Leitsatz (redaktionell)

Ein langjährig - ohne eigentliche Lehrausbildung wie ein gelernter Schlosser beschäftigter und entlohnter, später als Lokomotivführer auf einer Zechenbahn (Normalspur mit Bundesbahnanschlußgleisen) tätig gewesener Versicherter gehört nach den Lohnordnungen des Bergbaus zur gleichen Lohngruppe wie ein gelernter Handwerker. Bei der hiernach gebotenen Bewertung der früheren Tätigkeit des Versicherten kann ein Verweis nur auf solche Tätigkeiten erfolgen, die sich durch erhöhte Anforderungen aus dem Kreise einfacher ungelernter Arbeiten hervorheben.

 

Normenkette

RKG § 46 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13. Februar 1964 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten der Revisionsinstanz zu erstatten.

 

Gründe

I

Der im Jahre 1899 geborene Kläger - er bezieht seit Oktober 1964 das Knappschaftsruhegeld - hat keine Lehrzeit mitgemacht, sondern zunächst im Bergbau als jugendlicher Arbeiter und Pferdetreiber und dann als Zuschläger und Schlosser über Tage gearbeitet. Von Dezember 1918 bis Juni 1924 war er als "gelernter Grubenschlosser" und anschließend als Grubenlokführer eingesetzt. Nach längerer Erwerbslosigkeit arbeitete er dann von Februar 1938 bis April 1961 als Lokomotivführer für Normalspur über Tage. Sein Antrag vom 4. April 1961 auf Gewährung der Gesamtleistung wegen Berufsunfähigkeit wurde von der Beklagten mit der Begründung abgelehnt, er sei nicht berufsunfähig, weil er noch Arbeiten der Lohngruppen IV und V über Tage verrichten könne.

Der Widerspruch blieb erfolglos.

Das Sozialgericht (SG), vor dem der Kläger geltend machte, er könne als Schlosser und als auf Bundesbahngleisen zugelassener Lokomotivführer nicht auf einfache Hilfsarbeitertätigkeiten verwiesen werden, hat die Beklagte verurteilt, die Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Es hat seine Entscheidung folgendermaßen begründet:

Der Kläger sei seit Antragstellung nur noch in der Lage, leichte Tagesarbeiten einfacher Art zu verrichten, nicht aber solche, die bestimmte erhöhte Anforderungen an die geistige Leistungsfähigkeit stellten; eine Umstellung auf solche gehobenen Tätigkeiten komme bei dem Alter des Klägers für ihn auch nicht in Betracht. Er sei daher berufsunfähig, weil die Verrichtung einfacher Hilfstätigkeiten für ihn mit einem wesentlichen sozialen Abstieg verbunden wäre, so daß er darauf nicht verwiesen werden könne. Er sei nämlich in sozialer Hinsicht einem gelernten Facharbeiter gleichzustellen. Nach den Ausführungen des als Sachverständigen gehörten Bundesbahn-Oberrats S entspreche die Tätigkeit des Klägers als Lokomotivführer dem von beamteten Kräften wahrgenommen schwierigeren Kleinlokdienst bei der Deutschen Bundesbahn, und die soziale Stellung dieser Kleinlokführer wiederum etwa derjenigen der dort eingesetzten gelernten Handwerker. Diese Bewertung werde auch dem beruflichen Werdegang des Klägers gerecht. Er habe nämlich schon von 1918 bis 1924 vollwertig wie ein gelernter Schlosser in der Werkstatt für Grubenlokomotiven gearbeitet und einen entsprechenden Lohn erhalten, sei also, obgleich er keine Lehrzeit mitgemacht habe, im Wege der Anlernung zum Beruf eines Handwerkers aufgestiegen. Diese Stellung habe er durch seine anschließende Tätigkeit als Grubenlokführer nicht verloren, weil er auch weiterhin Reparaturen habe ausführen müssen. Nach seiner Erwerbslosenzeit sei er dann zum Lokomotivführer für Normalspur ausgebildet worden und habe die Berechtigung zum Befahren von Bundesbahn-Anschlußgleisen erworben. Hierzu seien seine Kenntnisse als Schlosser dienlich und auch erforderlich gewesen, weil diese Lokführer nach bergpolizeilicher Vorschrift im Schlosserhandwerk ausgebildet sein müßten. Für die Gleichstellung mit dem gelernten Facharbeiter spreche ferner der Umstand, daß nach den Auskünften der Tarifvertragspartner die Lokführer für Normalspur auf Zechen- und Hafenbahnen von jeher mit den gelernten Metallhandwerkern in einer Lohngruppe zusammengefaßt seien.

Mit der Revision rügt die Beklagte unrichtige Anwendung der §§ 46 Abs. 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) und 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Der Kläger sei kein gelernter Handwerker oder Facharbeiter, weil er keine entsprechende Lehre mitgemacht habe. Die langjährige Tätigkeit als Lokführer könne die für die soziale Wertung eines Lehrberufs maßgebende Qualifikation auch nicht ersetzen. Ebensowenig könne die Entlohnung nach der Lohngruppe Ia die Gleichstellung mit einem gelernten Handwerker rechtfertigen, weil in dieser Lohngruppe nicht nur Facharbeiter, sondern auch beispielsweise Aufseher geführt würden. Der Kläger könne als Lokomotivführer daher in weiterem Umfang als ein Facharbeiter auf andere Tätigkeiten verwiesen werden. Die Verrichtung solcher einfachen, durch kurze Einarbeitung zu erlernenden Arbeiten wie die eines Apparate- oder Motorenwärters, Magazinarbeiters oder Markenausgebers, die sich aus dem Kreise der einfachsten Hilfstätigkeiten - z. B. Reinigungs- und Putzarbeiten, Wächterdienste - heraushöben, sei ihm zuzumuten. Er sei daher nicht berufsunfähig.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG Gelsenkirchen vom 28. Juni 1962 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für richtig.

II

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat den Kläger mit Recht für berufsunfähig im Sinne der §§ 46 RKG, 1246 RVO angesehen.

Nach den das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des LSG ist der Kläger nur noch in der Lage, körperlich leichte Tagesarbeiten an ungefährlichen Betriebspunkten ohne besondere Anforderungen an die geistige Leistungsfähigkeit zu verrichten. Auf solche Tätigkeiten einfacher Art - etwa als Magazinarbeiter. Markenausgeber u. ä. - kann ein gelernter Facharbeiter im Rahmen der Prüfung, ob er berufsunfähig ist, nicht verwiesen werden, weil ihre Verrichtung für ihn mit einem wesentlichen sozialen Abstieg verbunden wäre, der ihm nicht zugemutet werden soll. Der Kläger ist bei Würdigung seines Berufslebens, obgleich er keine eigentliche Lehrzeit mitgemacht hat, insoweit einem gelernten Facharbeiter gleichzustellen. Wie der Senat bereits entschieden hat (BSG 17, 41), steht ein angelernter Handwerker bei Anwendung der §§ 46 RKG, 1246 RVO einem gelernten Handwerker gleich, falls er vollwertig die Tätigkeit eines gelernten Handwerkers verrichtet hat, was anzunehmen ist, wenn er langjährig wie ein gelernter Handwerker beschäftigt und entlohnt worden ist. Diese Voraussetzungen treffen auf den Kläger für die Zeit zu, in der er als Grubenschlosser tätig gewesen ist, nachdem er vorher als Zuschläger und Schlosser über Tage gearbeitet hatte. Bei Aufgabe der Schlossertätigkeit hatte der Kläger also die Stellung eines gelernten Handwerkers. Allerdings kann auf diese schon früh aufgegebene Tätigkeit bei Beurteilung der Berufsunfähigkeit nicht unmittelbar zurückgegriffen werden. Maßgeblich hierfür ist vielmehr die langjährig verrichtete Tätigkeit als Lokomotivführer.

Der Beruf des Lokomotivführers ist nun kein eigentlicher Lehrberuf, sondern gehört zu den Berufen, die nicht schon im typischen Lehrlingsalter erlernt, sondern regelmäßig erst in einem höheren Lebensalter und nach voraufgehender anderer Berufstätigkeit ausgeübt werden. Die übliche schematische Einteilung in Lehr-, Anlern- und ungelernte Tätigkeiten ausschließlich nach Art und Dauer der Lehr- oder Anlernzeit läßt sich daher auf diese Tätigkeiten jedenfalls nicht unmittelbar anwenden. Setzt nun die Verrichtung einer solchen Tätigkeit die Ausbildung in einem Lehrberuf voraus, so wird man sie, was die berufliche Qualifikation betrifft, regelmäßig als zumindest gleichwertige Fortführung dieser Facharbeitertätigkeit anzusehen haben, es sei denn, es handle sich um eine eindeutig geringer bewertete Tätigkeit, für die die Kenntnisse und Fähigkeiten eines Facharbeiters praktisch nur unwesentliche Bedeutung hätten. Da nun der Kläger die berufliche Stellung eines gelernten Schlossers durch Anlernung und Bewährung im Beruf erworben hatte und seine spätere Tätigkeit als Lokomotivführer diese Ausbildung als Facharbeiter voraussetzte, ist auch diese Tätigkeit wie die eines gelernten Facharbeiters zu bewerten. Die zwischenzeitlich nur vorübergehend ausgeübte Tätigkeit als Grubenlokführer kann hierbei außer Betracht bleiben. Der Übergang vom Beruf des Schlossers zu dem des Lokomotivführers (Normalspur) stellt auch keinen Fall des beruflichen Abstiegs dar. Bei der Bundesbahn, deren Verhältnisse das LSG mit Recht zum Vergleich herangezogen hat, wird die Tätigkeit eines vergleichbaren Kleinlokführers der eines gelernten Handwerkers nach Lohn und sozialem Ansehen etwa gleichbewertet. Auch in den Lohnordnungen des Bergbaues gehört der Lokomotivführer für Normalspur von jeher zur gleichen Lohngruppe wie die gelernten Handwerker. Soweit ein früherer Schlosser als Lokomotivführer seine handwerklichen Kenntnisse und Fertigkeiten nicht in vollem Umfange zur Geltung bringen kann, stehen dieser Beschränkung andere Kenntnisse und Fertigkeiten gegenüber, die er für den Lokomotivführerberuf zusätzlich erwerben mußte. Der Kläger kann daher hinsichtlich seiner beruflichen Qualifikation und seines darauf beruhenden sozialen Ansehens bei Prüfung der Berufsunfähigkeit nicht anders behandelt werden, als wenn er, anstatt Lokomotivführer zu werden, seine frühere Tätigkeit als gelernter Schlosser wieder aufgenommen hätte. Als Facharbeiter könnte er aber nur auf solche Tätigkeiten verwiesen werden, die sich durch erhöhte Anforderungen aus dem Kreise einfacher ungelernter Arbeiten hervorheben; zu einer Umstellung auf solche Tätigkeiten war er jedoch, wie das LSG ausdrücklich festgestellt hat, nach Gesundheitszustand und Alter zur Zeit der Antragstellung nicht mehr tauglich. Er war also berufsunfähig.

Der Senat hat die Revision demgemäß zurückgewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380452

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