Leitsatz (amtlich)
Wird ein Auszubildender aus erzieherischen Gründen aus dem Elternhaus entfernt und in einer Anstalt, einem Heim oder einer ähnlichen Einrichtung untergebracht und verbleibt er dort auch während seiner Ausbildung, weil die Gründe, die zu seiner Entfernung aus dem Elternhaus geführt haben, nicht behoben worden sind, so sind die Mehrkosten der Unterbringung bei der Berechnung des Bedarfs für den Lebensunterhalt (§ 11 der Anordnung des Verwaltungsrats der BA über die individuelle Förderung der beruflichen Ausbildung - AA AFR - vom 1969-10-31 - ANBA 1970, 213 -) nicht zu berücksichtigen (Anschluß an BSG 1973-12-19 7 RAr 59/72 = SozR Nr 1 zu § 11 AA).
Normenkette
AusbFöAnO § 11 Abs. 1 Fassung: 1971-03-19, Abs. 2 Fassung: 1971-03-19, Abs. 5 Fassung: 1971-03-19; JWG § 6 Abs. 2 Fassung: 1970-08-06; AFG § 40 Abs. 1 Fassung: 1969-06-25, § 39 Fassung: 1969-06-25
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 19. Oktober 1973 und das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 15. März 1973 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, welche Bedeutung die Unterbringung des Klägers in einem Jugenddorf für die Berechnung der Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) hat (§ 11 Abs. 1, 2 und 5 der Anordnung des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit (BA) über die individuelle Förderung der beruflichen Ausbildung - AA - vom 31. Oktober 1969 - ANBA 1970, 213 - hier Fassung vom 19. März 1971 - ANBA 1971, 479 -).
Der Kläger (geboren 1955) wohnt bereits seit mehreren Jahren im Jugenddorf des evangelischen Jugendgemeinschaftswerkes in R. Er wurde dort von dem Kreisjugendamt R untergebracht. Der Mutter des Klägers war durch das Amtsgericht Neumünster das Personensorgerecht entzogen worden. Dem Jugendamt war gleichzeitig eine Personensorgerechtspflegschaft für den Kläger und das Recht, seinen Aufenthalt zu bestimmen, übertragen worden. Am 1. August 1971 begann der Kläger eine Lehre bei einem Heizungsbauunternehmen in B. Er blieb auch während der Lehre im Jugenddorf wohnen. Hierfür waren nach Auskunft der Heimleitung zunächst noch pädagogische Gründe ausschlaggebend.
Die Beklagte bewilligte dem Kläger für seine Lehre BAB. Bei der Berechnung des Bedarfs für den Lebensunterhalt legte sie den Pauschbetrag zugrunde, der in § 11 Abs. 1 AA für Auszubildende festgelegt ist, die im Elternhaus untergebracht sind. Demgegenüber ist der Kläger der Auffassung, daß § 11 Abs. 2 AA anzuwenden sei, wo bestimmt ist, daß bei Unterbringung in Wohnheimen die amtlich festgesetzten Kosten von der Beklagten zu übernehmen sind. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 7. August 1972). Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Kiel durch Urteil vom 15. März 1973 die Beklagte verurteilt, die gesamten Kosten für die Unterbringung und Verpflegung des Klägers im evangelischen Jugenddorf Rendsburg zu übernehmen. Die dagegen eingelegte Berufung der Beklagten hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Nach § 11 Abs. 2 AA seien bei Unterbringung in Wohnheimen die amtlich festgesetzten Kosten zu übernehmen. Die Vorschrift unterscheide nicht danach, aus welchen Gründen die Unterbringung im Wohnheim erfolgt sei und ob daneben ein Elternhaus vorhanden sei oder nicht. Es sei auch nicht möglich, den Kläger auf andere öffentliche Leistungsansprüche gemäß § 37 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) zu verweisen. § 6 des Gesetzes für Jugendwohlfahrt (JWG) in der Fassung vom 6. August 1970 (BGBl I 1197) sehe allerdings auch Leistungen zur individuellen Förderung eines Minderjährigen vor, die sich auf Heimunterbringung und notwendigen Lebensunterhalt erstrecken. Diese bezögen sich jedoch nur allgemein auf Hilfen für die Erziehung. Ausbildungsbeihilfen seien nach § 6 Abs. 3 JWG ausdrücklich ausgeschlossen. Die Leistungen nach § 6 Abs. 1 und 2 JWG seien deshalb gegenüber den speziellen Leistungen des AFG nachrangig.
Mit der - zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 40 AFG und des § 11 AA. Sie beruft sich hierzu auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19. Dezember 1973 - 7 RAr 59/72 - (SozR Nr. 1 zu AA § 11).
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 19. Oktober 1973 und das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 15. März 1973 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet.
Die Beklagte ist nicht verpflichtet, die für die Heimunterbringung des Klägers amtlich festgesetzten Kosten zu übernehmen.
Zu Unrecht hat das Berufungsgericht angenommen, daß die Beklagte bei der Feststellung des Bedarfs für den Lebensunterhalt zur Berechnung der BAB verpflichtet ist, Mehrkosten für die Heimunterbringung des Klägers zu berücksichtigen. Der 7. Senat des BSG hat bereits in einem gleichgelagerten Fall entschieden, daß bei einer Heimunterbringung, die - wie auch im Falle des Klägers - aus erzieherischen Gründen erfolgt, keine Verpflichtung der BA besteht, die dadurch entstehenden erhöhten Kosten zu tragen (BSG SozR Nr. 1 zu § 11 AA). Der erkennende Senat sieht keinen Anlaß, von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Rechtsgrundlage für die Bewilligung der BAB ist § 40 AFG i. V. m. der AA (i. d. F. vom 19.3.1971). § 11 Abs. 1 AA setzt eine Pauschale fest, die als Bedarf für den Lebensunterhalt eines unverheirateten minderjährigen Auszubildenden zugrunde zu legen ist (240,- DM). Abs. 2 der Vorschrift bestimmt demgegenüber, daß in Fällen, in denen der Auszubildende in einem Wohnheim oder Internat mit voller Verpflegung untergebracht ist, die amtlich festgesetzten Kosten für die Verpflegung und die Unterkunft bei der Berechnung zugrunde zu legen sind. Nach Abs. 5 ist schließlich für den Fall anderweitiger Unterbringung des Auszubildenden außerhalb des Elternhauses eine um 40,- DM höhere Pauschale zuzüglich bis zu 120,- DM monatlich für die Kosten der Unterkunft festgelegt. Auf diese Leistungen hat grundsätzlich jeder Jugendliche einen Rechtsanspruch, auch dann, wenn er aus erzieherischen Gründen in einem Wohnheim untergebracht ist.
Vom Zweck des AFG her, nämlich die berufliche Ausbildung zu fördern (§ 33 AFG), ist es aber gerechtfertigt, wenn die Beklagte nur diejenigen Kosten des Bedarfs für den Lebensunterhalt zu tragen hat, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der beruflichen Ausbildung stehen und nicht unabhängig davon, durch allgemeine oder besondere erzieherische Maßnahmen veranlaßt worden sind. Dies findet in § 40 AFG seinen Ausdruck, indem dort bestimmt ist, daß nur die für die Ausbildung "erforderlichen Mittel" durch Darlehen oder Zuschüsse bereitzustellen sind. Hierzu gehören nicht Mehrkosten, die durch erzieherische Zwecke hervorgerufen worden sind (BSG aaO).
Dieser Grundsatz findet auch in der AA seinen Niederschlag. In § 14 AA ist für die Übernahme anderer Kosten außerhalb des Lebensunterhalts ausdrücklich bestimmt, daß sie nur insoweit übernommen werden, als sie durch die Teilnahme an der Berufsausbildung unvermeidbar entstanden sind. In § 11 AA ist von einem solchen unmittelbaren Zusammenhang allerdings nicht ausdrücklich die Rede. Aus dem Sinn des AFG, die "berufliche Bildung" zu fördern und der Tatsache, daß die Mittel aus den Beiträgen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber stammen, folgt jedoch, daß generell nur diejenigen Kosten zu berücksichtigen sind, die durch die Berufsausbildung verursacht werden. Heimunterbringungskosten sind nach § 11 Abs. 2 AA nur dann durch die Berufsausbildung entstanden und hängen unmittelbar mit ihr zusammen, wenn die Berufsausbildung nicht am Wohnort der Eltern oder in zumutbarer Nähe möglich ist oder Eltern, bei denen der Jugendliche unterkommen könnte, nicht vorhanden sind. Ist jedoch ein Elternteil vorhanden und ist der Auszubildende lediglich aus erzieherischen Gründen aus dem Elternhaus entfernt und in einem Heim untergebracht worden, so können die Mehrkosten aus der Unterbringung mangels eines unmittelbaren Zusammenhanges mit der Berufsausbildung nicht berücksichtigt werden (BSG aaO). Das ist auch hinsichtlich der Mehrkosten, die durch die Unterbringung des Klägers im Jugenddorf Rendsburg entstanden sind, der Fall.
Der Kläger ist nach den Feststellungen des LSG deshalb in dem Jugenddorf untergebracht worden, weil seine Erziehung im Haushalt der Mutter nicht sichergestellt war (§ 1 Abs. 1 JWG). Der Mutter war aus diesem Grunde das Sorgerecht entzogen und eine Sorgerechtspflegschaft des Jugendamts angeordnet worden, wobei dem Jugendamt auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht übertragen worden ist. Das Jugendamt nimmt mit dieser Pflegschaft eine aus § 1 Abs. 3 i. V. m. §§ 3 bis 5 JWG folgende Verpflichtung zur Sorge für eine angemessene Erziehung des Kindes wahr. Dabei ist es unerheblich, ob in der Person des Jugendlichen erzieherische Schwierigkeiten aufgetreten sind, die besondere Maßnahmen erfordern. Entscheidend für das Vorliegen erzieherischer Gründe, die die Jugendhilfe zu vertreten hat, ist allein das Bestehen eines Zustandes, der die Sozialisation des Jugendlichen im Hinblick auf die Erziehungsziele des § 1 Abs. 1 JWG gefährdet (BSG aaO). Das ist der Fall, wenn Umstände vorliegen, die Veranlassung für eine Entziehung oder mindestens Einschränkung des elterlichen Sorgerechts geben. Diese Gründe entfallen dementsprechend auch nicht, wenn nach Auffassung der Heimleitung das Verhalten des Jugendlichen derart gefestigt ist, daß pädagogische Gründe einen weiteren Verbleib im Heim nicht erfordern. Entscheidend ist allein, ob die Situation im Elternhaus sich inzwischen soweit verändert hat, daß eine Rückkehr des Jugendlichen dorthin vertretbar erscheint. Dieser Fall liegt hier aber nicht vor.
Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, bei Jugendlichen in der Berufsausbildung entfalle die aus § 6 Abs. 2 JWG sich ergebende Verpflichtung des Jugendamtes, den Lebensunterhalt sicherzustellen, also auch die Mehrkosten für die Heimunterbringung zu tragen, weil § 6 Abs. 3 JWG ausdrücklich anordne, daß § 6 Abs. 2 JWG "nicht für die Gewährung von Ausbildungsbeihilfen" gelte. Dabei wird übersehen, daß § 6 Abs. 3 JWG auf die Ausbildungsbeihilfen insgesamt abstellt und sein Zweck nur darin besteht, klarzustellen, daß bei Erfüllung der Voraussetzungen für einen Anspruch auf eine Ausbildungsbeihilfe, die den notwendigen Bedarf für den Lebensunterhalt abdeckt, die Verpflichtung des Jugendamtes zur Leistung des Unterhalts gemäß § 6 Abs. 2 JWG entfällt. Soweit aber der vom Jugendamt nach den genannten Vorschriften abzudeckende Bedarf nach den anderweitigen gesetzlich bestimmten Voraussetzungen durch die zu gewährende Ausbildungsbeihilfe nicht oder nicht voll abgedeckt wird, bleibt die Verpflichtung des Jugendamtes nach § 6 Abs. 2 JWG bestehen (BSG aaO).
Dadurch ergibt sich keine Benachteiligung von Jugendlichen, die vom Jugendamt in einem Wohnheim untergebracht worden sind gegenüber denjenigen, deren Unterbringung auf Veranlassung der Eltern erfolgt. Nach dem dargelegten Grundsatz, daß nur diejenigen Kosten zu erstatten sind, die unmittelbar durch die Berufsausbildung hervorgerufen werden, ist - entgegen der Auffassung des LSG - auch im letztgenannten Fall zu prüfen, ob die Unterbringung durch die Berufsausbildung notwendig geworden ist. Dies findet in § 11 Abs. 1 AA i. d. F. vom 4. Oktober 1972 (ANBA 1972, 1009) seinen Ausdruck, indem dort bestimmt ist, daß die Pauschale nach Abs. 1 auch dann anzuwenden ist, wenn der Auszubildende zwar nicht im Haushalt der Eltern untergebracht ist, die Ausbildungsstätte jedoch von der Wohnung der Eltern oder eines Elternteils aus in angemessener Zeit erreichen könnte. Eine Einschränkung gilt ferner, wenn ersichtlich nicht das Interesse, die betreffende Ausbildungsstätte täglich erreichen zu können, sondern außerhalb der Berufsausbildung liegende Gründe die Unterbringung im Wohnheim veranlaßt haben, wie das auch vorliegend der Fall ist. Bei der am Wortlaut des § 11 Abs. 2 AA ausgerichteten Auslegung, wie sie der Kläger anstrebt, müßte man im übrigen die Nichtigkeit dieser Vorschrift annehmen, weil sie den Grundsätzen des AFG nicht entsprechen und deshalb den in der Ermächtigung des § 39 AFG für eine Regelung durch die Beklagte gesteckten Rahmen überschreiten würde.
Nach alledem ist somit die Beklagte nicht verpflichtet, bei der Berechnung des Lebensbedarfs für die Höhe der dem Kläger zu gewährenden BAB die Mehrkosten für die Heimunterbringung zu berücksichtigen. Die Revision der Beklagten muß deshalb Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen