Leitsatz (amtlich)
Die Umstufung eines freiwilligen Mitglieds einer Ersatzkasse in eine Klasse mit höherem Beitrag ist ein belastender Verwaltungsakt, der die vorherige Anhörung des Versicherten erfordert (SGB 1 § 34 Abs 1). Die unterbliebene Anhörung kann im Widerspruchsverfahren nachgeholt und dadurch der fehlerhafte Verwaltungsakt geheilt werden (Anschluß an BSG 1977-07-28 2 RU 30/77 = SozR 1200 § 34 Nr 1).
Normenkette
SGB 1 § 34 Abs. 1 Fassung: 1975-12-11; SGG § 95 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Bremen (Entscheidung vom 18.03.1977; Aktenzeichen L 1 Kr 15/76) |
SG Bremen (Entscheidung vom 27.10.1976; Aktenzeichen 5 Kr 8/76) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 18. März 1977 aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 27. Oktober 1976 zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über eine Umstufung des Klägers in der Beitragsklasse und um seine Anhörung im Verwaltungsverfahren.
Der Kläger war bei der beklagten Ersatzkasse als freiwilliges Mitglied in der Klasse 930 versichert. Seine Ehefrau war pflichtversichertes Mitglied der Beklagten und hatte im Jahre 1976 ein durchschnittliches Arbeitseinkommen von 887,45 DM monatlich. Durch Schreiben vom 9. Februar 1976 teilte die Beklagte dem Kläger mit, daß sie ihn wegen der Höhe des Einkommens seiner Ehefrau vom 1. März 1976 an der Beitragsklasse 800 zuteile. Der Kläger erhob dagegen Widerspruch und berief sich ua darauf, daß seine Umstufung durch die Versicherungsbedingungen der Beklagten nicht gedeckt sei. Die Widerspruchsstelle der Beklagten wies den Widerspruch mit Bescheid vom 3. März 1976 zurück.
Mit der Klage vor dem Sozialgericht (SG) hat der Kläger sein Ziel, die Aufhebung des Umstufungsbescheides zu erreichen, weiterverfolgt. Das SG Bremen hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. Oktober 1976). Es hat die Umstufung als im Einklang mit den Versicherungsbedingungen stehend angesehen. Die Beklagte habe die Anhörungspflicht nach § 34 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - SGB I - nicht verletzt, weil sich in seinem Fall die entscheidungserheblichen Tatsachen nicht geändert hätten. Die Änderung der Versicherungsbedingungen habe eine große Anzahl von Fällen betroffen, deshalb habe seine Anhörung unterbleiben dürfen.
Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Bremen das Urteil des SG sowie die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Revision zugelassen (Urteil vom 18. März 1977): Die Beklagte habe die durch § 34 Abs 1 SGB I vorgeschriebene Anhörungspflicht verletzt. Ihr Umstufungsbescheid sei ein Verwaltungsakt, und vor dessen Erlaß habe sie dem Kläger nicht Gelegenheit zur Äußerung gegeben. Die Ausnahmebestimmung des § 34 Abs 2 Nr 4 SGB I greife nicht ein, weil die Beklagte nicht Verwaltungsakte in größerer Zahl erlassen habe. Die Anhörung vor Erlaß des Verwaltungsaktes könne sowohl dem Wortlaut wie auch dem Sinn der Bestimmung nach nicht durch eine Anhörung nach dessen Erlaß ersetzt werden. Demgegenüber sei es unerheblich, daß der angefochtene Verwaltungsakt dem geltenden Recht entspreche.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten. Sie ist der Auffassung, daß der Umstufungsbescheid nicht als Verwaltungsakt, sondern nur als schlichtes Verwaltungshandeln anzusehen sei. Des weiteren greife § 34 Abs 2 SGB I ein, weil sie in ca 200 Fällen eine Umstufung durchgeführt habe und damit die Voraussetzungen dieser Ausnahmevorschrift erfüllt seien. Schließlich sei der Kläger im Widerspruchsverfahren angehört worden, und damit habe sie das gesetzliche Erfordernis zulässigerweise nachgeholt. Im gleichen Sinne habe auch der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) entschieden. Daß diese Auslegung der gesetzlichen Bestimmung zutreffe, bestätige der Entwurf des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - SGB X.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 18. März 1977 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 27. 10. 1976 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er führt aus, daß der Umstufungsbescheid ein Verwaltungsakt sei, weil die Beklagte damit in seine Rechtsstellung eingegriffen habe. Die Anzahl der von der Beklagten erlassenen Bescheide sei nicht so groß, daß die Ausnahmeregelung des § 34 Abs 2 SGB I anzuwenden sei. Die unterbliebene Anhörung könne schließlich auch nicht nach Erlaß des Verwaltungsaktes nachgeholt werden. Dem Gesetzgeber sei daran gelegen gewesen, die Rechtsstellung des Versicherten im Verwaltungsverfahren zu stärken, um dadurch das Vertrauensverhältnis zwischen Bürger und Sozialverwaltung zu sichern. Deshalb sei auch die Anhörungsvorschrift in den Allgemeinen Teil des SGB aufgenommen worden, während die Vorschriften des SGB X nur eine mehr verfahrensmäßige Bedeutung hätten. Die von der Beklagten zitierten Entscheidungen des BSG beträfen einen anderen Sachverhalt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Das Schreiben der Beklagten an den Kläger vom 9. Februar 1976, mit dem seine Umstufung von der Beitragsklasse 930 in die Klasse 800 angeordnet wird, ist ein Verwaltungsakt; das haben bereits die Vorentscheidungen zutreffend dargelegt. Die Umstufung ist eine Entscheidung eines Sozialversicherungsträgers zur Regelung eines Einzelfalles, der auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen - dem Kläger gegenüber - gerichtet ist. Sie erfüllt damit die Merkmale eines Verwaltungsaktes (vgl dazu Entwurf eines Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - § 29 in BT-Drucks 8/2034 S 11 sowie Urteil des Senats vom 20. Dezember 1978 - 3 RK 42/78 - zur Veröffentlichung vorgesehen). Die Beklagte hat in die Rechtsposition des Klägers unmittelbar eingewirkt, weil durch die Umstufung für ihn andere Beitragsverpflichtungen entstehen. Da ihm die neue Beitragsklasse eine höhere Beitragslast auferlegt als vorher, hat der Verwaltungsakt der Beklagten vom 9. Februar 1976 in die Rechte des Klägers belastend eingegriffen. Damit sind die Voraussetzungen des § 34 Abs 1 SGB I erfüllt. Die Beklagte wäre mithin verpflichtet gewesen, dem Kläger vor Erlaß des Verwaltungsaktes Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG, die für das Revisionsgericht bindend sind (§ 163 SGG), hat die Beklagte dem Kläger vor Erlaß des Bescheides keine Gelegenheit zur Äußerung gegeben. Damit hat sie die ihr durch § 34 Abs 1 SGB I auferlegte Verpflichtung verletzt.
Es bedarf in diesem Rechtsstreit keiner Entscheidung der Fragen, ob die Beklagte von der Anhörung gemäß § 34 Abs 2 Nr 4 SGB I hätte absehen dürfen oder ob die Umstufung der verschiedenen Versicherten als gleichartige Verwaltungsakte anzusehen sind und ob das Erfordernis einer größeren Anzahl erlassener Verwaltungsakte erfüllt ist. Diese Fragen können dahingestellt bleiben, weil im Falle des Klägers der dem Verwaltungsverfahren anhaftende Mangel jedenfalls geheilt worden ist. Dem Kläger ist im Widerspruchsverfahren Gelegenheit zur Äußerung eingeräumt worden, er hat davon mit seinem Widerspruch vom 18. Februar 1976 Gebrauch gemacht, und die Beklagte ist in ihrem Widerspruchsbescheid auf die Ausführungen des Klägers eingegangen. Daß sie dem Widerspruch des Klägers nicht stattgegeben hat, ist für das Erfordernis der Anhörung unerheblich.
Der 2. Senat des BSG hat in seinem Urteil vom 28. Juli 1977 (SozR 1200 § 34 SGB 1 Nr 1) entschieden, daß die in § 34 SGB I vorgeschriebene, aber zunächst unterbliebene Anhörung eines Beteiligten im Widerspruchsverfahren nachgeholt werden kann. Der erkennende Senat schließt sich dieser Entscheidung nach eigener Prüfung an. Die Vorschrift des § 34 SGB I dient dazu, dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs - einem Wesensmerkmal des Rechtsstaats - auch im Verwaltungsverfahren Geltung zu verschaffen.
Der Beteiligte, in dessen Rechte durch einen Verwaltungsakt eingegriffen werden soll, darf nicht mit einer belastenden Verwaltungsentscheidung überrascht werden, ihm muß vielmehr die Möglichkeit gegeben sein, zu dem beabsichtigten Eingriff Stellung zu nehmen. Er muß die Möglichkeit haben, alle die Erwägungen vorzubringen und Tatsachen bekanntzumachen, die nach seiner Sicht gegen den Erlaß des Verwaltungsaktes sprechen. Nur eine derartige Verfahrensweise bietet die Gewähr dafür, daß bei der Entscheidung des Verwaltungsverfahrens auch solche Umstände berücksichtigt werden, die zwar für die Sachlösung wesentlich sind, aber in den bisherigen Verfahrensablauf noch nicht eingeflossen waren, und zwar möglicherweise deswegen, weil dieser Verfahrensabschnitt dem Betroffenen nicht zugänglich gewesen ist.
Wird die Anhörung des Beteiligten im Widerspruchsverfahren nachgeholt, so bleibt zwar der Verwaltungsakt selbst mit dem Fehlen des rechtlichen Gehörs behaftet, aber dieser Mangel kann künftig keine Wirkungen mehr entfalten und wiegt deshalb nicht so schwer, daß er zur Aufhebung des Verwaltungsaktes führen müßte. Insoweit erlangt die Vorschrift des § 95 SGG besondere Bedeutung. Danach ist bei Durchführung eines Vorverfahrens Gegenstand der Klage der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat. Von entscheidender Bedeutung ist die Tatsache, daß das Widerspruchsverfahren noch im Organisationsbereich des Versicherungsträgers durchgeführt wird und die Widerspruchsentscheidung für den Versicherungsträger verpflichtend ist. Der Beteiligte kann jedenfalls vor dieser Widerspruchsentscheidung alle ihm wesentlich erscheinenden Gesichtspunkte zu Gehör bringen, so daß sie bei dessen Erlaß Gegenstand des (Vor-)Verfahrens geworden sind. Der Widerspruchsbescheid ist dann die das Verwaltungsverfahren abschließende Entscheidung, die, sofern kein Rechtsmittel eingelegt wird, in dieser Gestalt Bindungswirkung erlangt (§ 77 SGG) und dann materiell-rechtliche Wirkungen entfaltet oder aber Ausgangspunkt der sozialgerichtlichen Nachprüfung wird. Die Anhörung des Beteiligten im Widerspruchsverfahren führt damit zum gleichen Effekt wie seine Anhörung vor Erlaß des Verwaltungsaktes.
Da der Kläger im Widerspruchsverfahren Gelegenheit hatte, seine Einwendungen vorzubringen - wovon er auch Gebrauch gemacht hat -, ist der Mangel des Verwaltungsaktes der Beklagten vom 9. Februar 1976 geheilt worden (so im Ergebnis auch Bundesverwaltungsgericht, vgl BVerwGE 27, 295, 301; ihm folgend: BSGE 44, 207, 212 f).
Der Umstufungsbescheid der Beklagten ist auch nicht deshalb zu beanstanden, weil damit die Rechtsstellung des Klägers zu seinen Lasten verändert wird. Das LSG hat ausgeführt, daß der materiell-rechtliche Inhalt des Bescheides dem geltenden Recht entspreche, und der Kläger hat insoweit keine Einwendungen mehr erhoben. Allerdings ist er der Auffassung, der am 1. Januar 1975 in Kraft getretene 3. Nachtrag der Versicherungsbedingungen der Beklagten könne in dem Umfang keine Geltung entfalten, als die belastenden Bestimmungen sein Versicherungsverhältnis beträfen. In die durch Mitgliedschaft begründete Rechtsposition könne nicht rückwirkend zu Ungunsten eines Versicherten eingegriffen werden. Diese Rechtsauffassung des Klägers trifft nicht zu.
Der Kläger ist freiwilliges Mitglied einer Ersatzkasse. Nach Art 2 § 4 Abs 2 der 12. Verordnung zum Aufbau der Sozialversicherung idF der 15. Verordnung vom 1. April 1937 (RGBl I, 439) ist die Regelung derartiger Versicherungsverhältnisse grundsätzlich der Satzung vorbehalten; jedoch findet die autonome Rechtssetzungsbefugnis der Kasse ihre Grenze in den übergeordneten Normen (§ 323 RVO). Die Umstufung des Klägers beruht auf einer Änderung des § 7 Abs 12 der Versicherungsbedingungen (VB) der Beklagten. Diese verstößt jedoch nicht gegen höherrangiges Recht. Der 3. Nachtrag zur Satzung änderte den § 7 Abs 12 VB, allein diese Änderung bewirkte keinen rechtswidrigen rückwirkenden Eingriff in die Rechtsstellung der Versicherten, wie der Kläger meint. Die Änderung der VB ist am 1. Januar 1975 in Kraft getreten (Art 1 Nr 26 des 3. Nachtrags der VB). Sie galt von diesem Zeitpunkt an für alle Mitglieder der Kasse, bei denen die in dem Nachtrag bestimmten Voraussetzungen nach dessen Inkrafttreten eintraten. Die Ansicht des Klägers, daß belastende Satzungsänderungen nur für zukünftige Mitgliedschaften Geltung beanspruchen könnten, findet im Gesetz keine Stütze; sie würde überdies zu dem Ergebnis führen, daß eine einmal begründete Mitgliedschaft durch Satzungsänderungen nur noch verbessert werden könnte. Ein solches Ergebnis steht aber im Widerspruch zum Prinzip des Solidarausgleichs, auf dem die gesetzliche Krankenversicherung beruht. Das Verbot des Erlasses rückwirkender belastender Normen kann lediglich solche normativen Regelungen betreffen, die aus bereits eingetretenen Tatsachen rückwirkende Rechtsfolgen ableiten. Beim Kläger traten die in § 7 Abs 12 VB beschriebenen tatsächlichen Voraussetzungen in der Person seiner Ehefrau erst am 1. Januar 1976 ein, und seine Umstufung nahm die Beklagte zum 1. März 1976 vor.
Da der Umstufungsbescheid der Beklagten materiell-rechtlich nicht zu beanstanden ist und der Rechtsmangel der unterbliebenen Anhörung des Klägers im Widerspruchsverfahren geheilt wurde, war das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen