Leitsatz (amtlich)
In einem Senat des Landessozialgerichts, der als "ordentlicher Senat" gebildet ist und tätig wird, darf nicht mehr als ein Hilfsrichter mitwirken (Anschluß BSG 1959-02-04 10 RV 663/58 und BSG 1959-09-15 8 RV 301/59).
Normenkette
SGG § 33 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 18. Januar 1957 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I Der Kläger war vom 15. November 1948 bis zum 31. März 1953 als Angestellter im Innenministerium des Landes Schleswig-Holstein in K beschäftigt. Von seinen Dienstbezügen wurden während dieser Zeit Beiträge zur Arbeitslosenversicherung einbehalten und entrichtet. Am 23. Februar 1953 wurde der Kläger in den juristischen Vorbereitungsdienst des Landes als Referendar übernommen und fortan in den entsprechenden Ausbildungsstationen verwendet. Am 25. November 1955 bestand er die Große Staatsprüfung und schied damit aus dem Vorbereitungsdienst aus.
Am 1. Dezember 1955 beantragte der Kläger beim Arbeitsamt Kiel Arbeitslosenfürsorgeunterstützung (Alfu); er berichtigte anschließend sein Begehren aber dahin, daß versicherungsmäßige Arbeitslosenunterstützung (Alu) gemeint war. Mit Bescheid vom 8. Dezember 1955 lehnte das Arbeitsamt seinen Unterstützungsantrag ab, weil er in den letzten zwölf Monaten vor der Arbeitslosmeldung nicht mindestens 26 Wochen in einer versicherungspflichtigen Beschäftigung gestanden habe und eine Anwartschaft auf Alu somit nicht erfüllt sei. Der Widerspruch des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 3. Januar 1956 zurückgewiesen. Seine Klage wurde durch Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 26. März 1956 abgewiesen, das die Anwartschaft auf versicherungsmäßige Alu ebenfalls als nicht erfüllt erachtete.
Die Berufung des Klägers hiergegen wurde durch Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 18. Januar 1957 zurückgewiesen. Revision wurde nicht zugelassen. Das Landessozialgericht stellte seine Entscheidung zusätzlich darauf ab, daß selbst bei Anrechnung der Ausbildungsdauer als Referendar der Kläger mehr als zwei Jahre nicht in einer versicherungspflichtigen Beschäftigung gestanden habe und damit auch die erweiterte Rahmenfrist nach dem Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) a.F. überschritten sei.
Gegen dieses am 15. Februar 1957 zugestellte Urteil hat der Kläger am 14. März 1957 Revision eingelegt. Er beantragte,
die Beklagte zu verurteilen, unter Aufhebung des entgegenstehenden Bescheids ihm antragsgemäß vom 1. Dezember 1955 an Arbeitslosenunterstützung zu gewähren.
Mit der Revisionsbegründung vom 15. April 1957 rügte der Kläger als Mangel im Verfahren des Landessozialgerichts u.a., daß es unter Vorsitz eines Landessozialgerichtsrats sowie in der Besetzung mit zwei Hilfsrichtern verhandelt und entschieden habe. Materiell-rechtlich machte er geltend, daß die Vorschriften des § 95 AVAVG a.F. mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 des Grundgesetzes (GG) nicht vereinbar seien.
Die Beklagte beantragte,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, daß die Verfahrensrügen des Klägers sämtlich unzutreffend seien und daß insbesondere das Berufungsgericht in ordnungsmäßiger Besetzung verhandelt und entschieden habe. Sachlich habe das angefochtene Urteil auch bei Heranziehung anderer Richter der Rechtslage wegen nicht anders ausfallen können. Der Unterstützungsanspruch des Klägers müsse immer an der Nichterfüllung der Anwartschaft scheitern.
Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird im übrigen auf deren Schriftsätze Bezug genommen.
II Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt sowie begründet worden (§ 164 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Da das Landessozialgericht die Revision nicht zugelassen hat, findet sie nur statt, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des Landessozialgerichts gerügt wird (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) und auch vorliegt (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts; vgl. BSG. 1 S. 150).
Das ist hier der Fall.
In der Sitzung vom 18. Januar 1957 hat der 3. Senat des Landessozialgerichts Schleswig in der vorliegenden Streitsache unter Mitwirkung von Landessozialgerichtsrat P als Vorsitzendem, Oberamtsrichter Dr. S und Sozialgerichtsrat Z als Berufsrichtern sowie Landessozialrichter E und Landessozialrichter B als ehrenamtlichen Beisitzern entschieden. Dem vom Präsidium des Landessozialgerichts Schleswig unter dem 10. Dezember 1956 verabschiedeten Besetzungs- und Geschäftsverteilungsplan für das Kalenderjahr 1957 zufolge handelt es sich bei dem 3. Senat, dem u.a. alle Streitverfahren aus der Arbeitslosenversicherung sowie den übrigen Aufgabengebieten der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung zugeteilt sind, nicht um einen Senat auf Zeit, sondern offensichtlich um einen Dauersenat (ordentlichen Senat). Ihm gehörten nach Punkt II des Präsidialbeschlusses regelmäßig Senatspräsident S als Vorsitzender und Landessozialgerichtsrat P sowie Oberamtsrichter Dr. S als Berufsrichter an. Nach Punkt III jenes Beschlusses war als Vertreter des Präsidenten des 3. Senats Landessozialgerichtsrat P bestimmt, nach Punkt V ferner als Vertreter der beisitzenden Berufsrichter bei tatsächlicher Verhinderung der (sonst dem 1. Senat angehörige) Sozialgerichtsrat Z zugewiesen. Laut amtlicher Auskunft (§ 106 SGG) des Präsidenten des Landessozialgerichts Schleswig vom 12. November 1958 waren der damalige Oberamtsrichter Dr. S seit dem 15. Oktober 1956, Sozialgerichtsrat Z seit dem 8. Oktober 1956 als Hilfsrichter beim Landessozialgericht beschäftigt. Gemäß Beschluß des LSG-Präsidiums vom 17. Dezember 1956 übernahm für die Zeit vom 18. bis zum 31. Januar 1957 Senatspräsident S (3. Senat) wegen Erkrankung des Senatspräsidenten P (2. Senat) dessen Vorsitz dort. Daher war der 3. Senat des Landessozialgerichts Schleswig unbestritten in der mündlichen Verhandlung vom 18. Januar 1957 - unter Vorsitz des Landessozialgerichtsrats P zugleich mit zwei Hilfsrichtern besetzt.
In diesem Termin führte den Vorsitz im 3. Senat zulässigerweise Landessozialgerichtsrat P weil er ordnungsgemäß zum Vertreter des ordentlichen Senatspräsidenten bestellt war (§§ 34, 36 SGG). Hilfsrichter dürfen in der Sozialgerichtsbarkeit zur Vertretung, zur Fortbildung und zur Bewältigung eines vorübergehenden (besonderen) Geschäftsanfalls tätig werden. Die gleichzeitige Mitwirkung von zwei Hilfsrichtern in einem Senat widerspricht jedoch rechtsstaatlichen Grundsätzen in jedem Fall, wie bereits der 10. Senat des Bundessozialgerichts in seinem Urteil vom 4. Februar 1959 (vgl. BSG. 9 S. 137 ff.) des Näheren ausgeführt hat. Maßgebend für diese Feststellung sind insbesondere die Erwägungen, daß sowohl die Unabhängigkeit und die Stetigkeit der Rechtspflege (vgl. BGH 12 S. 1 ff.) wie auch das Gewicht der Entscheidungen höherer Gerichte durch die ausgedehnte Verwendung von Hilfsrichtern leiden müssen. Daß die Rechtsuchenden - wie das Beispiel des Klägers beweist - einem Gericht mit Vorbehalten oder gar Mißtrauen begegnen, dessen Mitglieder nicht die im Rechtsstaat zu fordernde volle richterliche Unabhängigkeit besitzen (vgl. Art. 97 GG; § 1 SGG; § 1 GVG), bedarf keiner besonderen Darlegung. Deshalb verbietet der Rechtsstaatsgedanke, zu dessen kennzeichnenden Ausprägungen die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit sowie die strengen Vorschriften der Gerichtsverfassung über die Besetzung der Spruchkörper gehören (vgl. BVerfG. 4 S. 412 ff.), jedenfalls die gleichzeitige Mitwirkung zweier Hilfsrichter auf einer Richterbank. Ob diese Hilfsrichter die Stimmenmehrheit im Spruchkörper besitzen oder nicht, kann dabei nicht entscheidend sein. Wenn überhaupt in einem nach rechtsstaatlichen Prinzipien zusammengesetzten Richterkollegium Personen mitwirken dürfen, deren richterliche Unabhängigkeit in Zweifel gezogen werden könnte, muß unbedingt ihr Einfluß auf die Entscheidung so gering als möglich gehalten werden. Die Grenze hierfür ist überschritten, wenn in einem Senat gleichzeitig mehr als ein Hilfsrichter mitwirkt.
Diese Rechtsgedanken und Grundsätze, die von der Rechtsprechung anderer Senate des Bundessozialgerichts bislang schon auf die "Zeitsenate" der Landessozialgerichte (§ 210 SGG) angewendet wurden (vgl. 8. Senat, Beschl. v. 15.9.1959 - 8 RV 301/59 - u. 9. Senat, Urt. v. 3.11.1959 - 9 RV 758/56 -), müssen mit mindestens dem gleichen Gewicht erst recht oder noch nachhaltiger für die ordentlichen Senate (Dauersenate) gelten. Diese nämlich sind die vom Gesetzgeber vorgesehenen regelmäßigen Träger der laufenden Gerichtsbarkeit ohne Übergangs- oder Aushilfscharakter (§ 33 SGG), und bei ihnen wird beispielsweise regelmäßig ein Senatspräsident im Vorsitz gefordert (§ 34 SGG).
Aus den vorher umrissenen rechtsstaatlichen Motiven hatte bereits - ähnlich wie der Regierungs-Entwurf eines Richtergesetzes (Bundestag, 3. Wahlperiode 1957 Drucks. Nr. 516) - auch der Regierungs-Entwurf einer Verwaltungsgerichtsordnung (Bundestag, 3. Wahlperiode 1957 Drucks. Nr. 55) vorgesehen, daß Hilfsrichter wie auch Richter im Nebenamt nicht Vorsitzende eines Senats oder einer Kammer sein können, und schließlich, daß einem Senat oder einer Kammer nicht mehr als ein Hilfsrichter oder Richter im Nebenamt angehören darf. Letztere Forderung hat inzwischen in § 18 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) vom 21. Januar 1960 (Bundesgesetzblatt I S. 17 ff.) mit folgendem Wortlaut Gesetzeskraft erlangt: "Richter im Nebenamt und Hilfsrichter können nicht den Vorsitz führen. In einer Kammer (Senat) darf nicht mehr als ein Richter im Nebenamt oder Hilfsrichter mitwirken".
Da die Sozialgerichte von Gesetzes wegen (§ 1 SGG) "besondere Verwaltungsgerichte" sind, und weil deshalb auch die Sozialgerichtsbarkeit und die allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit in ihrem verfahrensrechtlichen System wie in der Gerichtsverfassung grundsätzlich übereinstimmen müssen, soweit nicht aus sachlichen Gründen Unterschiede geboten sind (vgl. BSG.6 S. 135), gelangte der erkennende Senat nach alledem zu der Entscheidung, daß in einem Senat des Landessozialgerichts, der als ordentlicher Senat gebildet ist und tätig wird, nicht mehr als ein Hilfsrichter mitwirken darf. Mithin war der 3. Senat des Landessozialgerichts Schleswig in der mündlichen Verhandlung vom 18. Januar 1957 wegen der Mitwirkung des Oberamtsrichters Dr. S und des Sozialgerichtsrats Z als Hilfsrichter nicht vorschriftsmäßig besetzt.
Der Kläger hat die vorschriftswidrige Besetzung des Gerichts ordnungsgemäß gerügt; seine Revision ist wegen dieses Verfahrensmangels statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Das angefochtene Urteil beruht auf diesem Verfahrensmangel, der auch in der Sozialgerichtsbarkeit als unbedingter Revisionsgrund gilt (§ 202 SGG verb. mit § 551 Nr. 1 ZPO; vgl. BSG. 5 S. 156 ff.). Das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 18. Januar 1957 mußte daher ohne weitere Prüfungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen werden.
Dieses wird sich bei der erneuten Erörterung des Rechtsstreits in gesetzmäßiger Besetzung mit dem Vorbringen des Klägers zu befassen haben.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen