Leitsatz (redaktionell)
1. Die Pflegezulage dient nicht dazu, besonders schwere Folgen einer Schädigung auszugleichen; sie ist nur zu gewähren, wenn der Beschädigte infolge der Schädigung hilflos ist.
2. Die Neufassung des BVG § 35 durch das 1. NOG KOV vom 1960-06-27 hat die Rechtslage nicht geändert, wenn es in BVG § 35 nunmehr heißt, daß der Beschädigte Pflegezulage erhält, solange er infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedarf, dann sind damit lediglich die Grundsätze, die bisher schon von der Rechtsprechung für die Auslegung des Begriffs "Hilflosigkeit" entwickelt worden sind, in den Gesetzestext übernommen worden, der Begriff "Hilflosigkeit" ist nunmehr im Gesetz definiert worden.
Normenkette
BVG § 35 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 8. April 1959 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger wurde 1944 durch Splitter einer Bombe verwundet; es wurde ihm Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 v.H. sowie eine Zulage für erhöhten Verschleiß an Kleidern und Wäsche zuerkannt wegen "1. Ausgedehnte Narben an der linken Brustkorbseite, am Unterbauch oberhalb der Leistenbeugen und der Symphyse, die bis zum Hodensack und auf die Oberschenkel reichen, mit Narbenbrüchen, 2. Verlust des Gliedes und des linken Hodens, 3. Speichenschußbruch links und Verlust des Endgliedes des linken Daumens und des End- und Mittelgliedes des linken Zeigefingers, 4. Beginnende Weiberbrust (Gynäkomastie) nach Verlust resp. Schwund der Hoden". Am 16. April 1955 beantragte der Kläger - erstmalig - die Gewährung einer Pflegezulage. Zur Begründung führte er aus, er müsse wegen seiner Verwundungsfolgen täglich mehrmals die Bettwäsche wechseln und habe dadurch einen erhöhten Aufwand. Durch Bescheid vom 12. August 1955 erhöhte das Versorgungsamt L... die Zulage für erhöhten Kleider- und Wäscheverschleiß von bisher DM 8.-- auf nunmehr DM 15.-- monatlich, lehnte jedoch die Gewährung einer Pflegezulage ab, weil der Kläger die gewöhnlichen Verrichtungen des täglichen Lebens selbständig ausführen könne und deshalb nicht hilflos sei. Den Widerspruch wies das Landesversorgungsamt Rheinland-Pfalz durch Bescheid vom 17. Oktober 1955 zurück. Der Kläger erhob Klage beim Sozialgericht (SG) Speyer. Durch Urteil vom 18. März 1958 änderte das SG den Bescheid vom 12. August 1955 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 17. Oktober 1955 ab und verurteilte den Beklagten, dem Kläger ab 1. April 1955 Pflegezulage nach Stufe I zu gewähren. Der Beklagte legte Berufung bei dem Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz ein. Im Laufe des Verfahrens erkannte der Beklagte als weitere (mittelbare) Schädigungsfolgen "depressive Zustände" an. Das LSG hob durch Urteil vom 8. April 1959 das Urteil des SG vom 18. März 1958 auf und wies die Klage ab: Die Voraussetzungen für die Pflegezulage seien nicht gegeben, denn der Kläger sei nicht hilflos im Sinne von § 35 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG); bei dem Kläger bestehe zwar wegen seiner Verwundungsfolgen ein sehr hoher Kleider- und Wäscheverschleiß und dadurch ein erhöhtes Wartungsbedürfnis, Hilflosigkeit liege jedoch nicht vor, weil der Kläger die Verrichtungen des täglichen Lebens weitgehend selbst vornehmen könne; der erhöhte Wäscheverschleiß bringe lediglich eine erhöhte Belastung des Haushalts des Klägers mit sich, mache den Kläger aber nicht hilflos; daran ändere auch nichts, daß - wie der Kläger vorgetragen habe - die Harnröhre häufig instrumentell eröffnet werden müsse, daß der Kläger besonders bei feuchtem und kaltem Wetter viel zu Bett liege und daß er im Jahre 1955/56 längere Zeit bettlägerig krank gewesen sei; das häufige Zubettliegen ziehe der Kläger vor, um Wäsche zu sparen, es könne daher nicht als Ausdruck der Hilflosigkeit gewertet werden; die Bettlägerigkeit im Jahre 1955/56 sei durch eine Hepatitis, die nicht Schädigungsfolge sei, verursacht worden; die instrumentelle Harnröhrenerweiterung und Entleerung könne selbst dann, wenn der Kläger dazu fremde Hilfe benötige, nicht die Gewährung einer Pflegezulage rechtfertigen, denn es handele sich dabei nur um eine einzelne tägliche Verrichtung, die überdies nicht die dauernde Bereitschaft fremder Hilfe erfordere; auch die neuerdings als Schädigungsfolgen anerkannten "depressiven Zustände" machten den Kläger nicht hilflos, wie sich aus der Beurteilung durch Dr. N... ergebe; weder aus den Angaben des Klägers noch aus den Akten sei etwas Gegenteiliges zu entnehmen. Die Revision ließ das LSG zu.
Das Urteil wurde dem Kläger am 2. Juni 1959 zugestellt. Am 10. Juni 1959 legte er Revision ein und beantragte,
das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 8. April 1959 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Speyer vom 18. März 1958 zurückzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Am 2. September 1959 - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zu diesem Tage - begründete er die Revision: Das LSG habe die §§ 35 BVG, 103, 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verletzt; der Kläger könne zwar trotz der anerkannten Schädigungsfolgen einen wesentlichen Teil der Verrichtungen des täglichen Lebens selbst vornehmen, die Pflegebedürftigkeit sei aber trotzdem zu bejahen, weil der Kläger durch die Schädigungsfolgen in ganz außergewöhnlichem Maße betroffen sei; er sei schwerer betroffen als z.B. ein Doppelunterschenkelamputierter, der nach der Verwaltungsvorschrift Nr. 8 zu § 35 BVG stets Pflegezulage erhalte; der Kläger müsse ständig gewartet und gepflegt werden, da er im Hinblick auf die Art seiner Schädigungsfolgen anderenfalls körperlich und seelisch zugrundegehe ; das LSG habe das Gutachten des Dr. N... nicht richtig gewürdigt, es habe auch aufklären müssen, ob der Kläger nicht jedenfalls wegen der im Laufe des Verfahrens als weitere Schädigungsfolgen anerkannten "depressiven Zustände" hilflos sei; insoweit sei die Einholung eines fachärztlichen Gutachtens erforderlich gewesen.
Der Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft. Der Kläger hat sie frist- und formgerecht eingelegt und begründet, sie ist daher zulässig. Die Revision ist jedoch unbegründet.
Nach § 35 Abs. 1 BVG in der Fassung vor Inkrafttreten des Ersten Neuordnungsgesetzes vom 27. Juni 1960 aF hat ein Anspruch auf Pflegezulage bestanden, solange der Beschädigte infolge der Schädigung so hilflos gewesen ist, daß er nicht ohne fremde Wartung und Pflege hat bestehen können. Hilflos in diesem Sinne ist der Beschädigte nur, wenn er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden - nicht nur für einzelne - Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens ganz oder in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedarf, wobei es nicht erforderlich ist, daß die Hilfe tatsächlich fortwährend geleistet wird, sondern es genügt, daß die Hilfskraft ständig in Bereitschaft sein muß (zB BSG 8, 97, 99). Die Neufassung des § 35 BVG durch das Erste Neuordnungsgesetz hat die Rechtslage insoweit nicht geändert. In § 35 BVG heißt es nunmehr, Pflegezulage erhalte der Beschädigte, solange er infolge der Schädigung so hilflos sei, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedarf. Damit sind lediglich die Grundsätze, die bisher schon von der Rechtsprechung für die Auslegung des Begriffs "Hilflosigkeit" entwickelt worden sind, in den Gesetzestext übernommen worden, der Begriff "Hilflosigkeit" ist nunmehr im Gesetz definiert worden. Bei dem Kläger liegen jedoch die Begriffsmerkmale der Hilflosigkeit und damit die Voraussetzungen für die Gewährung einer Pflegezulage nicht vor.
Der Kläger kann zahlreiche regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen des täglichen Lebens selbst vornehmen; er kann z.B. sich allein an- und auskleiden, sich waschen, sich rasieren, die Speisen zerkleinern und zu sich nehmen. Allenfalls für eine einzelne tägliche Verrichtung, nämlich die instrumentelle Harnröhrenerweiterung und Harnentleerung, braucht der Kläger fremde Hilfe. Diese fremde Hilfe ist aber nach der Feststellung des LSG durchschnittlich höchstens einmal täglich notwendig, sie ist zudem nicht plötzlich und unerwartet erforderlich, sondern zeitlich verschiebbar. Eine fremde Hilfskraft muß daher auch insoweit nicht ständig bereit sein. Wer nur für eine einzelne der täglich wiederkehrenden notwendigen Verrichtungen fremder Hilfe bedarf, ist aber nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), von der abzuweichen kein Anlaß besteht, nicht hilflos im Sinne des Gesetzes. Auch der Umstand, daß der Kläger bei feuchtem und kaltem Wetter zu Bett liegt, bedeutet nicht, daß der Kläger hilflos im Sinne von § 35 BVG ist. Dabei macht es keinen Unterschied, ob der Kläger dazu, wie die Revision ausführt, "gezwungen" ist, oder ob er dies, wie das LSG ausgeführt hat, lediglich "vorzieht".
Die Revision räumt im übrigen selbst ein, daß der Kläger einen wesentlichen Teil der im täglichen Leben wiederkehrenden Verrichtungen selbst vornehmen kann, sie meint aber zu Unrecht, dem Kläger müsse Pflegezulage gewährt werden, weil er durch die anerkannten Verwundungsfolgen in außergewöhnlichem Maße betroffen sei. Wegen der Schwere der Schädigungsfolgen wird dem Kläger Rente nach einer MdE um 100 v.H. gewährt, wegen des übermäßig hohen Verschleißes an Wäsche, der gerade durch diese Schädigungsfolgen bedingt wird, erhält der Kläger eine Kleiderverschleißzulage nach § 13 Abs. 4 BVG. Damit ist den Besonderheiten des Falles im Rahmen der Möglichkeiten, die das Gesetz bietet, Rechnung getragen. Die Pflegezulage dient nach dem Willen des Gesetzes nicht allgemein dazu, besonders schwere Folgen einer Schädigung auszugleichen, sie ist vielmehr nur zu gewähren, wenn der Beschädigte infolge der Schädigungsfolgen hilflos ist. Eine besonders schwere Schädigung braucht aber nicht immer Hilflosigkeit zu bedingen. So hat das Bundessozialgericht (BSG) zB entschieden, daß ein Offen-Tbc-Kranker mit einer MdE um 100 v.H. nicht hilflos zu sein braucht (BSG 8, 97). Fehl geht der Hinweis des Klägers auf die Verwaltungsvorschrift Nr. 8 zu § 35 BVG, wonach einem Doppelunterschenkelamputierten im allgemeinen eine Pflegezulage zu gewähren sei. Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Verwaltungsvorschrift so verstanden werden darf, daß jedem Doppelunterschenkelamputierten ohne Prüfung, ob im Einzelfall Hilflosigkeit im Sinne des Gesetzes (§ 35 BVG) vorliegt, Pflegezulage zu gewähren ist (vgl. auch Wilke, BVG, Handkommentar 1960, 153) oder ob eine Anwendung der Verwaltungsvorschrift in diesem Sinne dem Gesetz widerspricht; bei dem Kläger liegen jedenfalls die Voraussetzungen der genannten Verwaltungsvorschrift nicht vor.
Das LSG hat auch keinen Anlaß gehabt, weitere Ermittlungen darüber anzustellen, ob die Voraussetzungen für die Gewährung einer Pflegezulage wegen der im Laufe des Verfahrens als Schädigungsfolgen anerkannten "depressiven Zustände" gegeben sind. Zu solchen Ermittlungen hat sich das LSG deshalb nicht gedrängt fühlen müssen, weil der Kläger selbst einräumt, daß er die gewöhnlichen Verrichtungen des täglichen Lebens weitgehend selbst vornehmen könne; sodann hat das LSG auch aus dem Gutachten des Dr. N... entnehmen dürfen, daß die Voraussetzungen für die Gewährung einer Pflegezulage auch unter Berücksichtigung der depressiven Zustände nicht gegeben sind; schließlich hat das LSG dies auch auf Grund allgemeiner Lebenserfahrung annehmen dürfen, zumal die Frage, ob Hilflosigkeit vorliegt, nicht allein ärztlicher Beurteilung unterliegt (Urteil des BSG vom 11. Juni 1959, SozR Nr. 7 zu § 35 BVG).
Die Verfahrensrügen der Revision gehen deshalb fehl, die Feststellungen des LSG sind für das BSG bindend (§ 163 SGG). Der Kläger hat unter diesen Umständen keinen Anspruch auf Pflegezulage. Es bleibt offen, ob der Kläger etwa als Schwerstbeschädigter nach § 31 Abs. 5 BVG in der Fassung des Ersten Neuordnungsgesetzes vom 27. Juni 1960 eine besondere Schwerstbeschädigtenzulage erhalten kann; der Personenkreis, der durch seine Schädigungsfolgen im Sinne dieser Vorschrift "außergewöhnlich betroffen" ist, muß noch durch eine Rechtsverordnung bestimmt werden.
Die Revision ist daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen