Leitsatz (amtlich)
Wer auf dem Weg zum Ort der Tätigkeit umkehrt, um aus seiner Wohnung das vergessene Geld zu holen, mit dem er sich zu der mitgeführten Brotmahlzeit Sprudel kaufen wollte, steht auf dem Rückweg zur Wohnung nicht unter Versicherungsschutz.
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine andere Beurteilung ist nur dann möglich, wenn die Rückkehr in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit steht.
2. Eine Wegstrecke von 280 Metern kann nicht mehr als geringfügig angesehen werden.
Normenkette
RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 6. November 1974 und des Sozialgerichts Marburg vom 27. Februar 1973 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der bei der Klägerin für den Fall der Krankheit versicherte Beigeladene ist Bauarbeiter; er erlitt am 29. September 1969 einen Unfall. An diesem Tag begab er sich morgens mit einem Mofa auf den Weg zu seiner etwas mehr als einen Kilometer entfernten Arbeitsstelle. Nachdem er etwa 280 m zurückgelegt hatte, wendete er, um seine in der Wohnung vergessene Geldbörse zu holen. Mit dem darin enthaltenen Geld wollte er sich zu seiner mitgeführten Brotmahlzeit Sprudel kaufen. Vor dem Erreichen seiner Wohnung wurde er beim Überqueren einer Straße von einem Kraftwagen angefahren und erheblich verletzt. Die Klägerin gewährte dem Beigeladenen bis zum 28. März 1971 u. a. Kranken- und Hausgeld. Ihren auf § 1504 Reichsversicherungsordnung (RVO) gestützten Ersatzanspruch lehnte die Beklagte ab, da der Beigeladene keinen Arbeitsunfall erlitten habe.
Das Sozialgericht (SG) Marburg hat die Beklagte dem Grunde nach verurteilt, der Klägerin die Leistungen wegen des Arbeitsunfalls vom 29. September 1969 in gesetzlicher Höhe zu erstatten (Urteil vom 27. Februar 1973). Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat die dagegen eingelegte Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 6. November 1974). Seiner Auffassung nach stand das Holen der Geldbörse noch in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang mit der Tätigkeit des Beigeladenen als Bauarbeiter.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und wie folgt begründet: Die vom Beigeladenen am Unfalltage beabsichtigte und seit der Abfahrt von zu Hause eingeschlagene Wegrichtung zerfalle in zwei deutlich voneinander zu unterscheidende Teile. Zunächst sei der Beigeladene etwa 280 m in Richtung auf seine Arbeitsstätte gefahren. Auf dieser Wegstrecke sei er unbedenklich nach § 550 RVO versichert gewesen. Dann habe er aber den Weg zur Arbeitsstätte unterbrochen, indem er umgekehrt sei. Dieser Weg habe ihn zunächst nach Hause zurückführen sollen, wo er die Geldbörse holen wollte, um dann erneut zu der Stelle zu fahren, wo er umgekehrt war. Von dieser Stelle aus und bis zu dieser Stelle hin und zurück sei der Weg des Beigeladenen nicht auf die Erreichung der Arbeitsstätte gerichtet gewesen, sondern habe sich nur auf das Holen der in der Wohnung vergessenen Geldbörse bezogen. Der Vorgang habe mit der versicherten Arbeitstätigkeit nicht hinreichend zu tun gehabt. Es habe am Morgen noch gar nicht festgestanden, daß der Beigeladene zur Mittagszeit ein so starkes Durstgefühl entwickelt haben würde, daß er am Nachmittag nicht hätte weiterarbeiten können, falls er es nicht befriedigt hätte.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Hessischen LSG vom 6. November 1974 und des SG Marburg vom 27. Februar 1973 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise
die Sache an das Hessische LSG zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtenen Urteile für zutreffend.
Der Beigeladene hat sich zur Sache nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 SGG).
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Ersatz der Kosten, die ihr aus Anlaß des Unfalls entstanden sind, den der bei ihr für den Fall der Krankheit versicherte Peter J (Beigeladener) am 29. September 1969 erlitten hat (§ 1504 RVO). Denn der Unfall war kein Arbeitsunfall. Nach § 550 Abs. 1 RVO, der mit dem bis zum 31. Dezember 1973 geltenden § 550 Satz 1 RVO identisch ist (vgl. § 15 Nr. 1 des Siebzehnten Rentenanpassungsgesetzes vom 1. April 1974 - BGBl I 821), gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Der in dieser Vorschrift verwendete Begriff des Weges umfaßt das Sichfortbewegen auf einer Strecke, die durch einen Ausgangs- und einen Zielpunkt begrenzt ist (vgl. BSG 11, 156, 157; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Aufl. S. 486 b). Solange sich der Beigeladene am Unfalltag von seiner Wohnung auf seine Arbeitsstelle zu bewegte, stand er danach unter Versicherungsschutz. Der Unfall ereignete sich jedoch, nachdem der Beigeladene gewendet hatte und sich von der Arbeitsstelle fort wieder in Richtung auf seine Wohnung hinbewegte. Hierbei handelt es sich, weil die Zielrichtung zur Arbeitsstelle nicht beibehalten wurde, um das Einschieben eines zusätzlichen Weges in die eigentliche Fahrstrecke (vgl. SozR Nr. 5, 12, 63 zu § 543 RVO a. F.; BG 1972, 355; Brackmann aaO S. 486 qI und sI). Die dadurch bewirkte Unterbrechung des Weges nach dem Ort der Tätigkeit (§ 550 Abs. 1 RVO) kann auch unter Berücksichtigung des Umstandes, daß der Beigeladene sich im Unfallzeitpunkt noch im öffentlichen Verkehrsraum seines Weges befand, nicht als nur geringfügig angesehen werden. Der eingeschobene Weg, der den Beigeladenen zu seiner etwa 280 m entfernt liegenden Wohnung und in die Wohnung führen sollte, bildete innerhalb des Weges zur Arbeitsstelle eine deutliche Zäsur, weil er sich von diesem sowohl nach seiner Zielrichtung als auch nach seiner Zweckbestimmung unterschied (vgl. BG 1972, 355; Brackmann aaO S. 486 u und v).
Während der somit erheblichen Unterbrechung des Weges nach dem Ort der Tätigkeit wäre Versicherungsschutz für den Beigeladenen nur gegeben, wenn das beabsichtigte Holen der zu Hause vergessenen Geldbörse, um sich mit dem darin enthaltenen Geld in der Mittagspause zu der mitgeführten Brotmahlzeit Sprudel zu kaufen, für sich betrachtet mit der versicherten Tätigkeit des Beigeladenen in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang gestanden hätte. Das ist jedoch nicht der Fall.
Da die Besorgung von Nahrungsmitteln im allgemeinen dem unversicherten persönlichen Bereich des Versicherten zuzurechnen ist, kann nichts anderes für das Beschaffen des dafür erforderlichen Geldes gelten. Es reicht zur Begründung eines ursächlichen Zusammenhanges mit der versicherten Tätigkeit nicht aus, daß der Beigeladene sich mit dem Geld während der Mittagspause Sprudel kaufen wollte. Bei dem Holen des zu Hause vergessenen Geldes handelt es sich um eine der Aufnahme der versicherten Tätigkeit vorausgehende Verrichtung, die sich - wie der erkennende Senat bereits in vergleichbaren Fällen ausgeführt hat (BB 1969, 1272; BG 1972, 355) - hinsichtlich ihrer Beziehungen zur versicherten Arbeitstätigkeit grundsätzlich nicht von zahlreichen sonstigen, dem unversicherten persönlichen Bereich zuzurechnenden Verrichtungen unterscheidet, die nötig sind, damit der Weg zur Arbeitsstätte angetreten und die Arbeit durchgeführt werden kann. Solche vorbereitenden Verrichtungen und Tätigkeiten - wie z. B. die Besorgung einer Fahrkarte für den Weg zur Arbeitsstätte (BSG 7, 255) und das Auftanken eines Fahrzeuges, das für den Weg zur Arbeitsstätte benutzt werden soll (BSG 16, 77) - können zwar zugleich auch der Erfüllung von Pflichten aus dem Arbeitsvertrag dienen und sind vielfach hierzu sogar unentbehrlich. Dadurch werden sie aber noch nicht Bestandteil der unter Versicherungsschutz stehenden Tätigkeit. Der vorliegende Fall bietet keine Besonderheiten, die einen rechtlich wesentlichen Zusammenhang zwischen dem Holen des Geldes und der versicherten Tätigkeit begründen könnten.
Der erkennende Senat stimmt der Auffassung des LSG nicht zu, daß es für die Frage des Versicherungsschutzes keinen Unterschied bedeute, ob sich ein Versicherter ein Getränk erst in der Arbeitspause beschaffe, weil er ein Durstgefühl verspüre, oder ob er sich das Getränk vor oder bei Antritt des Weges zur Arbeitsstätte besorge. Der vor Arbeitsantritt unternommene Weg zum vorsorglichen Einkauf von Nahrungsmitteln und Getränken ist versicherungsrechtlich nicht dem Weg gleichzusetzen, der im Zusammenhang mit einer Arbeitspause von der Arbeitsstätte aus zurückgelegt wird, um Lebensmittel oder Getränke für den alsbaldigen Verzehr am Arbeitsplatz zu kaufen. Dasselbe gilt für das Besorgen der dafür erforderlichen Geldmittel. An dieser Auffassung hält der erkennende Senat trotz vereinzelter Kritik (vgl. Anm. in BG 1972, 355) fest, da andernfalls eine klare Abgrenzung der versicherten Tätigkeit von den unversicherten Vorbereitungshandlungen nicht getroffen werden kann. Auch das Reichsversicherungsamt hat die Besorgung von Lebensmitteln vor Beginn der Arbeitszeit nicht den Fällen gleichgeachtet, in denen von der Arbeitsstelle aus Wege zur Besorgung von Lebensmitteln oder Getränken angetreten wurden (EuM 21, 281; 48, 162 und 164 Fußnote).
Da hiernach der Beigeladene im Zeitpunkt des Unfalls nicht unter Versicherungsschutz stand, es sich somit um keinen Arbeitsunfall gehandelt hat, steht der Klägerin gegen die Beklagte der geltend gemachte Ersatzanspruch nicht zu. Die Urteile der Vorinstanzen waren daher aufzuheben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen