Leitsatz (amtlich)
1. Wird eine Person iS der BVFG §§ 1 bis 4 (RVO § 1251 Abs 1 Nr 6) nach dem 1946-12-31 vertrieben, so ist nicht nur diese Zeit der Vertreibung, sondern auch die Zeit vom 1945-01-01 bis 1946-12-31 Ersatzzeit.
2. Beide Zeiten sind nach RVO § 1251 Abs 2 S 2 Buchst a auch ohne vorhergehende Versicherungszeiten anzurechnen, wenn innerhalb von 2 Jahren nach Beendigung der Vertreibungszeit eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen worden ist.
Normenkette
BVFG § 1 Fassung: 1953-05-19, § 2 Fassung: 1953-05-19, § 3 Fassung: 1953-05-19, § 4 Fassung: 1953-05-19; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1957-02-23, Abs. 2 S. 2 Buchst. a Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 28. September 1961 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der 1896 geborene volksdeutsche Kläger wurde im November 1956 aus seinem Geburtsland Ungarn, wo er bis 1955 als selbständiger Landwirt und nach seiner Enteignung von Oktober 1955 bis Oktober 1956 als Hilfsarbeiter tätig gewesen war, ausgesiedelt. Im März 1957 meldete er sich polizeilich in Frankfurt/Main an und begann am 1. April 1957 eine versicherungspflichtige Beschäftigung als Hilfsarbeiter. Er ist im Besitz des Flüchtlingsausweises A.
Nachdem sein erster Rentenantrag im Januar 1959 mangels Berufsunfähigkeit abgewiesen worden war, beantragte der Kläger am 3. August 1959 erneut Rente. Die Beklagte nahm zwar nunmehr auf Grund einer ärztlichen Untersuchung ab 1. April 1959 Erwerbsunfähigkeit an, lehnte den Antrag jedoch gleichwohl durch Bescheid vom 21. Dezember 1959 ab, da nur eine Versicherungszeit von 40 Monaten nachgewiesen und somit die Wartezeit nicht erfüllt sei. Dabei hatte sie die Zeit der abhängigen Beschäftigung des Klägers in Ungarn von Oktober 1955 bis Oktober 1956 mit 13 Monaten, die nachgewiesenen Versicherungszeiten in der Bundesrepublik von April 1957 bis Mai 1959 mit 22 Monaten, sowie als Ersatzzeit die Zeit der Aussiedlung von November 1956 bis März 1957 mit 5 Monaten anerkannt. Eine Anrechnung der Zeit vom 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946 gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 6 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nF als Ersatzzeit lehnte sie dagegen ab.
Auf die gegen den ablehnenden Bescheid erhobene Klage verurteilte das Sozialgericht (SG) Frankfurt/Main die Beklagte durch Urteil vom 15. November 1960 unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides sowie eines weiteren, gleichlautenden Bescheides vom 10. Mai 1960, der nach dem Inkrafttreten des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) ergangen und der gemäß § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des Verfahrens geworden war, an den Kläger ab 1. August 1959 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlten. Es stellte sich auf den Standpunkt, daß außerdem noch die Zeit vom 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946 anzurechnen sei; der Kläger gehöre zu den Personen i. S. der § 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) und habe innerhalb von 2 Jahren nach seiner Aussiedlung eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen.
Die Berufung der Beklagten gegen dieses Urteil blieb ohne Erfolg. Das Hessische Landessozialgericht (LSG) führte in dem die Berufung zurückweisenden Urteil vom 28. September 1961 im wesentlichen aus, es sei zwar zutreffend, daß nach § 1251 Abs. 2 RVO dann, wenn keine Versicherungszeiten vorhergehen, innerhalb von 2 Jahren nach Beendigung der Ersatzzeiten eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen worden sein müsse. Die Zweijahresfrist habe aber nicht schon am 31. Dezember 1946, sondern erst im November 1956 begonnen, da damals erst die Vertreibung des Klägers beendet gewesen sei. Diese Auffassung ergebe sich aus § 1251 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a RVO i. V. m. Abs. 1 Nr. 6 dieser Vorschrift. Danach handle es sich bei der streitigen Zeit und der Zeit der Vertreibung um eine einzige Ersatzzeit. Man könne sich aber auch auf den Standpunkt stellen, daß die Zeit von 1945 bis 1946 nur zur eigentlichen Ersatzzeit, nämlich der Vertreibungszeit hinzuzurechnen sei. In beiden Fällen beginne die Zweijahresfrist erst mit der Beendigung der Vertreibung. Hätte die Zweijahresfrist schon am 1. Januar 1947 begonnen, so würden die 1949 und später vertriebenen Personen benachteiligt. Dies könne nicht der Sinn des Gesetzes sein. Da der Kläger am 1. April 1957, also innerhalb von zwei Jahren nach der eigentlichen Vertreibung, eine versicherungspflichtige Beschäftigung in der Bundesrepublik aufgenommen habe, sei die Zeit vom 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946 zu berücksichtigen. Zusammen mit der vom Kläger unstreitig zurückgelegten Versicherungszeit von 40 Monaten sei daher die Wartezeit erfüllt. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das ihr am 26. Oktober 1961 zugestellte Urteil legte die Beklagte am 23. November 1961 Revision ein und begründete sie am 21. Dezember 1961. Sie meint, das LSG habe § 1251 RVO falsch angewendet. Nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes könne die Zweijahresfrist nur am 1. Januar 1947 und nicht mit einer etwaigen späteren Aussiedlung beginnen. Die Auffassung des LSG, die 1949 und später vertriebenen Personen würden bei einer anderen Auslegung benachteiligt, sei nicht stichhaltig, weil das Fremdrentenrecht in der Regel die Möglichkeit biete, die im Heimatgebiet zurückgelegten Beschäftigungszeiten so zu behandeln, als ob während dieser Zeiten im Bundesgebiet Pflichtbeiträge entrichtet worden wären. Die Aussiedlung des Klägers habe erst mit dem Verlust des Wohnsitzes in Ungarn begonnen und sei mit dem Eintreffen im Bundesgebiet beendet gewesen. Es bestehe auch keine Möglichkeit, etwa die Zeit von Januar 1947 bis Oktober 1956 als Ersatzzeit anzurechnen.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil und das des SG Frankfurt vom 15. November 1960 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er stützt sich im wesentlichen auf die Gründe des angefochtenen Urteils, das er für zutreffend hält.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist auch zulässig, denn die Beklagte hat gegen das ihr am 26. Oktober 1961 zugestellte Urteil rechtzeitig am 23. November 1961 unter Stellung eines bestimmten Antrags Revision eingelegt und diese innerhalb der Revisionsbegründungsfrist am 21. Dezember 1961 begründet.
Die Begründetheit der Revision hängt davon ab, ob das LSG § 1251 RVO richtig angewendet hat. Nach Abs. 1 Nr. 6 dieser Vorschrift wird für die Wartezeit als Ersatzzeit angerechnet die Zeit vom 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946 sowie außerhalb dieses Zeitraums liegende Zeiten der Vertreibung oder Flucht bei Personen i. S. der §§ 1 bis 4 BVFG. Hierzu gehört der Kläger. Nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG ist Vertriebener auch, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen die früheren Ostgebiete (u. a. Ungarn) verlassen hat oder verläßt. Nach § 1251 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a RVO werden die in Abs. 1 aufgeführten Zeiten jedoch dann, wenn keine Versicherungszeiten vorhergehen, nur berücksichtigt, wenn innerhalb von 2 Jahren nach Beendigung der Ersatzzeit eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden ist. Fraglich ist, ob es zur Anrechnung der Zeit vom 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946 ausreicht, daß der Kläger am 1. April 1957, also wenige Monate nach seiner Aussiedlung, eine versicherungspflichtige Beschäftigung als Hilfsarbeiter aufgenommen hat, oder ob es erforderlich gewesen wäre, daß er innerhalb von 2 Jahren, gerechnet vom 31. Dezember 1946 ab, eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen hatte.
Hierzu wird überwiegend die Ansicht vertreten, daß die Zweijahresfrist nicht mit dem 31. Dezember 1946, sondern erst mit dem Ende der Vertreibung zu laufen beginnt. So führen Jantz/Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, in § 1251 RVO Anm. 6 aus, daß die Zeit vom 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946 stets voll angerechnet werde, auch wenn die Zeit zwischen dem Verlust des Wohnsitzes im Vertreibungsland und der Wohnsitznahme im Bundesgebiet oder in der sowjetischen Besatzungszone von kürzerer Dauer gewesen sei. Bei einer Vertreibung oder Flucht nach dem 31. Dezember 1946 werde sie ferner stets kumulativ, d. h. neben den Zeiten der tatsächlichen Vertreibung oder Flucht berücksichtigt. Im Gesamtkommentar zur RVO heißt es in § 1251 Anm. 9, daß den Personen i. S. der §§ 1 bis 4 BVFG die Jahre 1945 bis 1946 stets und außerdem die Vertreibungs- und Fluchtzeiten zusätzlich anzurechnen seien. Auch im Verbandskommentar zur RVO, 6. Aufl., wird in § 1251 Anm. 24 ausgeführt, daß die hier streitige Zeit jedem Vertriebenen, ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt der Vertreibung anzurechnen sei. Es genüge der Nachweis der Zugehörigkeit zu einer der in den §§ 1 bis 4 BVFG aufgeführten Personengruppen. Ähnlich äußern sich Hoernigk/Jorks, Rentenversicherung, § 1251 Anm. 17, Schimanski, Knappschaftsversicherungsgesetz, § 51 Anm. 15, Miesbach/Busl, Reichsknappschaftsgesetz, § 51 Anm. 7. Aus diesen Anmerkungen folgt, daß es nach Ansicht der Kommentatoren bei der Anrechnung der Zeit vom 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946 nicht auf die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung innerhalb von 2 Jahren nach dem 31. Dezember 1946 ankommen soll.
Es fragt sich allerdings, ob diese Auffassung mit dem Wortlaut und dem Sinn und Zweck des Gesetzes zu vereinbaren ist. Nach § 1251 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a RVO werden die in Abs. 1 aufgeführten Zeiten auch ohne vorhergehende Versicherungszeiten angerechnet, wenn innerhalb von 2 Jahren nach Beendigung der Ersatzzeit eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen worden ist. Abs. 2 knüpft also die Anrechnung aller in Abs. 1 genannten Zeiten noch an bestimmte Voraussetzungen. In Abs. 1 Nr. 6 werden nun aber die Zeit vom 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946 und außerhalb dieses Zeitraumes liegende Zeiten der Vertreibung oder Flucht aufgeführt, so daß der Eindruck entstehen kann, daß nach jeder dieser Zeiten innerhalb von 2 Jahren eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen worden sein muß, wenn eine Anrechnung als Ersatzzeit möglich sein soll. Das hätte jedoch zur Folge, daß die Zeit vom 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946 nur bei den Personen berücksichtigt werden könnte, die noch vor dem 31. Dezember 1948 vertrieben worden sind und eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen haben. Es ist aber kaum vorstellbar, daß das Gesetz einen Unterschied machen wollte zwischen Personen, die vor dem 31. Dezember 1948 vertrieben worden sind und eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen haben, und solchen Personen, deren Vertreibung und Arbeitsaufnahme nach diesem Datum lag. Ein sachlicher Grund für eine derartige Unterscheidung wäre auch nicht ersichtlich. Die Benachteiligung, die in einer unterschiedlichen Behandlung der nach 1948 Vertriebenen liegen würde, wird auch durch das Fremdrentenrecht nicht behoben. Die dem Heimatvertriebenen in § 1251 Abs. 2 RVO eingeräumte Ersatzzeit bezweckt, dem Vertriebenen die soziale und wirtschaftliche Eingewöhnung in der deutschen Heimat zu erleichtern. Der Gesetzgeber kann das hier streitige Problem überdies kaum übersehen haben, da es klar ersichtlich war, daß ein erheblicher Teil der unter die §§ 1 bis 4 BVFG fallenden, insbesondere in § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG genannten Personen erst nach 1948 "vertrieben" worden ist. Daraus, daß er die Zeit vom 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946 den Flüchtlingen zugebilligt hat ohne Rücksicht auf die Dauer der tatsächlichen Vertreibung oder darauf, ob die Vertreibung innerhalb dieser Zeit gelegen hat, ergibt sich daher, daß er ganz allgemein für die Personen i. S. der §§ 1 bis 4 BVFG eine Vergünstigung schaffen wollte. Sie sollte ersichtlich darin bestehen, den Vertriebenen einen Ausgleich dafür zu gewähren, daß sie sich nach dem Kriege unter erschwerten Umständen eine neue Existenz aufbauen mußten. Dann muß diese Vergünstigung aber auch allen Vertriebenen gleichermaßen zugute kommen, ohne Rücksicht darauf, wann sie vertrieben worden sind, sofern sie nur im Anschluß an die Vertreibung innerhalb von 2 Jahren eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen haben. Der Auffassung des LSG ist sonach dahin zuzustimmen, daß die Zweijahresfrist nicht schon am 1. Januar 1947, sondern erst mit der Beendigung der Aussiedlung im Jahre 1956 zu laufen begonnen hat. Dieser Auffassung steht auch der Wortlaut des § 1251 Abs. 1 Nr. 6 und Abs. 2 Satz 2 Buchst. a RVO nicht entgegen, wenn man, was ohne weiteres möglich ist, mit dem LSG die Zeit vom 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1946 und eine spätere Vertreibungszeit als eine Ersatzzeit ansieht. Der Kläger, der Aussiedler ist und damit unter § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG fällt, hat mithin im Gegensatz zur Auffassung der Beklagten die Wartezeit von 60 Beitragsmonaten mit den anerkannten Versicherungszeiten (40 Beitragsmonate) und der anzurechnenden Ersatzzeit von 24 Monaten erfüllt (§§ 1247, 1249-1251 RVO). Da sonach das LSG ohne Rechtsirrtum eine Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit zugesprochen hat, war die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen