Verfahrensgang
Sächsisches LSG (Urteil vom 17.09.1997) |
SG Dresden (Urteil vom 29.04.1996) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 17. September 1997 aufgehoben und das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 29. April 1996 geändert.
Die Klage wird in vollem Umfang abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten noch über die Anrechnung der Zeit vom 29. Juni bis 31. Juli 1956 als weitere Ausbildungs-Anrechnungszeit bei Berechnung der Regelaltersrente des Klägers.
Der Kläger schloß sein zum Januar 1954 aufgenommenes Studium an der Hochschule für Finanzwirtschaft in P. … ausweislich des Diplom-Zeugnisses vom 30. Juni 1956 am 28. Juni 1956 mit dem akademischen Grad „Diplom-Wirtschaftler” ab. Gemäß Eintragung im Versicherungsausweis war der Kläger im Zeitraum vom 1. Januar 1954 bis 31. Juli 1956 als Student eingeschrieben und in der Sozialversicherung pauschal versichert. Zum 3. September 1956 nahm er ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis beim VEB Stahl- und Walzwerk R. … auf.
Durch Bescheid vom 13. April 1993 gewährte die Beklagte dem Kläger antragsgemäß Altersrente, deren Berechnung sie die Zeit ab Ablegung der Diplomprüfung (28. Juni 1956) bis 31. August 1956 nicht als rentenrechtliche Zeit zugrunde legte. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Neuberechnungsbescheid vom 8. Juni 1993; Widerspruchsbescheid vom 8. Dezember 1993).
Auf die Klage des Klägers hat das SG Auskünfte der Stahl- und Walzwerk R. … AG vom 6. Februar und 19. März 1996 beigezogen, wonach ein Einsatz des Klägers im damaligen VEB Stahl- und Walzwerk R. … vor dem 3. September 1956 nicht möglich und es betriebliche Praxis gewesen sei, entsprechend der damaligen Studienjahresplanung Absolventen der Hochschulen zum 1. September bzw 1. März eines jeden Jahres zu übernehmen und die Planung der Personalkosten auf diese Termine auszurichten. In einer Auskunft der Fachhochschule für Technik und Wirtschaft B. … vom 19. Februar 1996 ist ausgeführt, daß im Jahre 1952 an den Universitäten und Hochschulen der ehemaligen DDR das Zehn-Monate-Studienjahr eingeführt worden sei, das den Zeitraum September bis Juli umfaßt habe; als Jahresurlaubszeit für die Studenten habe der Monat August fungiert. Stipendien seien für das gesamte Studienjahr einschließlich des Monats August gewährt worden. Während des gesamten Studienjahres – einschließlich des Monats August – seien die Studenten bei der Sozialversicherung pflichtversichert gewesen. Eine Pflicht zur Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses von Hochschulabsolventen vor dem 1. September habe nicht bestanden; andererseits hätten einer früheren Arbeitsaufnahme durch die Absolventen keine rechtlichen Regelungen entgegengestanden.
Das SG hat die Beklagte in Abänderung des Bescheides vom 8. Juni 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. Dezember 1993 verurteilt, bei der Berechnung der Regelaltersrente des Klägers auch den Zeitraum vom 29. Juni bis 31. Juli 1956 als Anrechnungszeit zugrunde zu legen; im übrigen hat es die Klage abgewiesen (Urteil vom 29. April 1996). Das LSG hat mit Urteil vom 17. September 1997 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und zur Begründung im wesentlichen ausgeführt: Der Kläger sei auch nach Ablegung der mündlichen Prüfung noch eingeschriebener Student gewesen und erst mit Ablauf des Monats Juli 1956 exmatrikuliert worden. Solange habe auch die Sozialpflichtversicherung für Studenten noch bestanden. Da nach den Grundsätzen der Berufslenkung sowie aufgrund der betrieblichen Praxis eine Einstellung des Klägers beim damaligen VEB Stahl- und Walzwerk R. … vor September 1956 nicht möglich gewesen sei, sei der Kläger bei Abschluß seiner Ausbildung in der Entscheidung nicht frei gewesen, wann (und bei welchem Arbeitgeber) er ein versicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis eingehen wolle. Einen „freien Arbeitsmarkt” habe es nicht gegeben. Die Zeit von der Ablegung der Abschlußprüfung bis zur Exmatrikulation am 31. Juli 1956 müsse daher in Fortbildung der Rechtsprechung des BSG als „unvermeidbare Zwischenzeit” und damit als Ausbildungs-Anrechnungszeit iS des § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b SGB VI angesehen werden. Anderenfalls komme es für die Studenten der ehemaligen DDR unvermeidlich zu unvorhersehbaren Lücken im Versicherungsverlauf.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b SGB VI in der bis zum 31. Dezember 1996 geltenden Fassung. Sie trägt vor: Die Erreichung des ersten möglichen Abschlusses (Hochschulprüfung, Staatsprüfung) schließe die Hochschulausbildung ab und sei damit Endzeitpunkt der anerkennungsfähigen Anrechnungszeit. Dies habe das BSG bereits in den Urteilen vom 16. Dezember 1997 (4 RA 14/97, 4 RA 65/97, 4 RA 67/97, 4 RA 69/97) entschieden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 17. September 1997 aufzuheben, das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 29. April 1996 zu ändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet.
Das angefochtene Urteil des LSG war wegen Verstoßes gegen § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b SGB VI rechtswidrig und aufzuheben; das Urteil des SG war iS einer Klageabweisung in vollem Umfang zu ändern. Wie die Beklagte in ihren Bescheiden vom 13. April bzw 8. Juni 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. Dezember 1993 zutreffend ausgeführt hat, kann der Kläger keine höhere Altersrente unter Berücksichtigung einer – weiteren – (Ausbildungs-)Anrechnungszeit vom 29. Juni bis 31. Juli 1956 erhalten.
Gemäß § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b SGB VI in der hier noch anzuwendenden Fassung des Rentenreformgesetzes 1992, dh vor Änderung durch das Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WFG) zum 1. Januar 1997 für „zukünftige” Leistungsfälle, also Rentenansprüche, die in der Zeit ab 1. Januar 1997 „beginnen”, sind Anrechnungszeiten Zeiten, in denen Versicherte nach dem vollendeten 16. Lebensjahr eine Fachschule oder Hochschule besucht und abgeschlossen haben. Die Zeit vom 29. Juni bis 31. Juli 1956 erfüllt einen derartigen Ausbildungs-Anrechnungstatbestand nicht, denn der Kläger befand sich in dieser Zeit nicht mehr in Hochschulausbildung.
Das Ende der Ausbildung bildet grundsätzlich die – erfolgreich bestandene – Abschlußprüfung (vgl BSG Urteil vom 27. November 1991 – 4/1 RA 65/90 – SozR 3-2200 § 1259 Nr 9). Der Anrechnungszeittatbestand ist nicht erfüllt, wenn nach der Abschlußprüfung lehrspezifische Veranstaltungen nicht mehr stattgefunden haben. Seine – insoweit möglicherweise mißverständliche – Entscheidung vom 6. Februar 1976 (1 RA 89/75 – SozR 2200 § 1259 Nr 17) hat der 1. Senat des BSG durch Urteil vom 28. Juni 1979 (1 RA 51/78 – SozR 2200 § 1259 Nr 42) klargestellt und ausgeführt, daß – auch – die Fachschulausbildung im Regelfall nicht mit ihrer zeitlichen Beendigung abgeschlossen sei, sondern mit der erfolgreichen Abschlußprüfung beendet werde.
Wie der 4. Senat des BSG in seinen Urteilen vom 16. Dezember 1997 (4 RA 14/97, 4 RA 65/97, 4 RA 67/97 und 4 RA 69/97) ausgeführt hat, steht diese am Wortlaut sowie am Sinn und Zweck der Ausbildungszeiten orientierte Auslegung im Einklang mit der Ausgestaltung dieser Zeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung, die an sich dem Versicherungsprinzip widerspricht. Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat an.
Als Zeit ohne Beitragsleistung bietet die Anrechnungszeit einen rentenrechtlichen Ausgleich dafür, daß der Versicherte ohne sein Zutun gehindert war, einer rentenversicherungspflichtigen Tätigkeit nachzugehen und so Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zu entrichten. Wegen der fehlenden Beitragsleistung sind diese Zeiten Solidarleistungen der Versichertengemeinschaft, die – entgegen der Ansicht des LSG – nicht der Vervollständigung der Versicherungsbiographie dienen. Art und Umfang der Ausbildung bleiben vielmehr grundsätzlich dem Bereich der Eigenverantwortung des einzelnen vorbehalten, der selbst entscheidet, ob er durch eine qualifizierte Ausbildung seine Erwerbschancen auf dem Arbeitsmarkt unter Verzicht auf mit Beiträgen belegte Zeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung erhöhen will (vgl Beschluß des BVerfG vom 1. Juli 1981 – 1 BvR 874/77 ua, 1 BvL 33/80 ua – BVerfGE 58, 81 = SozR 2200 § 1255a Nr 7; BSG Urteile vom 16. Dezember 1997 – 4 RA 14/97, 4 RA 65/97, 4 RA 67/97 und 4 RA 69/97 –). Wenn der Gesetzgeber im Hinblick hierauf den Umfang (und den zeitlichen Rahmen) der Anrechnungszeiten auf Zeiten beschränkt, in denen der Student an einer fachspezifischen Lehrveranstaltung der Hoch- bzw Fachschule teilnimmt, so ist dies nicht zu beanstanden; die Beschränkung steht im Einklang damit, daß die Zuerkennung von (Ausbildungs-)Anrechnungszeiten sich als Akt des sozialen Ausgleichs darstellt und nicht etwa eine Gegenleistung der Solidargemeinschaft dafür ist, daß der Versicherte mit längeren Ausbildungszeiten höhere Verdienste erzielt und entsprechend höhere Beiträge zur Solidargemeinschaft leisten kann (BVerfG, aaO).
Die Zeit vom 29. Juni bis 31. Juli 1956 kann aber auch nicht unter dem Gesichtspunkt der „unvermeidbaren Zwischenzeit” als Anrechnungszeit berücksichtigt werden. Denn eine solche Zwischenzeit muß nach der Rechtsprechung des BSG ihrer Art nach zwischen zwei anrechenbaren Ausbildungsabschnitten liegen. Unvermeidbare Zwischenzeiten sind insbesondere als den Schul- und Semesterferien gleichstehende Zeiten erachtet worden (BSG Urteil vom 9. Dezember 1981 – 1 RA 43/80 – SozR 2200 § 1259 Nr 58), wenn sie zwischen zwei rentenrechtlich erheblichen Ausbildungsabschnitten liegen, generell unvermeidbar und organisationsbedingt typisch sind, dementsprechend häufig vorkommen und nicht länger als vier Monate andauern. Zwischenzeiten wie die Zeit zwischen Schulabschluß und Beginn eines Hochschul- oder Fachschulstudiums oder eine sich an den Schulbesuch nicht nahtlos anschließende versicherungspflichtige Lehre oder das sich an den Fachschulbesuch nicht nahtlos anschließende versicherungspflichtige Praktikum stellen sich als einheitliche, notwendig zusammenhängende Ausbildung dar (vgl BSG Urteile vom 16. Dezember 1997 – 4 RA 14/97, 4 RA 65/97, 4 RA 67/97 und 4 RA 69/97). In diesen Fällen wird berücksichtigt, daß der Versicherte, der eine – vom Gesetzgeber vorgesehene typisierte – Ausbildung aus von ihm nicht zu vertretenden organisationsbedingten Gründen ungewollt und unvermeidbar nicht zügig fortsetzen und daher erst dementsprechend später eine rentenversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit aufnehmen kann, keinen rentenversicherungspflichtigen Nachteil erleiden soll (BSG Urteil vom 24. Oktober 1996 – 4 RA 52/95 – SozR 3-2600 § 58 Nr 8 mwN). Eine solche Zwischenzeit lag beim Kläger nicht vor. Denn nach Abschluß seiner Diplomprüfung folgte kein weiterer Ausbildungsabschnitt, der ihm erst den Weg ins Berufsleben eröffnet hätte.
Auch wegen „DDR-spezifischer” Besonderheiten, nämlich wegen der durch die Planwirtschaft abgestimmten Vorgaben des Staates zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nach erfolgreichem Abschluß des Studiums, kann § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b SGB VI aF darüber hinaus nicht erweiternd ausgelegt werden. Die (Ausbildungs-)Anrechnungszeit erstreckt sich – wie ausgeführt – ihrem Sinn und Zweck entsprechend ausschließlich auf Zeiten der Ausbildung und beinhaltet nicht etwa auch Zeiten nach Abschluß der Ausbildung bis zum Eintritt ins Berufsleben mit dem Ziel einer lückenlosen Auffüllung der Versicherungsbiographie (BSG Urteil vom 24. Oktober 1996 – 4 RA 121/95 – SozR 3-2600 § 248 Nr 1). Soweit das BSG bei ausbildungsfreien Zeiten zwischen dem Ende der Schulausbildung und dem Beginn des Wehr-/Zivildienstes bzw zwischen Wehr-/Zivildienstende und Beginn des Studiums „unvermeidbare Zwischenzeiten” angenommen hat, wenn infolge der von hoher Hand festgelegten Termine der Beginn bzw die Fortsetzung der Ausbildung sich zeitlich verzögerte (BSG Urteile vom 1. Februar 1995 – 13 RJ 5/94 – SozR 3-2600 § 58 Nr 3, vom 30. März 1994 – 4 RA 45/92 – SozR 3-2200 § 1267 Nr 3 und vom 27. Februar 1997 – 4 RA 21/96 – SozR 3-2600 § 48 Nr 1), handelt es sich um Zeitabschnitte, die vor Vollendung der Ausbildung „unvermeidbar” iS der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze waren.
Einer analogen Anwendung des § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b SGB VI steht entgegen, daß eine Regelungslücke nicht vorliegt, die unter Beachtung von Sinn und Zweck der Vorschrift geschlossen werden könnte. § 58 Abs 1 Nr 4 Buchst b SGB VI enthält keine planwidrige Unvollständigkeit.
Auch ein Verstoß gegen Art 3 Abs 1 GG ist nicht erkennbar. Es ist nicht ersichtlich, daß eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl BSG Urteile vom 16. Dezember 1997 – 4 RA 14/97, 4 RA 65/97, 4 RA 67/97 und 4 RA 69/97).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1175649 |
SGb 1998, 406 |