der Urteilsformel ausgesprochen werden muß, so läßt sich daraus nicht etwa folgern, er habe die bisherige Rechtsprechung, gegen die sich das LSG wendet, gebilligt. Aus den Gesetzesmaterialien ist nicht zu erkennen, daß sich die Gesetzgebungsorgane überhaupt mit der Art der Bekanntgabe befaßt hätten. Falls die Zulassung auch erst in den schriftlichen Entscheidungsgründen bekanntgemacht werden dürfte, könnte dieser Teil des Urteils allenfalls mit der Zustellung des schriftlichen Urteils (§§ 134, 136 SGG), die die Verkündung ersetzen kann, wirksam werden. Das Ersetzen der Verkündung durch die Zustellung ist jedoch in § 133 SGG ausschließlich für Entscheidungen, die nicht aufgrund mündlicher Verhandlung ergehen, vorgeschrieben (vgl. BSGE 3, 209, 211 f), und dies bezieht sich allein auf Urteile und Beschlüsse in je ihrer Gesamtheit, d. h. auf den vollständigen entscheidenden Teil (§ 136 Abs. 1 Nr. 4 SGG). Wenn ein Urteil, soweit es über den Klageanspruch und die Kosten entschieden hat - wie hier - verkündet wurde, darf nicht offenbleiben, ob die Berufung zugelassen worden ist. Daß dann dieser Teil der Gesamtentscheidung viel später mit der Zustellung gesondert wirksam werden könnte, ist im übrigen deshalb bedenklich, weil dies einer Urteilsergänzung gleichkäme. Die Berufung kann aber nach bisheriger Rechtsprechung nicht gemäß § 140 SGG durch ein Ergänzungsurteil zugelassen werden (BSG SozR Nrn. 3 und 4 zu § 140 SGG; BGHZ 44, 395; vgl. auch BGHZ, 20, 188, 193 = NJW 1956, 830; BAGE 2, 358 = AP Nr. 3 zu § 319 ZPO). Ob eine analoge Anwendung dieser Vorschrift nicht doch angezeigt sein könnte, muß hier unberücksichtigt bleiben. Schließlich böte eine erstmalige Bekanntgabe der Zulassung in den Urteilsgründen jedenfalls in Fällen wie dem vorliegenden, in denen bei der Verkündung nicht die Entscheidungsgründe mitgeteilt wurden, nicht die notwendige Gewähr für die Richtigkeit, daß nämlich die Zulassung vorher vom gesamten Gericht, d. h. unter Mitwirkung der beiden ehrenamtlichen Richter (§ 12 Abs. 1 SGG), beschlossen worden ist. Diese Entschließung müßte der Veröffentlichung vorausgegangen sein. Der Vorsitzende dürfte und könnte nicht allein nachträglich die Zulassung anordnen; denn dies obliegt ausschließlich dem "Sozialgericht" als vollem Spruchkörper (§ 150 Nr. 1 Abs. 1 SGG; zu § 161 SGG: BSG SozR 1500 § 161 SGG Nrn. 4 und 7), und eine Ergänzung nach § 140 SGG allein durch den Vorsitzenden ist völlig ausgeschlossen. Wenn er das Urteil "durch Verlesen der Urteilsformel" zu verkünden hat (§ 132 Abs. 2 Satz 1 SGG) und in dem "Termin" auch die ehrenamtlichen Richter anwesend sein müssen (§ 132 Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGG), ist allgemein hinreichend gewährleistet, daß der Vorsitzende keine andere als die bei geheimer Abstimmung zustande gekommene Entscheidung des gesamten Gerichts verkündet; eine Abweichung könnten die Beisitzer verhindern. Diese rechtlich unerläßliche Garantie für eine ordnungsmäßige Verlautbarung ist nicht in der gebotenen Weise gegeben, falls die Zulassung erst und allein in der schriftlichen Urteilsbegründung mitgeteilt wird. Das schriftliche Urteil wird allein vom Vorsitzenden verfaßt und unterschrieben (§ 134 Satz 1 SGG) und ist nicht einmal den ehrenamtlichen Richtern vor der Übergabe an die Geschäftsstelle und vor der Zustellung an die Beteiligten (§ 135 SGG) zur Kontrolle zuzuleiten, wie dies für das Revisionsverfahren neuerdings in § 170 a SGG n. F. vorgeschrieben ist. Hieraus ergibt sich ein potentieller Unsicherheitsfaktor, der mit einem - gesetzlich nicht abgesicherten - "unwiderlegbaren Beweis" (BSG 8, 147) wohl kaum überzeugend behoben werden kann.

Falls grundsätzlich die Zulassung eines Rechtsmittels in den Entscheidungsgründen erstmals wirksam bekanntgegeben werden könnte, wäre dies praktisch davon abhängig, daß der Vorsitzende die beschlossene Entscheidung schriftlich begründen kann. Dies könnte aber ausgeschlossen sein, falls er sogleich nach der Verkündung in einen anderen Spruchkörper überwechselt oder gar das Gericht überhaupt verläßt, erst recht, wenn er in den Ruhestand übertritt, bevor er das Urteil verfaßt, unterschrieben und zur Geschäftsstelle gegeben hat. Jedenfalls könnte die Entscheidung niemals wirksam werden, falls er vor der schriftlichen Begründung verstirbt. Die übrigen Richter, die an der Abstimmung mitgewirkt haben, könnten wegen des Beratungsgeheimnisses nicht nach dem Inhalt befragt werden. Nur die Bekanntgabe in den bezeichneten anderen Formen ist vorgeschrieben. Die dargelegten Besonderheiten des sozialgerichtlichen Verfahrens, die für die vorliegende Streitfrage maßgebend sind, hat das BSG in seinen früheren Entscheidungen nicht erörtert und nicht erkennbar berücksichtigt; es hat sich im wesentlichen auf die Rechtsprechung der Zivilgerichte (BGHZ 20, 189) gestützt (ebenso BFH, BStBl 1963 III, 410; BFHE 88, 361 = BStBl 1967 III 396). Im Zivilprozeß mag die Zulassung eines Rechtsmittels deshalb auch erst in den Entscheidungsgründen wirksam ausgesprochen werden können, weil grundsätzlich alle an der Entscheidung beteiligten Richter das Urteil unterschreiben (§ 315 ZPO) und infolgedessen Entscheidungsformel und -gründe nicht streng getrennt behandelt werden. Diese Voraussetzung fehlt in der Sozialgerichtsbarkeit, insbesondere im Verfahren des ersten Rechtszuges.

Der Senat stützt gleichwohl im vorliegenden Fall seine Entscheidung noch nicht auf diese rechtlichen Erwägungen. Er geht vielmehr davon aus, daß das SG in voller Besetzung die Zulassung der Berufung beschlossen hat, wie in der Urteilsbegründung bekundet wird und wie dies das Schreiben des Kammervorsitzenden vom 29. Januar 1975 bestätigt, und läßt diese Entscheidung hier auch noch als wirksam zustandegekommen gelten. Die Kammer hat sie nicht in die von allen drei Richtern unterschriebene Urteilsformel aufgenommen und nicht vom Vorsitzenden mit verkünden lassen, weil sie darauf vertraut hat, daß die Bekanntgabe in den Urteilsgründen nach der gefestigten Rechtsprechung des BSG genügt. Darauf hat sich das SG auch verlassen können. Bei einer solchen Rechtslage ist die an sich nicht gesetzmäßige Entscheidungspraxis eines SG noch eher hinzunehmen als wenn unklar ist, wie eine Prozeßvorschrift auszulegen ist (zum letztgenannten Fall: BSG SozR 1500 § 161 Nr. 7). Außerdem hat der Kläger im Vertrauen auf die Wirksamkeit der Zulassung die Berufung eingelegt. Diese besondere Lage veranlaßt den Senat, im vorliegenden Fall, in dem die Berufung noch vor der Bekanntgabe der neuen Rechtsauffassung zugelassen wurde, von einer überraschenden Änderung der bisherigen Rechtsprechung abzusehen. Allerdings wird der erkennende Senat nicht umhin können, gegebenenfalls unter Beachtung des § 42 SGG, anders zu entscheiden, falls in Zukunft noch einmal die Zulassung eines Rechtsmittels ausschließlich in der Urteilsbegründung bekanntgegeben wird.

Da das LSG zu Unrecht durch ein Prozeßurteil statt durch ein Sachurteil entschieden und die für eine Sachentscheidung erforderlichen Tatsachen nicht festgestellt hat (§ 163 SGG), ist der Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657174

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