Leitsatz (redaktionell)
Durch einen im Verhältnis zur Gesamtstrecke nur unbedeutenden Umweg tritt keine Lösung des Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit ein.
Normenkette
RVO § 543 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. November 1957 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger beansprucht Entschädigung für die Folgen eines Motorradunfalles vom 22. Oktober 1954.
Das Landessozialgericht (LSG) hat hierzu folgende tatsächlichen Feststellungen getroffen:
"Der am 15. November 1928 geborene Kläger war Monteur bei der Energie-Versorgung S... AG und auf Montage im Umspannwerk E... tätig. Er wohnte in M... bei seiner Mutter. Am 22. Oktober 1954 fuhr er nach Beendigung seiner Arbeit gegen 19.00 Uhr mit seinem Motorrad von E... über G... nach E..., wo er gegen 21.00 Uhr eintraf und den Wochenbericht bei seiner Firma abgab. Anschließend setzte er seine Heimfahrt über O... -E... -E... -K... fort. In E... war die Weiterfahrt auf der Bundesstraße Nr. 312 nach B... durch Hinweisschilder und Schranken gesperrt und als Umleitung der Weg über E... auf der Landstraße I. Ordnung Nr. 299 und anschließend von E... nach Süden auf der Landstraße I. Ordnung Nr. 260 vorgeschrieben. Der Kläger befuhr auch die Straße Nr. 299 bis E..., bog aber dort nicht in die Umleitungsstraße Nr. 260 nach Süden ab, sondern benutzte die nach Südosten führende Straße nach K..., wo er etwa gegen 22.00 Uhr eintraf. Hier unterbrach er die Fahrt und besuchte seine damalige Braut und deren Familie. Er nahm dort einen Imbiss ein und ein warmes Getränk zu sich. Anschließend setzte er die Fahrt in südlicher Richtung in der Absicht fort, über E... -T... seinen Wohnort M... zu erreichen. In T... hätte er die Bundesstraße erreicht, auf der er üblicherweise heim fuhr. Kurz vor E... kam das Motorrad in einer starken Rechtskurve ins Schleudern, so daß der Kläger stürzte und sich schwer verletzte. Es handelte sich um einen schweren Zertrümmerungsbruch des Schienbeinkopfes mit ausgedehntem Bluterguß und Zerreißung großer Gefäße. Infolge einer eingetretenen Komplikation mußte der linke Unterschenkel im oberen Drittel amputiert werden. Der Kläger wurde erst gegen 1.00 Uhr von Arbeitskollegen, die zufällig mit einem Omnibus von einer Betriebsversammlung zurückkehrten, am Rand der Straße liegend aufgefunden."
Die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils enthalten unter anderem noch folgende ergänzenden Feststellungen:
Der Kläger sei am Unfalltag insgesamt 12 Stunden beruflich tätig gewesen und habe seine letzte Mahlzeit in der Mittagszeit eingenommen. Der Umweg über K:... habe die Gesamtstrecke des Nachhausewegs von rund 110 km um etwa 3 bis 4 km verlängert. Der Kläger habe sich nicht wesentlich länger als eine Stunde bei seiner Braut aufgehalten, bald nach 22 Uhr die Weiterfahrt angetreten und von etwa 23 Uhr bis 1 Uhr am Straßenrand gelegen.
Die Beklagte lehnte die Entschädigungsansprüche durch Bescheid vom 13. Juni 1955 mit der Begründung ab:
Der Zusammenhang des Heimwegs mit der versicherten Tätigkeit sei dadurch gelöst worden, daß der Kläger aus eigenwirtschaftlichen Interessen die befreundete Familie in K... aufgesucht und sich dort längere Zeit aufgehalten habe. Zur Einnahme eines Imbisses habe der Kläger die Familie nicht aufsuchen müssen, da er hierzu in verschiedenen auf der Heimfahrt durchfahrenen Orten Gelegenheit gehabt hätte.
Diesen Bescheid hat der Kläger mit der Klage zum Sozialgericht (SG) Ulm angefochten. Das SG hat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden und am 22. November 1955 die Klage abgewiesen, weil nach der Auffassung des SG der Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit dadurch gelöst worden ist, daß der Kläger in Erolzheim von dem nach Berkheim führenden Umleitungsweg abgebogen ist.
Auf die Berufung des Klägers hat das LSG Baden-Württemberg durch Urteil vom 28. November 1957 das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Unfall des Klägers vom 22. Oktober 1954 als entschädigungspflichtigen Arbeitsunfall anzuerkennen.
Das LSG ist der Auffassung, daß die Fahrt des Klägers im Unfallzeitpunkt noch in zeitlichem, örtlichem und innerem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gestanden habe. Der Besuch bei der Braut sei nur ein Nebenzweck der Fahrt nach K... gewesen, vielmehr sei es dem Kläger wesentlich nur darauf angekommen, bei seiner Braut etwas zu essen und sich zu erfrischen. Das Bedürfnis zur Erholung und Erfrischung habe aber im Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit gestanden. Da der Kläger durch die Umleitung in unmittelbare Nähe des Wohnorts der Braut gekommen sei, habe es sehr nahe gelegen, daß er nicht in einer Gastwirtschaft, sondern bei seiner Braut eingekehrt sei. Der Umweg sei auch im Verhältnis zur Gesamtstrecke nicht bedeutend gewesen.
Die Revision ist vom LSG zugelassen worden.
Die Beklagte hat gegen das Urteil, dessen Empfang sie unter dem 23. Januar 1958 bestätigt hat, am 19. Februar 1958 Revision eingelegt und sie am 11. März 1958 begründet.
Sie beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm zurückzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) statthafte Revision ist in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden und somit zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet.
Die Revision greift einen Teil der tatsächlichen Feststellungen des LSG mit Rügen von Verfahrensmängeln an.
Sie weist zutreffend auf den Widerspruch hin, der darin liegt, daß der Kläger - nach den Feststellungen des LSG - "etwa gegen 22.00 Uhr in Kirchdorf" eingetroffen sein und sich "nicht wesentlich länger als eine Stunde bei der Braut aufgehalten", andererseits aber schon "bald nach 22.00 Uhr die Weiterfahrt angetreten" haben soll. Hierbei handelt es sich jedoch offensichtlich nur um einen Schreibfehler ("22.00 Uhr" statt richtig: "23.00 Uhr"), der sachlich ohne Bedeutung ist, da sich aus dem Zusammenhang der Ausführungen, insbesondere auch aus der anschließenden Feststellung, der Kläger habe "von etwa 23.00 Uhr bis 1 Uhr" am Straßenrand gelegen, entnehmen läßt, welcher Zeitpunkt gemeint ist.
Vor allem aber hält die Revision die Feststellungen des LSG hinsichtlich der Dauer des Aufenthalts in K... und des Unfallzeitpunkts für fehlerhaft. Sie ist der Auffassung, es sei völlig unmöglich anzunehmen, daß der Kläger etwa zwei Stunden am Straßenrand gelegen habe, ohne von Passanten bemerkt zu werden. Eine derartige Annahme stehe mit der Auskunft des Landespolizei-Postens B... vom 23. November 1957 in Widerspruch, aus der jeder unbefangene Leser nur entnehmen könne, daß an der Unfallstelle nicht unerheblicher Verkehr herrsche und die Straße zu jeder Tageszeit, belebt sei. Das LSG hätte den Polizei-Posten um Ermittlungen darüber ersuchen müssen, ob noch Personen festzustellen sind, die in der Zeit von 23.00 Uhr bis 1.00 Uhr die Straße benutzt haben und an der Unfallstelle vorbeigekommen sind. Diese Rüge ist nicht begründet. Das LSG hat die in dieser Beziehung bestehenden Zweifel keineswegs verkannt und insbesondere auch die Auskunft des Polizei-Postens ausführlich gewürdigt. Es hat die Grenzen seines Rechts auf freie richterliche Überzeugungsbildung (§ 128 SGG) dadurch nicht überschritten, daß es trotz der im Urteil dargelegten Bedenken die Angaben des in der Verhandlung vor dem LSG persönlich anwesenden Klägers für glaubwürdig gehalten hat. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß die Auskunft des Polizei-Postens erst vom LSG zur weiteren Klärung des Sachverhalts beigezogen worden ist, während die Beklagte selbst die Angaben des Klägers insoweit nicht in Zweifel gezogen, sondern vielmehr noch im Berufungsschriftsatz vom 15. Februar 1956 ausdrücklich die Auffassung vertreten hatte, es stehe fest, daß der Unfall sich "ungefähr um 23.30 Uhr" bei Egelsee ereignet habe. Unter diesen Umständen mußte sich das LSG auch nicht zu einem Versuch gedrängt fühlen, ob mehr als drei Jahre nach dem Unfall doch noch Personen zu ermitteln gewesen wären, die in der fraglichen Zeit die Straße, auf der sich der Unfall ereignet hat, benutzt haben:
Weiterhin will die Beklagte wohl auch die Feststellung angreifen, daß es sich bei der Straße von F... nach K... um eine "nach Südosten führende" Straße handele. Die Revision ist der Meinung, das LSG hätte sich mit Rücksicht auf die Skizze zwischen Bl. 17 und 18 der Akten der Beklagten insoweit zu weiteren Ermittlungen gedrängt fühlen müssen, weil man nach dieser Skizze den Eindruck habe, daß die Straße "unmittelbar und gerade nach Osten" führe. Diese Behauptung ist unrichtig, denn nach der Skizze, die übrigens mit den dem Senat zugänglichen Karten übereinstimmt, führt die Straße in einer stark nach Süden geneigten Linie ostwärts, so daß die Bezeichnung "südöstlich" durchaus zutreffend ist, wenn auf eine mathematisch genaue Unterscheidung zwischen Süd-Südost, Südost und Ost-Südost verzichtet wird.
In den Ausführungen zur materiell-rechtlichen Beurteilung des Falles trägt die Revision unter ausdrücklicher Bezugnahme auf § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG noch vor: Das LSG habe verkannt, daß der Kläger den Umweg in erster Linie in Verfolgung rein eigenwirtschaftlicher Zwecke gemacht habe, nämlich um seine Braut aufzusuchen. Das LSG habe bei seinen Erwägungen das Interesse eines jungen Menschen an seiner Verlobten einfach beiseite geschoben.
Dieses Vorbringen trifft nicht zu. Das LSG hat seine Auffassung, die Angaben des Klägers, es sei ihm wesentlich darauf angekommen, bei seiner Braut etwas zu essen und sich zu erfrischen, seien glaubhaft, ausdrücklich damit begründet, daß der Kläger nach seinen von der Braut bestätigten und vom LSG als glaubhaft bezeichneten Angaben sonst niemals auf der Heimfahrt bei der Braut eingekehrt sei. Es ist nicht ersichtlich, inwiefern das LSG bei diesen Erwägungen gegen § 128 SGG verstoßen haben sollte.
Die von der Revision vorgetragenen Rügen sind somit nicht geeignet, die Bindung des Revisionsgerichts an eine der tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) zu beseitigen.
Auch die rechtlichen Folgerungen, die das LSG aus seinen tatsächlichen Feststellungen gezogen hat, sind im Ergebnis zutreffend.
Der Unfall hat sich auf einem "Umweg" ereignet; denn der Kläger fuhr von E... aus weiter in Richtung auf seinen von dort aus im Süden liegenden Wohnort und benutzte hierfür lediglich anstelle der unmittelbar über Berkheim nach Süden führenden Straße die südöstlich nach K... führende Straße, auf der er im weiteren Verlauf in einem Bogen wieder auf die direkte Verbindung nach Mooshausen gelangt wäre (vgl. zum Begriff des Umwegs BSG 4, 219; SozR RVO § 543 Aa 2 Nr. 5, Aa 8 Nr. 12, Aa 17 Nr. 21).
Das LSG hat diesen Umweg auch mit Recht als nicht "bedeutend" angesehen. Es hat hierbei - entgegen der Auffassung der Revision - zutreffend die lange Gesamtwegstrecke von E... nach M..., die etwa 110 km beträgt, mit der durch den Umweg über Kirchdorf verursachten Verlängerung des Weges um nur 3 bis 4 km verglichen. Die Revision verkennt, daß das Zurücklegen des direkten Heimwegs nach § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in seiner Gesamtheit hinsichtlich des Versicherungsschutzes der versicherten Arbeitstätigkeit gleichgestellt war und deshalb auch der direkte Heimweg beim Vergleich mit der Länge eines Umwegs nur als Einheit betrachtet werden kann. Es ist rechtlich unerheblich, in welchem Teil der Gesamtstrecke der Umweg eingeschoben worden ist.
Es kann dahingestellt bleiben, ob der Unfall auf dem Umweg schon deshalb unter Versicherungsschutz stand, weil es sich um einen im Verhältnis zur Gesamtstrecke so unbedeutenden Umweg gehandelt hat, daß der Versicherungsschutz in jedem Fall fortbestand und es auf den Grund für das Einschlagen des Umwegs nicht ankommt. Das LSG hat mit Recht berücksichtigt, daß der Entschluß zum Einschlagen des Umwegs rechtlich wesentlich auf Umständen beruhte, die mit der versicherten Arbeitstätigkeit und mit der durch die Lage des dem Kläger zugewiesenen Arbeitsplatzes bedingten langen Heimfahrt im Zusammenhang standen. Nach den Feststellungen des LSG hat der Kläger sich in erster Linie deshalb entschlossen nach K... abzubiegen, weil er das Bedürfnis nach einer Mahlzeit und einer Erfrischung hatte. Dieses Bedürfnis war aber eine Folge der seit der letzten Mahlzeit vergangenen langen Zeit, der langen Arbeitszeit und der Beanspruchung durch die weite Heimfahrt, die entgegen der Auffassung der Revision auch insoweit der versicherten Arbeitstätigkeit zuzurechnen ist. Das LSG hat auch zutreffend berücksichtigt, daß es für den Kläger, nachdem er durch die Umleitung ohnehin zwangsläufig in die Nähe von K:... gekommen war, sehr naheliegend gewesen ist, den Umweg über K... in Kauf zu nehmen und noch bei der Familie seiner Braut einzukehren. Unter Berücksichtigung dieser Umstände ist das LSG ohne Rechtsirrtum zu dem Ergebnis gelangt, daß der Zusammenhang der Heimfahrt mit der versicherten Tätigkeit durch das Abbiegen nach Kirchdorf nicht gelöst worden ist.
Eine solche Lösung ist auch durch den Aufenthalt bei der Familie der Braut, der nicht wesentlich länger als eine Stunde gedauert hat, nicht herbeigeführt worden, da die Dauer dieser Erholungspause angesichts der Länge des Arbeitstages und des Heimwegs keineswegs unangemessen war. Die Revision hat hinsichtlich der Fortsetzung des Heimwegs von K... aus noch vorgetragen:
Das LSG habe nicht berücksichtigt, daß es sich nach der Auskunft des Polizei-Postens um eine damals noch ungeteerte und schlecht ausgebaute Landstraße II. Ordnung gehandelt habe, so daß der Kläger durch die Benutzung dieser Straße die Wegegefahr besonders erhöht habe.
Es trifft zwar zu, daß das LSG diesen Umstand in seinen Erwägungen nicht einbezogen hat, jedoch ist das für die Entscheidung unerheblich, denn selbst wenn das tatsächliche Vorbringen der Revision zutrifft, ergibt sich hieraus nicht, daß der Kläger sich völlig unvernünftig und aus Gründen, die mit der Absicht, seinen Wohnort zu erreichen, nicht im Zusammenhang standen, einer ungewöhnlichen Gefahr ausgesetzt hätte (vgl. hierzu BSG 6, 163, 168). Selbst wenn der Unfall im wesentlichen auf die Straßenbeschaffenheit zurückzuführen sein sollte, würde der Kläger vielmehr sogar einer Gefahr erlegen sein, die für Motorradfahrten auf öffentlichen Straßen geradezu typisch ist.
Hiernach hat das LSG mit Recht für die restliche Heimfahrt von K... aus den Versicherungsschutz nach § 543 RVO bejaht. Die Revision ist infolgedessen unbegründet und war zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens ergeht auf Grund von § 193 SGG.
Fundstellen