Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 10.07.1963)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 10. Juli 1963 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Rechtsstreit betraf die Frage, ob die beklagte Landkrankenkasse (LKK) oder die beigeladene Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) für die Krankenversicherung der beigeladenen Forstarbeiter zuständig ist (§§ 153, 156 der Reichsversicherungsordnung –RVO–).

Die beklagte LKK ist nach ihrer Satzung für den Amtsgerichtsbezirk Rotthalmünster errichtet, der sich über ein Teilgebiet des Landkreises Griesbach (Niederbayern) erstreckt (vgl. Bayer. Ges. über die Bestimmung der Sitze der ordentlichen Gerichte und die Einteilung ihrer Gerichtsbezirke vom 17. November 1956 – Ber. Sammlung des bayer. Landesrechts Bd. III S. 7 –). Sie hat ihren Sitz in Rotthalmünster.

Die beigeladene AOK ist nach ihrer Satzung für die Landkreise Eggenfelden, Griesbach und Pfarrkirchen errichtet. Sie hat ihre Hauptverwaltung in Pfarrkirchen.

Das Forstamt Griesbach umfaßt den Landkreis Griesbach mit seinen Gemeinden und gemeindefreien Gebieten sowie vom Landkreis Pfarrkirchen den Staatswald Asenham (VO über die behördliche und gebietliche Gliederung der bayer. Forstverwaltung vom 14. Dezember 1956, Ber. Sammlung des bayer. Landesrechts Bd. IV S. 490).

Zum Bereich des Forstamts Griesbach gehört der Revierförsterbezirk Aigen. Die diesem zugeteilten staatlichen Forstgrundstücke liegen in den Gemeinden Aigen und Egglfing sowie in der Hauptsache im ausmärkischen Forstbezirk Riedenburger Wald. Zum Forstamt Griesbach gehört ferner der Oberförsterbezirk Kösslarn. Die diesem zugeteilten staatlichen Forstgrundstücke liegen in den Gemeinden Kösslarn, Hubreith, Münchham und Asenham sowie in der Hauptsache im ausmärkischen Forstbezirk Grafenwald.

Die beigeladenen Forstarbeiter zu Nr. 2 bis 8 arbeiten in der Regel im Revierforstbezirk Aigen, die Beigeladenen zu Nr. 9 bis 12 im Oberförsterbezirk Kösslarn.

Wie das Landessozialgericht (LSG) festgestellt hat, waren die Beigeladenen meist in den Förstereibezirken Aigen und Kösslarn und zum Teil vorübergehend in Gemeinden anderer Förstereibezirke tätig.

Das Forstamt Griesbach hatte bisher die Forstarbeiter jeweils bei der Krankenkasse angemeldet, in deren Bezirk sie überwiegend ihre Arbeiten verrichteten. Das war für die beigeladenen Forstarbeiter die beklagte LKK. Das Forstamt gelangte dann zu der Auffassung, daß nach § 156 RVO allein die beigeladene AOK zuständig sei; da das Forstamt sich über den Bezirk mehrerer Gemeinden erstrecke und die bei ihm beschäftigten Arbeitnehmer auf Grund Arbeitsvertrages im ganzen Forstamtsbereich eingesetzt werden könnten und eingesetzt würden, gelte der Sitz des Forstamtes als Beschäftigungsort.

Die beigeladene AOK teilt die Auffassung des Forstamtes.

Die beklagte LKK meint dagegen, die tatsächlichen Verhältnisse seien entscheidend und die beigeladenen Forstarbeiter seien fast ausschließlich in den Forstbezirken Aigen und Kösslarn tätig, daher sei § 153 RVO maßgebend; aber selbst im Falle des § 156 RVO sei nach § 964 RVO (§ 794 RVO idF des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes –UVNG–) der Sitz der Revierförsterei unmittelbarer Betriebssitz.

Da die beklagte LKK die Abmeldungen der beigeladenen Forstarbeiter nicht anerkannte, erhob das Forstamt Griesbach Klage vor dem Sozialgericht (SG) und beantragte festzustellen, daß für die bei dem Forstamt Griesbach beschäftigten Arbeitnehmer die beigeladene AOK und nicht die LKK zuständig sei. Die beigeladene AOK schloß sich dem Antrag an. Die beklagte LKK beantragte, die Klage abzuweisen.

Das SG Regensburg hat mit Urteil vom 9. März 1961 die Klage abgewiesen: § 156 RVO sei nicht anzuwenden; der Beschäftigungsort sei nach § 153 RVO zu bestimmen, weil die Forstarbeiter ständig und regelmäßig nur im Bereich der LKK arbeiteten und nur unter besonderen Umständen, z. B. Windbruch, vorübergehend in anderen Revieren eingesetzt seien.

Das Forstamt hat mit der Berufung sein Klagebegehren aufrecht erhalten. Die AOK hat sich dem Antrag angeschlossen. Die LKK beantragte, die Berufung zurückzuweisen.

Das Bayerische LSG hat mit Urteil vom 10. Juli 1963 die Berufung zurückgewiesen. Es hat sinngemäß ausgeführt, § 156 RVO sei nach der Entstehungsgeschichte nur anzuwenden, wenn die Gemeinden, in denen die wechselnde Beschäftigung stattfinde, im Bezirk verschiedener Versicherungsträger liegen; lägen sie im Bezirk desselben Versicherungsträgers, bestehe kein Anlaß, auf den Sitz des Betriebs zurückzugreifen. Die beigeladenen Arbeiter seien nicht zu einer zwischen dem Bezirk der LKK und dem der AOK wechselnden Beschäftigung angenommen. Weder die schriftlichen Arbeitsverträge noch der Manteltarifvertrag für die staatlichen Forstarbeiter in Bayern enthielten Hinweise für die Annahme, daß die vom Forstamt Griesbach eingestellten Arbeitnehmer im ganzen Bereich des Forstamtes arbeiten müßten. Dies lasse sich auch nicht aus der Arbeitsordnung für die staatlichen Forstbetriebe entnehmen, wonach das Forstamt die Arbeitnehmer den örtlichen, einem Haumeister unterstellten Arbeitsgemeinschaften zuteilt (Haumeisterschaften, die in einem Forstbezirk des Forstamtes oder in einem Teil eines Forstbezirks oder für mehrere Forstbezirke gebildet werden). Dafür, daß die beigeladenen Arbeiter nicht für den ganzen Bezirk des Forstamtes angenommen worden seien, spreche, daß sie meist aus wirtschaftlichen (eigener Grundbesitz) oder familiären Gründen ortsgebunden seien. Tatsächlich würden die beigeladenen Arbeiter schon seit 15 bis 20 Jahren am gleichen Ort oder an einem anderen Ort des Reviers, allenfalls noch des Nachbarreviers beschäftigt. Außerhalb des Reviers seien einzelne Arbeiter während ihrer langen Dienstzeit nur ein- bis zweimal bei Katastrophenfällen eingesetzt worden. Auf Grund dieser tatsächlichen Verhältnisse sei die Ausnahmeregelung des § 156 RVO nicht anwendbar; vielmehr sei § 153 RVO maßgebend. Hiernach sei die AOK nicht die zuständige Kasse, weil der Beschäftigungsort der beigeladenen Arbeiter im Bezirk der beklagten LKK liegt. Revision ist zugelassen.

Der klagende Freistaat hat mit der Revision beantragt,

die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts und des Sozialgerichts Regensburg aufzuheben und festzustellen, daß die beigeladene Allgemeine Ortskrankenkasse für die beigeladenen Arbeitnehmer zuständig ist.

Der klagende Freistaat rügt eine Verletzung der §§ 153, 156 RVO. Das LSG habe zu Unrecht den in § 156 RVO verwandten Begriff „Gemeinden” als „Kassenbezirke” verstanden. Die Arbeitnehmer seien zu einer in verschiedenen Gemeinden wechselnden Beschäftigung angenommen. Dies sei eine arbeitsrechtliche Frage. Wenn sich jemand verpflichte, im Rahmen einer Behörde tätig zu werden, dann liege darin die vertragliche Bestimmung, in deren örtlichem Zuständigkeitsbereich nach dem Direktionsrecht des Arbeitgebers arbeitsbereit zu sein. Lediglich wegen des Sonderlohnes für den Weg zu und von der Arbeitsstelle würden die Arbeitnehmer aus Gründen der Wirtschaftlichkeit regelmäßig im engeren Bereich ihres Wohnsitzes eingesetzt. Das folge auch aus § 13 der Arbeitsordnung betr. die örtlichen Haumeisterschaften; maßgeblich sei, daß das Forstamt jeden Arbeitnehmer nach seinem Ermessen einer Haumeisterschaft zuteilen könne, auch wenn deren Tätigkeitsbereich in einem anderen Gemeindebezirk oder Kassenbezirk liege.

Die LKK beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie bezieht sich auf die Begründung des Urteils des LSG.

Die Revision ist begründet. § 156 RVO ist hier anzuwenden.

Nach § 234 Abs. 1 Satz 1 RVO sind versicherungspflichtige Mitglieder der AOK oder LKK ihres Beschäftigungsortes. Nach § 235 Abs. 1 RVO sind die in der Landwirtschaft, d. h. hier gemäß § 161 RVO in der Forstwirtschaft Beschäftigten Mitglieder der LKK. Entscheidend für die Zuständigkeit der Kassen ist demnach der Beschäftigungsort.

§ 153 Abs. 1 RVO stellt die Regel auf, daß Beschäftigungsort der Ort ist, an dem die Beschäftigung tatsächlich stattfindet, d.h., wie sich aus den Ausnahmevorschriften der Absätze 2 bis 4 des § 153 RVO und des § 154 RVO ergibt, der Ort, an dem der Versicherte dauernd und regelmäßig beschäftigt ist, also die feste Arbeitsstätte des Versicherten (siehe auch die Begründung zu §§ 165 bis 168 des Entwurfs einer RVO S. 75 bis 78; ferner Hanow 1911, Anm. zu § 153 RVO, Mitglieder-Kommentar, 1927, Anm. 3 zu § 153 RVO und Anm. 1 und 2 zu § 154 RVO; AN 1914, 64).

Zum Beschäftigungsort enthält § 156 RVO i.V.m. § 161 RVO eine Sondervorschrift für die Forstwirtschaft. Für Versicherte, die zu forstwirtschaftlicher, in verschiedenen Gemeinden wechselnder Arbeit angenommen sind, gilt der Sitz des Betriebs im Sinne von § 964 RVO aF, seit 1. Juli 1963 § 794 RVO idF des UVNG (Art. 4 § 16), als Beschäftigungsort. Die Passung der Vorschrift läßt deutlich erkennen, daß es für ihre Anwendung nicht darauf ankommt, wo die Forstarbeiter tätig werden, sondern darauf, wo sie nach ihrem Arbeitsvertrag zur Arbeit nach Weisung des Arbeitgebers verpflichtet sind (vgl. auch die oben genannte Begründung zum Entwurf der RVO). Nur auf der Grundlage des Arbeitsvertrags läßt sich der räumliche Tätigkeitsbereich von Forstarbeitern, die an ständig wechselnden Plätzen eingesetzt sind, mit der für das Versicherungsverhältnis, insbesondere die Zuständigkeit des Versicherungsträgers, erforderlichen Sicherheit feststellen.

Das LSG hat die mit den beigeladenen Forstarbeitern geschlossenen Arbeitsverträge i.V.m. dem Manteltarifvertrag für die staatlichen Forstbetriebe in Bayern vom 8. Oktober 1955 und der Arbeitsordnung vom 6. Dezember 1955 dahin ausgelegt, daß diese nicht für den ganzen Bereich des Forstamts Griesbach, sondern nur für die Reviere Aigen und Kösslarn „angenommen” worden seien. Ob diese Auslegung zutrifft (§§ 12, 13, 62 der Arbeitsordnung), kann hier auf sich beruhen. Auch nach dieser die Arbeitsverpflichtung der beigeladenen Forstarbeiter stark einschränkenden Auslegung der Arbeitsverträge steht fest, daß die Forstarbeiter zu einer in verschiedenen Gemeinden wechselnden Beschäftigung angenommen worden sind. Sowohl der Revier – Försterbezirk Aigen als auch der Oberförsterbezirk Kösslarn umfassen unter Berücksichtigung der ausmärkischen Gebiete (§ 114 RVO) mehrere Gemeinden.

Zu Unrecht hat das LSG hierbei den in § 156 RVO verwandten Begriff der „Gemeinde” als „Kassenbezirke” gedeutet. Entgegen der Auffassung des LSG kann nicht angenommen werden, der Begriff „Gemeinde” in § 156 RVO sei ein nicht berichtigtes Überbleibsel aus der Zeit der Gemeinde-Krankenversicherung vor 1911 (§ 5 Krankenversicherungsgesetz –KVG– vom 10. April 1892 – RGBl S. 417). Die Vorschrift des § 5a Abs. 3 KVG, die § 156 RVO vorausging, hatte einen anderen Wortlaut als § 156 RVO:

„Für Personen, welche in der Land- oder Forstwirtschaft zur Beschäftigung an wechselnden, in verschiedenen Gemeindebezirken belegenen Orten angenommen sind, gilt als Beschäftigungsort der Sitz des Betriebes (§ 44 des Gesetzes vom 5. Mai 1886 – RGBl S. 132).”

Daß übersehen worden sei, wegen Änderung der Träger der Krankenversicherung in § 156 RVO statt „Gemeinde” den Begriff „Kassenbezirke” einzufügen, ist auch deshalb nicht anzunehmen, weil in § 153 RVO, der aus Abs. 1 und 2 des alten § 5a KVG hervorgegangen ist, ausdrücklich von „Bezirken verschiedener Orts- und Landkrankenkassen” und dem „Bezirk desselben Versicherungsamtes” die Rede ist; auch § 155 RVO, der ähnliche Fälle in der gewerblichen Wirtschaft wie § 156 RVO in der Land- und Forstwirtschaft betrifft, bestimmt als Beschäftigungsort eine Gemeinde und nicht einen Kassenbezirk. Bei dieser Sachlage kann nicht angenommen werden, daß die Änderung der Träger der Krankenversicherung bei der Abfassung des § 156 RVO übersehen worden wäre. Vielmehr ist davon auszugehen, daß auch § 156 RVO den Begriff „Gemeinde” seinem Wortsinn nach, nämlich im Sinne der politischen Gemeinde, verwendet.

Die beigeladenen Forstarbeiter sind somit zu forstwirtschaftlicher, in verschiedenen Gemeinden wechselnder Beschäftigung im Sinne des § 156 RVO angenommen.

Als Beschäftigungsort gilt gemäß § 156 RVO der Sitz des Betriebes im Sinne des § 964 RVO aF und für die Zeit vom 1. Juli 1963 an (vgl. Art. 4 § 16 UVNG) nach § 794 RVO nF der Sitz des Unternehmens. Der Wechsel der Terminologie – „Unternehmen” statt „Betrieb” – berührt den vorliegenden Streitfall nicht. Nach beiden Vorschriften ist jedenfalls für die Ermittlung des „einzigen Betriebs” (§ 964 Abs. 1 RVO aF) bzw. des „einzigen Unternehmens” (§ 794 Abs. 1 RVO nF), dessen Sitz den Beschäftigungsort der beigeladenen Forstarbeiter bestimmt, wesentlich, welches die „unmittelbare Betriebsleitung (Revierverwaltung)” für den Revierförsterbezirk Aigen und den Oberförsterbezirk Kösslarn ist. Der Ausdruck „Betriebsleitung” weist auf eine höhere, selbständigere, auf sichtführende Verwaltungsstelle hin; die Worte „unmittelbar”, „Revier” setzen eine gewisse örtliche Beziehung zwischen den einzelnen Betriebsteilen voraus, so daß bei weit auseinander gelegenen Waldflächen auch einzelne Förstereien als besonderer Betrieb gelten können (Schräder/Strich, Unfallversicherung, 1942, Anm. zu § 964 RVO, vgl. auch Preußisches Oberverwaltungsgericht in „Die Arbeiterversorgung” 1894, 12). Welcher forstwirtschaftliche Bezirk einen Betrieb in diesem Sinne darstellt, richtet sich überwiegend nach den tatsächlichen Verhältnissen. Wenn der Betrieb im Sinne des § 964 Abs. 1 RVO aF (§ 794 Abs. 1 RVO nF) festgestellt ist, so ist sein Sitz nach Abs. 3 des § 964 RVO aF (§ 794 Abs. 3 RVO nF) zu bestimmen. Wenn sich der forstwirtschaftliche Betrieb im Sinne des Abs. 1 aaO über mehrere Gemeinden – die ausmärkischen Betriebe stehen gleich (§ 114 RVO) – erstreckt, hat er seinen Sitz da, wo der größte Teil der Forstgrundstücke liegt, falls nicht eine Einigung im Sinne des § 964 Abs. 3 Satz 2 RVO aF bzw. des § 794 Abs. 3 Satz 2 RVO nF vorliegt. Auch dies ist nach den tatsächlichen Umständen festzustellen.

Die Feststellungen des LSG reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus. Dazu müssen die Organisation im Bereiche des Forstamts Griesbach sowie die Größe und Lage der Forstgrundstücke genau bekannt sein, um beurteilen zu können, welche forstwirtschaftlichen Grundstücke zusammen den nach § 964 Abs. 1 RVO aF maßgeblichen „Betrieb” (bzw. das nach § 794 Abs. 1 RVO nF maßgebliche „Unternehmen”) bilden und in welcher Gemeinde dieser gemäß § 964 Abs. 3 RVO aF (§ 794 Abs. 3 RVO nF) seinen Sitz hat.

Die Revision ist somit begründet. Die Sache mußte zu neuen Ermittlungen in der dargelegten Richtung und zur Entscheidung nach §§ 156, 964 RVO aF, § 794 RVO nF an das LSG zurückverwiesen werden.

 

Unterschriften

Dr. Langkeit, Dr. Krebs, Geyser

 

Fundstellen

Dokument-Index HI926759

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