Entscheidungsstichwort (Thema)

Angemessener Unterhalt

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Um den angemessenen Unterhalt im Zeitpunkt der Scheidung feststellen zu können, müssen bestimmte Einzelheiten, nämlich der Beruf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse beider Ehegatten in diesem Zeitpunkt aber auch voraussehbare Entwicklungen berücksichtigt werden.

2. Der Ansicht, RVO § 1265 S 2 setze auch Unterhaltsbedürftigkeit der früheren Ehefrau des Versicherten nicht voraus, kann nicht gefolgt werden.

 

Normenkette

RVO § 1265 S. 2 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09, S. 1 Alt. 3 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 15. Oktober 1962 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin die Hinterbliebenenrente einer geschiedenen Ehefrau (§ 1265 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) zusteht.

Der an der Scheidung allein schuldige Ehemann der Klägerin, der Versicherte, zahlte nach vorangegangenen unregelmäßigen Unterhaltsleistungen vom 1. Februar 1956 an monatlich 75,- DM und vom 1. Dezember 1956 bis einschließlich März 1960 monatlich 100,- DM Unterhalt für die Klägerin und die eheliche Tochter Birgitt. Im Januar 1960 erkrankte der Versicherte, bezog zunächst Krankengeld und sodann Fürsorgeunterstützung und starb am 28. März 1961 in D, wo er mit der Mutter seines am 28. Juli 1947 geborenen unehelichen Kindes K D zusammenlebte. Auf seinen Antrag gewährte ihm die Landesversicherungsanstalt (LVA) Westfalen mit Bescheid vom 23. März 1961 vom 16. November 1960 an Rente wegen Berufsunfähigkeit in Höhe von 145,30 DM monatlich. Die Klägerin war vom 15. Dezember 1955 bis 15. Juli 1961 als Reinmachefrau beim Amtsgericht (AG) in Pinneberg tätig. Sie verdiente 1960 monatlich durchschnittlich 238,95 DM (Jahresverdienst 2.867,50 DM) und 1961 durchschnittlich 253,29 DM (Verdienst in der Zeit vom 1. Januar bis 15. Juli 1961 1.646,40 DM).

Die Beklagte verweigerte der Klägerin die beantragte Hinterbliebenenrente (Bescheid vom 11. Oktober 1961), das Sozialgericht (SG) hat sie ihr zuerkannt (Urteil vom 26. März 1962), das Landessozialgericht (LSG) hat die Rentenberechtigung der Klägerin verneint (Urteil vom 15. Oktober 1962).

Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt Verletzung des § 1265 RVO.

Sie meint, die 3. Alternative des § 1265 Satz 1 RVO sei erfüllt, weil der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tode bzw. vor Beginn seiner zum Tode führenden Krankheit tatsächlich Unterhalt geleistet habe. Wenn der Versicherte mindestens 5 Jahre lang regelmäßig bis zu seiner krankheitsbedingten Arbeitslosigkeit im April 1960 zunächst 75,- DM, dann 100,- DM monatlich als Unterhalt geleistet habe, sei dieser Zeitraum der "letzte wirtschaftliche Dauerzustand" im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), nicht aber der kaum einjährige Zeitraum zwischen der letzten nachgewiesenen Unterhaltszahlung und dem Tode des Versicherten. Nichts spreche gegen die Annahme der Klägerin, daß ihr der Versicherte, wäre er wieder gesund geworden, wieder regelmäßig und pünktlich Unterhalt geleistet hätte. Mit dem SG müsse es als richtig herausgestellt werden, daß es nicht von dem Zufall einer zunächst erfolgreichen ärztlichen Behandlung und der hierdurch möglichen Lebensverlängerung um wenige Monate abhängen dürfe, daß die geschiedene Frau ihren Hinterbliebenenrentenanspruch verliere. Ein solches Ergebnis würde um so weniger einer gerechten Beurteilung entsprechen, wenn - wie hier - die geschiedene Frau von 1925 bis 1949, also 24 Jahre lang, gemeinsam mit dem Versicherten die Beiträge zur Rentenversicherung aufgebracht habe. Für die ohne überzeugende Begründung gebliebene Auffassung des LSG, daß für die Annahme einer echten Ersatzfunktion der Jahreszeitraum vor dem Tode in der Regel überwiegend mit Unterhaltsbeiträgen gedeckt sein müsse, gebe das Gesetz nichts her. Auch widerspreche sich das LSG selbst, wenn es bei einem Brutto-Einkommen des Versicherten von monatlich 420,- DM die monatliche Überweisung von 100,- DM nicht als Unterhalt gelten lasse.

Die Revision bekämpft im übrigen die dem durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (RVÄndG) dem § 1265 RVO angefügten Satz 2 vom BSG in SozR RVO § 1265 Nr. 31 gegebene Auslegung, diese Vorschrift sei nicht anzuwenden, wenn eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten zur Zeit seines Todes wegen ausreichender Einkommens- und Erwerbsverhältnisse der geschiedenen Ehefrau nicht bestanden habe.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 15. Oktober 1962 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Itzehoe vom 26. März 1962 zurückzuweisen,

hilfsweise,

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 15. Oktober 1962 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

II

Die Revision der Klägerin ist insoweit begründet, als die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Eine frühere Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten geschieden ist, hat nach dem Tode des Versicherten Anspruch auf Hinterbliebenenrente gemäß § 1265 RVO, wenn der Versicherte seiner geschiedenen Ehefrau zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes zu leisten hatte (1. Alternative des § 1265 Satz 1 RVO) oder wenn der Versicherte seiner geschiedenen Ehefrau zur Zeit seines Todes Unterhalt aus sonstigen Gründen zu leisten hatte (2. Alternative des § 1265 Satz 1 RVO) oder wenn der Versicherte seiner geschiedenen Ehefrau im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat (3. Alternative des § 1265 Satz 1 RVO). Ergänzend gilt mit Wirkung vom 1. Juli 1965 für Versicherungsfälle (Tod des Versicherten), die nach dem 31. Dezember 1956 eingetreten sind (Art. 1 § 1 Nr. 27, Art. 5 § 10 Abs. 1 Buchst. e, Art. 5 § 3 und § 4 Abs. 2 Buchst. a RVÄndG) § 1265 Satz 2 RVO. Diese auf den hier in Rede stehenden Versicherungsfall - Tod des Versicherten am 28. März 1961 - anwendbare Vorschrift lautet: "Ist eine Witwenrente nicht zu gewähren, findet Satz 1 auch dann Anwendung, wenn eine Unterhaltsverpflichtung wegen der Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse des Versicherten nicht bestanden hat".

Dem LSG ist darin beizupflichten, daß es den Anspruch der Klägerin aus der 2. Alternative des § 1265 Satz 1 RVO (Unterhaltspflicht "aus sonstigen Gründen") verneint hat.

Ferner fehlen, wie das LSG im Ergebnis ebenfalls mit Recht ausgeführt hat, die Voraussetzungen der 3. Alternative des § 1265 Satz 1 RVO, wonach der Hinterbliebenenrentenanspruch davon abhängt, daß der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tode der Klägerin Unterhalt geleistet hat. Die Angriffe der Revision gegen die Entscheidung des LSG gehen insoweit fehl. Die Revision will hier die von der Rechtsprechung des BSG entwickelten Begriffe des "letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes" (BSG 14, 129, 132 f; 14, 255, 259 f) angewendet wissen. Sie verkennt dabei aber, daß das BSG diesen Begriffen nicht im Rahmen der 3. Alternative des § 1265 Satz 1 RVO, sondern ausschließlich in dem der ersten beiden Alternativen des § 1265 Satz 1 RVO Raum gegeben hat, um das gesetzliche Tatbestandsmerkmal in der 1. und 2. Alternative des § 1265 Satz 1 RVO "zur Zeit seines Todes" näher zu umschreiben. Dieses Tatbestandsmerkmal der 1. und 2. Alternative des § 1265 Satz 1 RVO ist in der 3. Alternative des § 1265 Satz 1 RVO nicht vorhanden. Damit entfällt auch jede Möglichkeit, die dem gesetzlichen Tatbestandsmerkmal "zur Zeit seines Todes" von der Rechtsprechung des BSG gegebene Auslegung auf die auf anderen gesetzlichen Voraussetzungen beruhende 3. Alternative des § 1265 Satz 1 RVO anzuwenden. Entscheidend dafür, ob der Klägerin ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach der 3. Alternative des § 1265 Satz 1 RVO zusteht, ist allein, ob der Versicherte der Klägerin im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat.

Der Versicherte hat am 2. März 1960 zum letzten Male vor seinem Tode (28. März 1961) 100,- DM an die Klägerin gezahlt. Es braucht hier nicht entschieden zu werden, wie das letzte Jahr vor dem Tode des Versicherten zu berechnen ist. Auch wenn man etwa auf volle Monate abstellen wollte, rückrechnend beginnend mit dem Sterbemonat und endend mit dem 12. Monat davor, hätte der Versicherte der Klägerin nicht im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet. Da Unterhalt monatlich im voraus zu zahlen ist (§ 62 Abs. 1 des Ehegesetzes 1946 - EheG -, § 1612 Abs. 3 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -), wäre der letzte Unterhalt für März 1961 am 1. März 1961, der erste Unterhalt innerhalb des letzten Jahres vor dem Tode des Versicherten am 1. April 1960 zu zahlen gewesen, so daß unter Zugrundelegung dieser Berechnungsweise der Versicherte innerhalb dieses Zeitraums keinen Unterhalt geleistet hätte. Rechnet man indes, ausgehend vom Todestag des Versicherten, dem 28. März 1961, auf den Tag genau ein Jahr zurück, so würde der Zeitraum vom 29. März 1960 bis 28. März 1961 in Betracht kommen. Selbst wenn mit dem LSG zugunsten der Klägerin angenommen werden würde, daß die Zahlung von 100,- DM am 2. März 1960 sowohl den Unterhalt für die gemeinsame Tochter Birgitt als auch denjenigen für die Klägerin umfaßte, hätte nur der auf die Zeit vom 29. bis 31. März 1960 entfallende Unterhalt für die Klägerin berücksichtigt werden können. Dieser wäre jedenfalls so geringfügig gewesen, daß er keinen Unterhalt im Sinne des § 1265 RVO dargestellt und daher keinen Hinterbliebenenrentenanspruch ausgelöst hätte. Wie nämlich das BSG schon wiederholt entschieden hat, stellt nicht jeder Betrag Unterhalt im Sinne von § 1265 RVO dar. Vielmehr scheiden geringfügige Beträge als Unterhalt aus (BSG 20, 252; 22, 44; Urteil vom 19. November 1965 - 1 RA 153/62 -). Da allenfalls lediglich ein geringfügiger Unterhalt des Versicherten an die Klägerin in Betracht kommen könnte, kann es auch offen bleiben, ob, wie das LSG meint, Voraussetzung für den hier in Rede stehenden Anspruch ist, daß der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tode zumindest überwiegend Unterhalt geleistet hat.

Indes ließ sich der Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente nach der 1. Alternative des Satzes 1 des § 1265 RVO auf Grund der bisher vom LSG getroffenen Feststellungen nicht aus dem für das LSG anscheinend in erster Linie maßgebenden Grunde ablehnen, zur Zeit des Todes des Versicherten sei die Klägerin wegen ihres Arbeitseinkommens nicht unterhaltsbedürftig gewesen. Der Anspruch nach der 1. Alternative des Satzes 1 des § 1265 RVO knüpft an die Unterhaltspflicht des Versicherten gegenüber der geschiedenen Ehefrau gemäß §§ 58, 59 EheG an. Nach § 58 Abs. 1 EheG hat der allein oder überwiegend für schuldig erklärte Mann der geschiedenen Frau den nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten "angemessenen Unterhalt" zu gewähren, soweit die Einkünfte aus dem Vermögen der Frau und die Erträgnisse einer Erwerbstätigkeit nicht ausreichen. Maßgebend dafür, was "angemessener Unterhalt" ist, sind aber nach § 58 Abs. 1 EheG die Lebensverhältnisse der Ehegatten zur Zeit der Scheidung (BSG in SozR RVO § 1265 Nr. 16), d. h. im vorliegenden Falle im Jahre 1949. Um den angemessenen Unterhalt im Zeitpunkt der Scheidung feststellen zu können, müssen bestimmte Einzelheiten, nämlich der Beruf, die Einkommens- und Vermögensverhältnisse beider Ehegatten in diesem Zeitpunkt, aber auch voraussehbare Entwicklungen berücksichtigt werden. In dieser Beziehung hat das LSG bisher keine Feststellungen getroffen. Schon aus diesem Grunde bedarf es der Zurückverweisung der Sache an das LSG. Dieses wird ermitteln müssen, ob und in welcher Weise die Eheleute im Zeitpunkt der Ehescheidung berufstätig waren und über welches Einkommen und Vermögen sie damals verfügten. Es wird ferner beachten und insoweit Feststellungen treffen müssen, daß zwischen der Ehescheidung (9. Juni 1949) und dem "letzten wirtschaftlichen Dauerzustand" vor dem Tode des Versicherten die allgemeinen Lebenshaltungskosten laufend gestiegen sind (BSG aaO). Es wird sein Augenmerk schließlich darauf zu richten haben, ob der Klägerin eine Erwerbstätigkeit zuzumuten war und ob und inwieweit der Versicherte "zur Zeit seines Todes" unter Berücksichtigung der Unterhaltspflicht gegenüber seinem ehelichen und seinem unehelichen Kind (§ 59 Abs. 1 Satz 2 EheG) unterhaltsfähig war.

Auf den letzteren Umstand, die Unterhaltsfähigkeit des Versicherten zur Zeit seines Todes, kommt es nach Satz 2 des § 1265 RVO, den das LSG in dem angefochtenen Urteil noch nicht berücksichtigen konnte, allerdings nicht mehr an. Wohl aber bedarf es bei der Prüfung der Voraussetzungen des Satzes 2 - neben der Feststellung, ob eine Witwenrente aus der Rentenversicherung des Versicherten nicht zu gewähren ist - auch hier und gerade hier der oben näher bezeichneten Feststellungen, die ein Urteil darüber ermöglichen, ob die Klägerin zur Zeit des Todes des Versicherten unterhaltsbedürftig war. Der Ansicht der Klägerin, Satz 2 des § 1265 RVO setze auch Unterhaltsbedürftigkeit der früheren Ehefrau des Versicherten nicht voraus, kann nicht gefolgt werden. Die Klägerin versucht, diese ihre Auffassung aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift zu begründen. Damit kann sie indes schon deshalb nicht durchdringen, weil eine der Entstehungsgeschichte zu entnehmende Absicht des Gesetzgebers, die, wie hier, im Wortlaut des Gesetzes nicht zum Ausdruck gekommen ist, bei der Auslegung des Gesetzes unbeachtet bleiben muß (BVerfG 11 S. 126, 129 ff; 13 S. 268). Es ist mithin kein Anlaß, von dem Standpunkt abzuweichen, denn das BSG in dem Urteil vom 19. November 1965 (SozR RVO § 1265 Nr. 31) eingenommen hat.

Die Entscheidung über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1984398

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