Leitsatz (amtlich)
Mit Zeiten ohne Beitragsleistung (Ersatzzeiten) kann die Versicherungszeit von mindestens 180 Kalendermonaten nach RVO § 1249 S 2 Buchst b nur erreicht werden, wenn die Voraussetzungen der Anrechenbarkeit der Ersatzzeiten nach RVO § 1251 Abs 2 gegeben sind. Ist der Versicherungsfall vor dem 1957-01-01 eingetreten, so muß der Ersatzzeit eine Versicherung vorausgegangen sein (RVO § 1263 aF).
Normenkette
RVO § 1249 S. 2 Buchst. b Fassung: 1965-06-09, § 1250 Abs. 1 Buchst. a Fassung: 1960-02-25, § 1251 Abs. 2 Fassung: 1965-06-09, § 1263 Fassung: 1949-06-17
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 17. März 1970 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Im Streit ist, ob die Klägerin Anspruch auf Witwenrente hat (Art. 2 §§ 8, 17 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG -, §§ 1249, 1263 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Der Ehemann der Klägerin, der Versicherte, ist im Dezember 1953 gestorben. Die Klägerin beantragte im Mai 1967 Witwenrente. Die Beklagte errechnete nach Aufrechnungsbescheinigungen und einer Versicherungskarte eine Beitragszeit von 477 Wochen bis zum Jahre 1910. Sie berücksichtigte weiter eine im Mai 1905 geleistete Militärübung und den Kriegsdienst von August 1914 bis Mai 1919. Sie stellte eine Versicherungszeit von insgesamt 169 Monaten fest. Sie lehnte die Gewährung von Witwenrente ab (Bescheid vom 20. Juni 1967): Die vor dem 1. Januar 1924 zurückgelegte Versicherungszeit könne nicht auf die Wartezeit angerechnet werden, weil nicht eine Versicherungszeit von mindestens 180 Kalendermonaten zurückgelegt sei; der Versicherte sei erstmalig im Jahre 1900 in die Versicherung eingetreten; deshalb könne der vorher geleistete Militärdienst von Oktober 1896 bis September 1898 nicht angerechnet werden (§ 1263 RVO aF).
Die Klägerin machte geltend, der Versicherte habe bereits am 1. Mai 1893 eine Lehre als Maurer und Maler begonnen; es sei anzunehmen, daß dafür in der nicht mehr vorhandenen Versicherungskarte Nr. 1 bereits vor dem Militärdienst Beiträge entrichtet worden seien.
Das Sozialgericht Nürnberg hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 13. November 1968). Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte zur Gewährung der Witwenrente vom 1. Juli 1965 an verpflichtet; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 17. März 1970).
Das LSG hat offen gelassen, ob für die Lehrlingszeit Beiträge entrichtet wurden, weil nach seiner Auffassung die Zeit des Militärdienstes 1896/1898 auch ohne vorhergehende Beiträge zur Feststellung einer Versicherungszeit von 180 Kalendermonaten mitgerechnet werden müsse. Es hat sinngemäß ausgeführt, § 1249 Satz 2 Buchst. b RVO idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 sei gemäß Art. 2 § 8 ArVNG auch auf Versicherungsfälle vor dem 1. Juli 1965 anzuwenden und gelte auch für Witwenrenten. Die Versicherungszeit von 169 Monaten sei im Rahmen des § 1249 Satz 2 Buchst. b RVO anrechenbar, weil auch der aktive Militärdienst von 1896 bis 1898 als Ersatzzeit zu berücksichtigen sei und somit vor dem 1. Januar 1924 eine Versicherungszeit von mindestens 180 Kalendermonaten zurückgelegt worden sei. Der Grundsatz, daß eine Versicherungszeit nicht mit einer Ersatzzeit beginnen könne, habe nicht mehr die Bedeutung von ehedem. § 1249 Satz 2 Buchst. b RVO sei als Vergünstigung gegenüber dem bisherigen Recht für sich gesondert und unabhängig von der Regelung des § 1249 Satz 1 RVO zu betrachten. Dies ergebe sich daraus, daß nach Art. 2 § 8 ArVNG idF des RVÄndG § 1249 RVO auch auf Versicherungsfälle vor dem 1. Juli 1965 anzuwenden sei, während andererseits Art. 5 § 4 Abs. 2 Buchst. a RVÄndG die Anwendung des § 1251 RVO, auf den § 1249 Satz 1 durch den Klammerzusatz (§ 1250) verweise, ausdrücklich auf Versicherungsfälle beschränke, die zwar vor dem 1. Juli 1965, aber nach dem 31. Dezember 1956 eingetreten seien. Wenn der Gesetzgeber in Kenntnis dieser Rechtslage in § 1249 Satz 2 RVO von "vor dem 1. Januar 1924 zurückgelegten Versicherungszeiten" spreche, so wolle er darunter den Ausdruck "Versicherungszeiten" als Oberbegriff für Beitrags- und Ersatzzeiten allgemein verstanden wissen. Die neue Vorschrift des § 1249 Satz 2 Buchst. b RVO bezwecke ein Wiederaufleben bisher verfallener Beiträge. Der Umstand, daß der Gesetzgeber einerseits die Anrechnung der vor Januar 1924 zurückgelegten Versicherungszeiten über die Regelung in Buchst. a hinaus habe erleichtern wollen, andererseits aber eine Versicherungszeit von 180 Kalendermonaten - praktisch die Wartezeit für das Altersruhegeld - fordere, lasse darauf schließen, daß er darüberhinaus keine weiteren gesetzlichen Erfordernisse für die Anrechnung in diese Regelung habe einbeziehen wollen. Somit komme es nur darauf an, daß vor Januar 1924 mit Beitrags- und Ersatzzeiten im Sinne des vor Januar 1957 geltenden Rechts mindestens 180 Kalendermonate erreicht würden, ohne Rücksicht darauf, in welcher zeitlichen Reihenfolge die Zeiten zurückgelegt seien. Daher stehe der Anrechnung des aktiven Militärdienstes 1896 bis 1898 als Ersatzzeit bei § 1249 RVO nichts entgegen. Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte hat eine Verletzung des § 1249 RVO und des Art. 2 § 8 ArVNG, beide Vorschriften in der Fassung des RVÄndG, gerügt. Sie hat ausgeführt, bei der Feststellung einer Versicherungszeit von 180 Kalendermonaten im Rahmen des § 1249 Satz 2 Buchst. b RVO könnten nur Versicherungszeiten berücksichtigt werden, die im Einzelfall tatsächlich auf die Wartezeit anzurechnen seien. Es genüge nicht, daß ohne Berücksichtigung ihrer Anrechenbarkeit schlechthin 180 Kalendermonate Versicherungszeit festgestellt würden. Dies verdeutliche das Gesetz selbst sowie der Sinn und Zweck des § 1249 Satz 2 Buchst. b RVO.
Bei Versicherungsfällen alten Rechts, wie hier, könne eine Ersatzzeit für die Erfüllung der Wartezeit nur herangezogen werden, wenn die Versicherung vorher bestanden habe (§ 1263 RVO aF, Art. 2 §§ 5, 8 ArVNG; BSG 9, 92; 10, 151). Nur eine anrechenbare Ersatzzeit sei eine zurückgelegte Versicherungszeit im Sinne des § 1249 RVO. Dies ergebe sich aus dem in § 1249 RVO enthaltenen Hinweis von § 1250 RVO. Demnach sei eine Ersatzzeit bei § 1249 RVO nur zu berücksichtigen, wenn die Voraussetzungen des § 1251 Abs. 2 RVO, auf den § 1250 RVO hinweise, erfüllt seien. Zwar gelte § 1249 RVO auch für die Versicherungsfälle vor dem 1. Juli 1965 (Art. 2 § 8 ArVNG idF des RVÄndG); aber wegen des Klammerhinweises (§ 1250) in § 1249 Satz 1 RVO sei auch § 1251 RVO zu beachten, der nur für Versicherungsfälle nach dem 31. Dezember 1956 gelte; bei Versicherungsfällen vor dem 1. Januar 1957 trete die entsprechende Vorschrift des alten Rechts - § 1263 RVO aF - an die Stelle des § 1251 RVO, d.h. eine Ersatzzeit sei nur anrechenbar, wenn eine Versicherung vorher bestanden habe. Da das Berufungsgericht dies nicht festgestellt habe, sei der Antrag auf Zurückverweisung der Sache gerechtfertigt.
Die Klägerin ist nicht vertreten.
Beide Beteiligte sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -; SozR Nr. 5 zu § 124 SGG).
II
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Der Anspruch der Klägerin, der auf einen Versicherungsfall des vor dem 1. Januar 1957 geltenden Rechts gegründet wird, richtet sich nach Art. 2 § 5 ArVNG, Art. 2 §§ 17, 8 ArVNG idF des 3. RVÄndG vom 28. Juli 1969.
Nach § 1263 Abs. 2 RVO (Art. 2 § 17 Abs. 1 Satz 1 ArVNG) muß der Versicherte zur Zeit des Todes die Wartezeit für eine Rente wegen Berufsunfähigkeit erfüllt haben. Dafür gilt § 1249 RVO (Art. 2 § 17 Abs. 1 Satz 1 und § 8 Satz 1 ArVNG). Im vorliegenden Fall kommen nur vor dem 1. Januar 1924 zurückgelegte Versicherungszeiten in Frage. Ihre Anrechnung auf die Wartezeit (§ 1263 Abs. 2, § 1246 Abs. 3 RVO) ist daher nur möglich, "wenn vor dem 1.1.1924 mindestens eine Versicherungszeit von 180 Kalendermonaten zurückgelegt worden ist" (§ 1249 Satz 2 Buchst. b RVO idF des RVÄndG). Diese Voraussetzung kann hier nach den bisherigen Feststellungen des LSG nicht als gegeben angesehen werden.
Dem Wortlaut des § 1249 Satz 1 und 2 RVO ist nicht zu entnehmen, daß "die ab 1.1.1924 zurückgelegten Versicherungszeiten" (Satz 1 aaO) ihrem Wesen nach andere Versicherungszeiten als die "vor dem 1.1.1924 zurückgelegten Versicherungszeiten" (Satz 2 aaO) sind, wie das LSG im Ergebnis meint. Bei der erstmaligen Anführung von "Versicherungszeiten" in § 1249 RVO, nämlich in Satz 1 in Verbindung mit "ab 1.1.1924 zurückgelegten Versicherungszeiten", ist durch den Klammerhinweis auf § 1250 RVO der Begriff dieser Versicherungszeiten bestimmt. In dem unmittelbar anschließenden Satz 2 fehlt hinter "Versicherungszeiten" der Klammerhinweis. Das LSG will hieraus entnehmen, daß nur für die ab 1. Januar 1924 zurückgelegten Versicherungszeiten der Begriff der "anrechnungsfähigen Versicherungszeiten" nach § 1250 Abs. 1 Buchst. a und b RVO gelte und daß in Satz 2 der Begriff der Versicherungszeiten wegen des Fehlens des Hinweises auf § 1250 RVO umfassender und ohne die Einschränkungen zu verstehen sei, die sich durch den Klammerzusatz für Satz 1 ergeben.
Für eine solche Unterscheidung zwischen dem Begriff der Versicherungszeiten in Satz 1 und Satz 2 des § 1249 RVO bietet sich kein überzeugender Anhalt.
Bei natürlicher Betrachtungsweise ist der Wortlaut des § 1249 RVO dahin zu verstehen, daß der Klammerzusatz in Satz 1 sich allein auf den Begriff "Versicherungszeiten" ohne die davorstehenden Worte "die ab 1.1.1924 zurückgelegten" bezieht. Innerhalb des Begriffes der Versicherungszeiten nach § 1250 RVO wird dann in § 1249 Satz 1 und Satz 2 RVO zwischen den ab 1. Januar 1924 und den vor dem 1. Januar 1924 zurückgelegten Versicherungszeiten unterschieden. Der Begriff der Versicherungszeiten ist derselbe; lediglich die Rechtsfolgen für die Wartezeit, die sich aus zurückgelegten Versicherungszeiten ergeben, können verschieden sein, je nachdem wann die Versicherungszeiten zurückgelegt worden sind.
Für diese Auslegung spricht, daß auch sonstige Vorschriften der RVO keinen anderen Begriff von "Versicherungszeiten" aufstellen, als den der anrechnungsfähigen Versicherungszeiten in § 1250 Abs. 1 RVO (vgl. §§ 1246 Abs. 3, 1247 Abs. 3, 1248 Abs. 4, 1251, 1253, 1258 RVO). Es wird nur insofern unterschieden, als "anrechnungsfähige" Versicherungszeiten (§ 1250 Abs. 1 RVO) nicht in jedem Einzelfall auch "anzurechnende" Versicherungszeiten sind (vgl. § 1251 Abs. 2, § 1258 Abs. 1 RVO).
Es ist richtig, daß die Reste des alten Anwartschaftsrechts, die § 1249 RVO idF des ArVNG noch enthält, nach und nach immer mehr abgebaut und eingeschränkt wurden. Sie sind in vollem Umfange beseitigt, wenn der Versicherte eine Versicherungszeit von 180 Kalendermonaten zurückgelegt hat. Dann kommt es überhaupt nicht mehr darauf an, zu welchen Zeiten diese Versicherungszeit zurückgelegt worden ist (Art. 2 §§ 8, 17 ArVNG idF des 3. RVÄndG). Insofern ist dem LSG zuzustimmen. Die weiteren Ausführungen im angefochtenen Urteil unterscheiden jedoch zu Unrecht nicht zwischen den Voraussetzungen für die Anrechnung einer Zeit, die keine Beitragszeit ist (§ 1251 Abs. 1 RVO), als Versicherungszeit nach § 1251 Abs. 2 RVO und der Anrechnung von Versicherungszeiten auf die Wartezeit nach § 1249 RVO. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden "Anrechnungen" ist aber rechtserheblich. Erst wenn eine Zeit, die die Tatbestandsmerkmale einer Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 RVO erfüllt, nach Absatz 2 des § 1251 RVO angerechnet werden kann, taucht die Frage auf, ob sie auch bei § 1249 RVO angerechnet werden kann.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) gilt die Ersatzzeitenregelung des § 1251 RVO nur für Versicherungsfälle, die seit dem 1. Januar 1957 eingetreten sind (BSG 9, 92; 10, 151). Für vorher eingetretene Versicherungsfälle gilt anstelle des § 1251 RVO das alte Ersatzzeitenrecht; danach werden die in § 1263 RVO aF aufgeführten Zeiten für die Erfüllung der Wartezeit nur angerechnet, wenn die Versicherung vorher bestanden hat. Dieser Rechtslage entspricht es, daß Art. 5 § 4 Abs. 2 Buchst. a RVÄndG die Änderung des § 1251 RVO durch Art. 1 § 1 Nr. 15 RVÄndG nur für Versicherungsfälle gelten läßt, die nach dem 31. Dezember 1956 eingetreten sind. Aus Art. 5 § 4 Abs. 2 Buchst. a RVÄndG kann daher nicht entnommen werden, wie das LSG zur Begründung seiner Auslegung des § 1249 RVO meint, daß es bei § 1249 Satz 2 Buchst. b RVO nicht darauf ankomme, ob zurückgelegte Ersatzzeiten im Einzelfall als Versicherungszeiten anzurechnen seien. Bei Versicherungsfällen alten Rechts sind vielmehr Ersatzzeiten versicherungsrechtlich nur bedeutsam und anrechnungsfähig, wenn ihnen eine anrechnungsfähige Beitragszeit vorausgeht. Nur wenn sie hiernach (§ 1263 RVO aF) auf die Wartezeit angerechnet werden können, sind sie auch bei § 1249 RVO anrechenbar.
Gegen die Auslegung des § 1249 Satz 2 Buchst. b RVO durch das LSG sprechen auch die Ausführungen im Bundestag in der 176. und 177. Sitzung der vierten Wahlperiode (Stenografischer Bericht, S. 8853 bis 8855, 8888, 8920 und 8921, 8942). Zur Begründung, daß nur bei einer Versicherungszeit von 180 Kalendermonaten jegliche Anwartschaft wegfallen soll, wurde wiederholt darauf abgestellt, daß mit einer Versicherungszeit von 180 Monaten die Wartezeit von 180 Monaten erfüllt sein sollte, um den Anfall von Bagatellrenten auszuschließen (Stenografische Berichte zur 177. Sitzung, vierte Wahlperiode, S. 8920, 8921). Der Gesetzgeber ging also davon aus, daß bei § 1249 RVO nur solche Versicherungszeiten zu berücksichtigen sind, die im Einzelfall auch tatsächlich für die Erfüllung der Wartezeit anzurechnen sind (§ 1251 Abs. 2 RVO, § 1263 RVO aF).
Somit kann im vorliegenden Fall die Militärdienstzeit 1896/1898 bei § 1249 RVO nur mitgerechnet werden, wenn eine Versicherung vorher bestanden hat. Es kommt deshalb entscheidend darauf an, ob vor diesem Militärdienst Versicherungsbeiträge entrichtet worden sind. Um dies festzustellen, ist der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen