Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 06.11.1991) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 6. November 1991 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Umstritten ist der Anspruch des Versicherten O. K. … auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen eines Ereignisses vom 24. Juni 1982.
Der im Jahre 1928 geborene und während des Berufungsverfahrens am 8. November 1990 verstorbene Versicherte war bei der Beklagten als selbständiger Ingenieur freiwillig versichert. In seiner Unfallanzeige vom 22. Juli 1982 gab er an, er habe sich am 24. Juni 1982 beim Anziehen der Feststellbremse eines Transportbetonmischers während der TÜV-Abnahme auf einem Rollenprüfstand den zweiten Lendenwirbel gebrochen. Gestützt auf ein chirurgisches Gutachten von Dres. K. …, S. und T. …, Städtische Kliniken D. …, vom 15. November 1982 lehnte die Beklagte eine Entschädigung ab, weil die festgestellten Gesundheitsschäden nicht durch einen Arbeitsunfall verursacht worden seien. Es fehle an dem ein Unfallereignis bestimmenden Element der äußeren Einwirkung (Bescheid vom 28. Dezember 1982 und Widerspruchsbescheid vom 17. März 1983).
Das Sozialgericht (SG) hat von Dr. L. … ein orthopädisches Gutachten vom 4. April 1984 eingeholt, der zu dem Ergebnis gelangt ist, daß es sich bei dem Ereignis vom 24. Juni 1982 um einen mit einer Schädigung verbundenen Vorgang gehandelt habe, der bei anderen Belastungen des täglichen Lebens in gleicher Weise und Stärke nicht hätte auftreten können. Vom Unfalltag bis Oktober 1982 habe Arbeitsunfähigkeit bestanden; danach habe bis zum 30. Juni 1983 eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vH vorgelegen. Das SG hat ferner ein technisches Sachverständigengutachten von dem Diplom-Ingenieur S. … vom 5. April 1989 und hierauf weitere Stellungnahmen von Dr. L. … vom 22. April und 18. Juli 1989 eingeholt. Vor dem SG hat der Versicherte beantragt, unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide die Beklagte zu verurteilen, „mit einem neuen Bescheid Leistungen zu erbringen wegen des Ereignisses vom 24. Juni 1982”. Mit Urteil vom 22. August 1989 hat das SG die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, das Ereignis vom 24. Juni 1982 als Arbeitsunfall anzuerkennen und zu entschädigen.
Im Berufungsverfahren haben die Erben des Versicherten das Verfahren aufgenommen. Das Landessozialgericht (LSG) hat eine weitere Stellungnahme von Dr. L. … vom 30. Mai 1990 und ein Gutachten nach Aktenlage von Prof. Dr. B. … vom 23. Mai 1991 eingeholt. Im mündlichen Verhandlungstermin am 6. November 1991 hat der Prozeßbevollmächtigte der Kläger auf Befragen erklärt, das Prozeßziel erster Instanz habe sich stets im Rahmen des Beweisergebnisses gehalten. Streitgegenstand sei demnach leistungsrechtlich gesehen der Anspruch auf Verletztenrente für die Zeit nach Wegfall der Arbeitsunfähigkeit gewesen. Nach den Ausführungen von Dr. L. … in seinem Gutachten habe Anspruch auf Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH für die Zeit vom 1. November 1982 bis 30. Juni 1983 bestanden. Anhaltspunkte dafür, daß jemals weitergehende Ansprüche verfolgt worden seien oder verfolgt werden sollten, ließen sich rückschauend nicht gewinnen.
Das LSG hat die Berufung als unzulässig verworfen (Urteil vom 6. November 1991). Zur Begründung heißt es im wesentlichen: Die Berufung sei nach § 145 Nr 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht zulässig, weil von den Klägern nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume geltend gemacht werde. Es ergäben sich keine Anhaltspunkte dafür, daß von dem Versicherten weitergehende Ansprüche erhoben worden seien. Zwar sei der in erster Instanz gestellte Klageantrag inso-weit unbestimmt. Der Prozeßbevollmächtigte der Kläger habe jedoch im Senatstermin klargestellt, daß sich das Prozeßziel stets im Rahmen des Ergebnisses der Beweisaufnahme gehalten habe. Der Antrag sei deshalb unter Berücksichtigung des Gutachtens von Dr. L. … dahin auszulegen, daß für die Dauer von acht Monaten – nämlich vom 1. November 1982 bis 30. Juni 1983 – Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH begehrt worden sei. Nur hierüber habe das erstinstanzliche Urteil auch befunden. Insoweit müsse der Urteilsausspruch anhand der Entscheidungsgründe ausgelegt werden. Danach habe das SG seiner Entscheidung das Gutachten von Dr. L. … zugrunde gelegt und ausgeführt, daß die Beklagte den Versicherten unter Berücksichtigung der Feststellungen dieses Sachverständigen neu zu bescheiden habe; hierbei habe es die Zeit sowie den Grad der MdE hervorgehoben. Nach den Feststellungen des Sachverständigen habe in der Zeit vom 1. November 1982 bis 30. Juni 1983 eine MdE von 20 vH vorgelegen, so daß die Angelegenheit nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betreffe.
Mit der – vom Senat zugelassenen – Revision rügt die Beklagte, das angefochtene Urteil beruhe auf Verfahrensfehlern. Sie meint, das LSG habe die Berufung als unzulässig verworfen, anstatt eine gebotene Sachentscheidung zu treffen. Ob die Berufung nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betreffe (§ 145 Nr 2 SGG), richte sich nach dem mit der Berufung geltend gemachten Anspruch, dh dem Beschwerdegegenstand. Dieser wiederum ergebe sich aus dem Antrag des Berufungsklägers. Entsprechend ihrem Antrag vor dem LSG am 6. November 1991, das angefochtene Urteil des SG abzuändern und die Klage abzuweisen, stehe im Streit ganz allgemein ihre Verpflichtung, Entschädigungsleistungen zu erbringen. Die Formulierung „entschädigen” sowohl im Bescheid vom 28. Dezember 1982 als auch im Tenor des sozialgerichtlichen Urteils könne nur in dem Sinne verstanden werden, daß alle nach der Reichsversicherungsordnung (RVO) vorgesehenen Leistungen darunter fielen. Die Entschädigungsansprüche beträfen deshalb gerade nicht nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume iS des § 145 Nr 2 SGG; vielmehr müßten bei Anerkennung des Versicherungsfalls weitere Leistungen wie Heilbehandlung und Verletztengeld gewährt werden. Während des gesamten erstinstanzlichen Verfahrens habe sich der Streit ausschließlich um die Frage des Zusammenhangs zwischen der Körperschädigung und dem Ereignis vom 24. Juni 1982 und somit um den Anspruchsgrund gedreht. Auch aus dem vor dem SG protokollierten Antrag des Versicherten ergebe sich, daß sein Anspruch nicht nur auf die Erbringung von Rentenleistungen beschränkt gewesen sei, sondern sich insgesamt auf die gesetzlich vorgesehenen Leistungen erstreckt habe. Dementsprechend habe auch das SG die Beklagte verurteilt, das Ereignis vom 24. Juni 1982 als Arbeitsunfall anzuerkennen und zu entschädigen. Durch diesen Tenor werde ausdrücklich nicht zu einer konkreten Leistung und schon überhaupt nicht zu einer Rente nur für zurückliegende Zeit verurteilt. Auch den Entscheidungsgründen des SG ließen sich keine gegenteiligen Anhaltspunkte entnehmen. Da hier die Möglichkeit bestehe, daß das Berufungsgericht bei richtiger Anwendung der betreffenden Verfahrensvorschriften anders entschieden hätte, beruhe das Urteil auf einer Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften. Zu einem sachlich günstigeren Ergebnis für sie – die Revisionsklägerin – hätte das LSG gelangen können, wenn es in der Sache entschieden hätte. Nach den im wesentlichen übereinstimmenden gutachterlichen Äußerungen sei als alleinige Ursache der Wirbelkörperfraktur eine vorbestehende anlagebedingte Strukturschwäche der Lendenwirbelkörper – Osteoporose – anzunehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Sozialgerichts Dortmund vom 22. August 1989 und des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 6. November 1991 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 6. November 1991 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Kläger beantragen sinngemäß,
die Revision zurückzuweisen.
Sie halten das angefochtene Urteil für sachlich richtig. Das LSG habe die Anträge ihrer Prozeßbevollmächtigten zutreffend ausgelegt und dies auch aufgrund der im Termin abgegebenen Erklärung nochmals entsprechend aufgeklärt. Danach sei tatsächlich nur Rente für einen bereits abgelaufenen Zeitraum streitig gewesen. Die dagegen vorgebrachten Rügen der Revision lägen nicht vor.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Die vom LSG im angefochtenen Urteil festgestellten Tatsachen reichen nicht aus, um abschließend über die geltend gemachten Ansprüche der Kläger entscheiden zu können.
Das LSG hat – wie die Beklagte zu Recht rügt – über ihre Berufung verfahrensfehlerhaft dadurch entschieden, daß es statt eines Sachurteils ein Prozeßurteil erlassen hat (BSGE 1, 283, 286 f; 20, 199, 201; BSG Urteil vom 6. Februar 1991 – 1/3 RK 3/90 –). Die Berufung der Beklagten ist nach § 143 SGG statthaft und entgegen der Auffassung des LSG auch nicht nach § 145 Nr 2 SGG ausgeschlossen. Danach ist die Berufung in Angelegenheiten der Unfallversicherung ua nicht zulässig, soweit sie nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betrifft. Das ist hier nicht der Fall.
Die Zulässigkeit der Berufung beurteilt sich nach dem Zeitpunkt ihrer Einlegung; sie wird durch eine nachträgliche Veränderung des Streitgegenstandes nicht berührt (BSGE 16, 134, 135; 37, 64, 65; BSG SozR 1500 § 146 Nr 6). Insbesondere rechtfertigt der nach Einlegung der Berufung eingetretene Tod des Versicherten insoweit keine andere rechtliche Beurteilung.
Maßgebend für die Frage der Zulässigkeit der Berufung ist der mit ihr geltend gemachte Anspruch, der Beschwerdegegenstand (Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl, § 145 RdNr 7). Das SG hat hier die Beklagte verurteilt, „mit einem neuen Bescheid das Ereignis vom 24. Juni 1982 als Arbeitsunfall anzuerkennen und zu entschädigen”. Dieses Urteil ist ein Grundurteil iS des § 130 SGG. Es besagt im Tenor, daß die Beklagte grundsätzlich verpflichtet ist, dem Verletzten wegen seines Arbeitsunfalls vom 24. Juni 1982 Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren. Es läßt zwar offen, welche Leistungen (Verletztengeld, Verletztenrente) in Betracht kommen. Doch gerade deshalb erstreckt sich die Verurteilung auf alle Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung, soweit ihre Voraussetzungen erfüllt sind oder später einmal erfüllt sein sollten. Ob es überhaupt zulässig ist, einen so eindeutigen und bestimmten Tenor eines Grundurteils nach § 130 SGG aus den Urteilsgründen zu beschränken, kann hier dahinstehen. Daß es den Vorstellungen des SG entsprach, ein Grundurteil zu erlassen, ergibt sich auch aus seinen Entscheidungsgründen. Dort ist ausgeführt, der Versicherte sei „unter Berücksichtigung der Feststellungen des Sachverständigen in bezug auf die Zeit und den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu bescheiden”. Damit hat das SG seine für den Erlaß eines Grundurteils notwendige Überzeugung zum Ausdruck gebracht, daß der geltend gemachte Leistungsanspruch im konkreten Fall wenigstens in einer Mindesthöhe gegeben ist, daß also überhaupt ein Geldbetrag zu zahlen ist (BSG SozR Nr 4 zu § 130 SGG; BSG Urteil vom 30. Oktober 1968 – 2 RU 72/66 – USK 68100; BSGE 65, 138, 144). Eine Beschränkung auf die Zahlung von Verletztenrente für bereits abgelaufene Zeiträume ist dieser Verweisung auch deshalb nicht prozessual zwingend zu entnehmen, da der Sachverständige für die Zeit vom Unfall bis zum 24. Oktober 1982 eine MdE von 100 vH angenommen hat und deshalb auch eine Zahlung von Verletztengeld für länger als drei Monate in Betracht gekommen ist. Zudem wäre unabhängig von den aufgrund des Urteils sogleich festzustellenden Leistungen die Beklagte entsprechend der Verurteilung, „das Ereignis vom 24. Juni 1982 als Arbeitsunfall anzuerkennen und zu entschädigen”, auch bei später eintretenden Verschlimmerungen nach dem Grundurteil verpflichtet gewesen, Verletztengeld oder/und Verletztenrente zu zahlen, soweit die Voraussetzungen erfüllt gewesen wären. Gegen diese umfassende Verurteilung zur Entschädigung dem Grunde nach und nicht nur gegen eine Verurteilung zur Rentenzahlung für bereits abgelaufene Zeiträume hat sich die Beklagte mit der Berufung gewendet. Die umfassende Verurteilung durch das Grundurteil bildet den Streitgegenstand ihrer Berufung.
Das vom Versicherten im erstinstanzlichen Verfahren geltend gemachte Begehren bestätigt insbesondere unter Berücksichtigung des von ihm gestellten Antrags diese Auslegung des Tenors und der Entscheidungsgründe des Urteils des SG. Der Antrag enthält keine Beschränkung des Streitgegenstandes auf die Gewährung von Verletztenrente und zudem auf Verletztenrente für bereits abgelaufene Zeiträume. Die entgegengesetzte Auffassung des LSG bindet das Revisionsgericht nicht, da es sich bei dem Antrag um eine Prozeßhandlung (Kummer, DAngVers 1984, 308 f und 1984, 346, 362) und damit um eine seiner uneingeschränkten Nachprüfung durch das Bundessozialgericht unterliegende Auslegung einer prozessualen Willenserklärung handelt (BGHZ 4, 328, 334 mwN; BGH MDR 1989, 539; BAG MDR 1983, 1053). In keinem seiner terminsvorbereitenden Schriftsätze hat der Versicherte konkretisiert, worauf sich sein Anspruch und auf welche Leistungen im einzelnen richtet. Der Streit im erstinstanzlichen Verfahren hat sich vielmehr um die Frage der rechtlich wesentlichen Verursachung des eingetretenen Körperschadens durch das Ereignis vom 24. Juni 1982 und somit um den Anspruchsgrund einer Entschädigung gedreht. Ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung vor dem SG vom 22. August 1989 hat der Versicherte beantragt, unter Aufhebung der Bescheide die Beklagte zu verurteilen, „mit einem neuen Bescheid Leistungen zu erbringen wegen des Ereignisses vom 24. Juni 1982”. Der Formulierung „Leistungen zu erbringen” ist zu entnehmen, daß der Versicherte seinen Anspruch nicht nur auf die – begrenzte – Erbringung von Rentenleistungen beschränkt, sondern insgesamt auf die gesetzlich vorgesehenen Leistungen – hier vor allem auch Verletztengeld –, und zwar in der Vergangenheit und aufgrund der erstrebten Verurteilung dem Grunde nach auch auf alle erst in der Zukunft gegebenenfalls erforderlichen Leistungen, erstreckt hat. Damit ergeben sich keine Anhaltspunkte, daß sich das Prozeßziel des Klägers in erster Instanz stets im Rahmen des Ergebnisses der Beweisaufnahme gehalten habe, wie der Prozeßbevollmächtigte der Kläger später im Termin vor dem LSG am 6. November 1991 erklärt hat. Auch das Begehren des Klägers in erster Instanz rechtfertigt somit keine Beschränkung des Streitgegenstandes der Berufung auf Rente für bereits abgelaufene Zeiträume.
Das LSG hat aus seiner rechtlichen Beurteilung der (Un-)Zulässigkeit der Berufung keine für die Entscheidung in der Sache erforderlichen tatsächlichen Feststellungen getroffen. Der Senat kann diese Feststellungen nicht selbst treffen. Ihm ist deshalb eine abschließende Sachentscheidung nicht möglich.
Die Sache war somit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen