Leitsatz (amtlich)
1. Die Tätigkeit, die eine frei praktizierende Hebamme in den unter polnischer Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten seit Mai 1945 ausgeübt hat, steht rechtlich einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung im Geltungsbereich des Fremdrentengesetzes nicht gleich, auch wenn sie bis dahin in derselben Tätigkeit als Hebamme mit Niederlassungserlaubnis (AVG § 4 aF) versicherungspflichtig war.
2. Renten Vertriebener aus Versicherungsfällen nach dem 1956-12-31, die noch nach AnVNG Art 2 § 42 Abs 1 S 2 festgestellt worden sind, sind für die Zeit vom 1959-01-01 an auch dann nach den Vorschriften des AVG neu zu berechnen, wenn sie nur auf Zeiten reichsgesetzlicher Rentenversicherung beruhen. Dabei sind ua auch die neuen Vorschriften über Ersatzzeiten, besonders AVG § 28 Abs 1 Nr 6, anzuwenden.
3. Ein Gericht ist weder verpflichtet noch berechtigt, nach GG Art 100 Abs 1 eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, wenn bei Ungültigkeit der für verfassungswidrig gehaltenen Norm die dadurch entstehende Lücke nur durch den Gesetzgeber ausgefüllt werden kann.
Normenkette
FRG § 14 Fassung: 1960-02-25, § 15 Fassung: 1960-02-25, § 16 Fassung: 1960-02-25; FANG Art. 6 § 6 Abs. 1 Fassung: 1960-02-25, § 24 Fassung: 1960-02-25; AnVNG Art. 2 § 42 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 43 Fassung: 1957-02-23; AVG § 27 Fassung: 1960-02-25, § 28 Fassung: 1960-02-25, § 29 Fassung: 1960-02-25; RVO § 1250 Fassung: 1960-02-25, § 1251 Fassung: 1960-02-25, § 1252 Fassung: 1960-02-25; GG Art. 100 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23, Art. 3 Fassung: 1949-05-23
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 10. Juli 1962 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Klägerin bezieht seit dem 1. Oktober 1957 von der Beklagten eine Rente aus der Rentenversicherung der Angestellten wegen Berufsunfähigkeit (Bescheid vom 17. Oktober 1958). Bei der nach Art. 2 § 42 Abs. 1 Satz 2 Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG) erfolgten Berechnung der Rente ließ die Beklagte die nicht mit Beiträgen belegte Zeit von 1945 bis 1957 unberücksichtigt. In dieser Zeit war die Klägerin - wie auch schon zuvor von 1926 an - frei praktizierende Hebamme in dem heute unter polnischer Verwaltung stehenden Teil Pommerns. Die Klägerin war der Meinung, diese Zeit müsse ihr rentensteigernd angerechnet werden. Ihre Klage und ihre Berufung waren erfolglos. Das Landessozialgericht (LSG) war der Auffassung, § 16 Fremdrentengesetz (FRG) könne zugunsten der Klägerin nicht angewandt werden, weil die dort erwähnte "Beschäftigung" nur Tätigkeiten in abhängiger Stellung umfasse; für die Selbständigen sei in Art. 2 § 50 AnVNG eine andere Regelung getroffen. Die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 10. Juli 1962).
Die Klägerin legte Revision ein mit dem Antrag (sinngemäß),
die Beklagte unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile und unter Abänderung des Bescheides vom 17. Oktober 1958 zu verurteilen, bei der Rentenberechnung die Hebammentätigkeit von 1945 bis 1957 als anrechnungsfähige Beschäftigungszeit zu berücksichtigen.
Sie rügte die unrichtige Anwendung des § 16 FRG; diese Vorschrift sei auch auf die nach dem Recht der Bundesrepublik versicherungspflichtigen Selbständigen anzuwenden.
Die Beklagte und die Beigeladene beantragen die Zurückweisung der Revision.
Die Revision ist zulässig; sie ist im Ergebnis auch begründet, allerdings nicht auf Grund der Revisionsrüge der Klägerin, sondern deshalb, weil das Berufungsgericht im Rahmen des Art. 6 § 6 Abs. 1 Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetz (FANG) zwar die Anwendbarkeit der §§ 15, 16 FRG, nicht aber die Auswirkungen der über § 14 FRG anwendbaren allgemeinen Vorschriften des Bundesrechts geprüft hat.
Das LSG ist davon ausgegangen, daß die Klägerin als selbständige Hebamme in dem seit 1945 unter polnische Verwaltung gestellten Teil Pommerns nach dem dort angewandten polnischen Sozialversicherungsrecht nicht zum Kreis der versicherungspflichtigen Angestellten gehört und in der fraglichen Zeit weder Pflichtbeiträge noch freiwillige Beiträge zur Rentenversicherung geleistet hat und auch nicht leisten durfte. Es hat ferner festgestellt, daß die Klägerin keine abhängige Beschäftigung verrichtet hat. Diese Feststellungen sind von der Revision nicht angegriffen worden.
Das LSG hat sodann die Anwendbarkeit des § 16 FRG geprüft; dabei ist es zutreffend zu dem Ergebnis gekommen, daß diese Vorschrift zugunsten der Klägerin nicht angewendet werden kann, weil die hier bestimmte Gleichstellung von Beschäftigungen mit rentenversicherungspflichtigen Beschäftigungen im Geltungsbereich des Gesetzes eine abhängige Beschäftigung im privaten oder öffentlichen Dienst voraussetzt. Der Senat tritt dieser Rechtsauffassung bei. Sie ergibt sich - wie das LSG zutreffend dargelegt hat - sowohl aus dem Wortlaut der Vorschrift als auch aus ihrem Sinn. Unter "Beschäftigung" ist nach der Terminologie der Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze stets eine anhängige zu verstehen; ihr Gegensatz ist die selbständige "Tätigkeit" (vgl. z. B. § 15 FRG und § 25 Abs. 2 und 3 Angestelltenversicherungsgesetz - AVG -). Sinn und Zweck der Regelung sind die Gleichstellung der in bestimmten Vertreibungsgebieten nicht versichert gewesenen Vertriebenen mit den einheimischen Versicherten; von diesen Vertriebenen sollen aber nur diejenigen in die Rentenversicherung eingegliedert werden, die vorher unselbständig beschäftigt waren (vgl. Jantz-Zweng-Eicher, Das neue Fremdrenten- und Auslandsrentenrecht, 2. Auflage S. 51 Anm. 2 zu § 16 FRG mit den dort angeführten Gesetzesmaterialien und S. 52 Anm. 6).
Auch die Art und Weise, mit der das FANG die durch das bis dahin geltende Fremdrentenrecht gelösten und noch offen gelassenen Probleme regelt, spricht für die vom LSG vertretene Auslegung des § 16 FRG. Das FANG rechnet nämlich die Zeiten reichsgesetzlicher Rentenversicherung außerhalb des Bundesgebietes wie Zeiten der Bundesversicherung an (Art. 2 Nr. 1, Art. 3 Nr. 1, Art. 4 Nr. 1 FANG), behandelt Zeiten fremder Rentenversicherungen so, als ob sie im Geltungsbereich des Fremdrentengesetzes zurückgelegt worden wären (§§ 15, 17 Abs. 1 FRG) und beschränkt sich im übrigen darauf, Zeiten unselbständiger Beschäftigung in bestimmten Vertreibungsgebieten (§§ 16, 17 Abs. 2 FRG) oder in bestimmten Beschäftigungsverhältnissen (Art. 6 §§ 18 bis 23 FANG) wie versicherte oder nachversicherte Zeiten zu behandeln. Diese das gesamte Fremdrentenrecht beherrschende Begrenzung auf tatsächliche Versicherung oder abhängige Beschäftigungsverhältnisse läßt es nicht zu, § 16 FRG im Wege lückenfüllender Auslegung auch auf nichtversicherte selbständige Tätigkeiten auszudehnen, und zwar selbst nicht insoweit, als sie in der Rentenversicherung der Bundesrepublik und vorher in der reichsgesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig gewesen wären.
Diese Begrenzung als solche widerspricht auch nicht etwa dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes (GG) (Art. 3), weil die den Vertriebenen und Flüchtlingen entstandenen Schäden vom Recht der Bundesrepublik auf sehr verschiedene Weise ausgeglichen werden, z. B. im Lastenausgleichsrecht oder im Gesetz zur Ausführung des Art. 131 GG.
Daß bei Vertriebenen die Zeiten einer nichtversicherten selbständigen Tätigkeit den nichtversicherten Zeiten einer abhängigen Beschäftigung nicht gleichgestellt sind, ergibt sich auch aus Art. 2 § 50 Abs. 1 AnVNG, der zwar vor dem FANG erlassen, aber durch dieses nicht geändert worden ist. Nach dieser Vorschrift können zwar Zeiten einer nichtversicherten selbständigen Tätigkeit vor der Vertreibung nachträglich als versichert angerechnet werden, aber nur dann, wenn die ehemals Selbständigen binnen bestimmter Frist eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit in der Bundesrepublik aufnehmen und soweit sie für die zurückliegende Zeit selbständiger Tätigkeit nachträglich Versicherungsbeiträge - in dem hierfür zugelassenen Rahmen - entrichten. Zu diesem Kreis gehört die Klägerin nicht, weil sie nach dem Zuzug in die Bundesrepublik nicht mehr versicherungspflichtig beschäftigt oder tätig war.
Die Klägerin meint nun, der Umstand, daß die polnische Verwaltung in den ihr unterstellten deutschen Ostgebieten das Recht der Reichsversicherung außer Kraft gesetzt und stattdessen das polnische Recht eingeführt habe, welches ihre Versicherungspflicht beseitigt und ihr auch kein Recht zur freiwilligen Versicherung oder Weiterversicherung eingeräumt habe, rechtfertige die entsprechende Anwendung des § 16 FRG. Diese Vorschrift solle ja gerade die in den Vertreibungsgebieten fehlende oder für Deutsche ausgeschlossene Sozialversicherung ersetzen. Der Senat verkennt nicht, daß das Schicksal der Klägerin dem des Personenkreises sehr ähnlich ist, den § 16 FRG begünstigt; es ist deshalb verständlich, wenn die Klägerin es als unbillige Härte empfindet, daß ihr trotzdem derselbe Ausgleich verwehrt wird. Da aber ein solcher Ausgleich nach der gesetzlichen Regelung der Rentenversicherung auf genau umschriebene Tatbestände und Personenkreise beschränkt ist, konnte der Senat - entgegen der Meinung der Klägerin - keine Lücke im Gesetz feststellen, die er im Wege der Auslegung hätte ausfüllen dürfen.
Die in den Versicherungsgesetzen - hier dem FANG und dem AnVNG - getroffene Lösung widerspricht aber auch nicht dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG, weil die Schäden der Vertriebenen, und zwar auch soweit die Sicherung ihres Alters dadurch berührt wird, auf sehr verschiedene Weise und in den verschiedensten Gesetzen geregelt worden ist. Es handelt sich dabei auch nicht etwa um eine Entschädigung wie bei einer Enteignung, sondern um einen sozialen Ausgleich, für dessen nähere Gestaltung der Gesetzgeber einen weiten Spielraum hat. Selbst wenn der Senat nach Prüfung aller diese Fragen regelnden Gesetze und Verordnungen die Überzeugung gewonnen hätte, der Personenkreis, zu dem die Klägerin gehört, sei in allen diesen Vorschriften zu Unrecht übergangen worden, so wäre damit noch nicht dargetan, daß gerade die für die Rentenversicherung getroffene Lösung verfassungswidrig sei. Aber selbst wenn der Senat sich überzeugt hätte, daß § 16 FRG durch den Ausschluß dieses Personenkreises den Art. 3 des GG verletze, so könnte er doch nicht nach Art. 100 GG die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einholen. Denn - wie das Bundesverfassungsgericht auf den Vorlagebeschluß eines Sozialgerichts (SG) zu § 16 FRG entschieden hat - wäre die Vorlage deswegen unzulässig, weil die Entscheidung des Rechtsstreits nicht von der Gültigkeit dieser Vorschrift abhängt. Sei § 16 FRG gültig, so schließe er den geltend gemachten Anspruch aus, sei die Vorschrift ungültig, so sei der Anspruch ebenfalls nicht begründet, weil dem Gesetzgeber vielerlei Möglichkeiten gegeben seien, das Problem auf verfassungsmäßige Weise zu lösen, so daß das Gericht die entstehende Lücke nicht ausfüllen könne (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Oktober 1962 - 1 BvL 14/61 - BVerfGE 14, 308).
Das angefochtene Urteil muß trotzdem aufgehoben werden. Das LSG hat zwar mit Recht das FANG angewendet, das nach dem Bescheid der Beklagten, aber vor der mündlichen Verhandlung vor dem LSG in Kraft getreten und für die Rentenansprüche der Vertriebenen maßgebend ist. Die Klägerin gehört zu den Vertriebenen, ihre Rente beruht auf einem Versicherungsfall, der vor dem 1. Januar 1959, aber nach dem 31. Dezember 1956 eingetreten ist; die Rente ist daher nach Art. 6 § 6 Abs. 1 FANG vom Rentenbeginn an umzustellen. Diese Vorschriften mußte auch das LSG im schwebenden Verfahren anwenden. Es hat daher mit Recht geprüft, ob die §§ 15, 16 FRG den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch begründen, und hat dies mit Recht verneint. Das LSG hat aber übersehen, daß Art. 6 § 6 Abs. 1 FANG auch die Anwendung des § 14 FRG für die Umstellung vorschreibt, d. h. im Falle der Klägerin, daß ihre Ansprüche vom 1. Januar 1959 an (Art. 6 § 24 FANG) nach dem für Versicherungsfälle nach dem 31. Dezember 1956 geltenden Recht festzustellen sind, mithin nach den Vorschriften des AVG i. d. F. des Art. 3 FANG, besonders seiner Nr. 1. Da die Klägerin Vertriebene ist, ist dabei auch § 28 Abs. 1 Nr. 6 AVG zu berücksichtigen; hierfür fehlt es aber noch an Feststellungen darüber, welche Zeiten außerhalb des Zeitraumes vom 1. Januar 1945 bis zum 31. Dezember 1946 als Zeiten der Vertreibung oder Flucht und einer anschließenden Krankheit oder unverschuldeten Arbeitslosigkeit anzurechnen sind. Deswegen muß das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen