Leitsatz (amtlich)

Die Teilnahme an einem Lehrgang einer Heimvolkshochschule mit ganztägigem Unterricht von mindestens 50 Wochenstunden ist jedenfalls dann Schulausbildung, wenn der Lehrgangsteilnehmer infolge Krankheit am regelmäßigen Besuch der Volksschule gehindert war und die Lücken, die dadurch bei ihm in dem sonst schon durch die Volksschule vermittelten Stoff entstanden sind, durch die Teilnahme an dem Lehrgang schließen will.

 

Normenkette

RVO § 1267 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1964-08-17

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 8. Mai 1964 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Waisenrente über das vollendete 18. Lebensjahr hinaus während eines Lehrgangs an einer Heimvolkshochschule zusteht (§ 1267 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Der am 18. Januar 1944 geborene Kläger erhielt von der Beklagten bis zum Ende des Monats, in dem er das 18. Lebensjahr vollendete, d. h. bis einschließlich Januar 1962 eine Waisenrente aus der Rentenversicherung seines verstorbenen Vaters. Bevor er am 1. April 1962 eine landwirtschaftliche Lehre antrat, besuchte er vom 1. November 1961 bis 31. März 1962 einen Winterlehrgang der Heimvolkshochschule L/S. Für die Zeit vom 1. April 1962 an gewährte die Beklagte ihm die Waisenrente wieder, verweigerte sie aber für die Monate Februar und März 1962 (Bescheid vom 30. Juli 1962). Das Sozialgericht (SG) und das Landessozialgericht (LSG) erkannten sie ihm zu.

Das Ausbildungsziel der Heimvolkshochschule, einer staatlich anerkannten Schule, an der von staatlich geprüften Lehrkräften nach einem staatlich genehmigten Lehrplan ganztätig mit mindestens 50 Stunden in der Woche unterrichtet werde, diene, so hat das LSG ausgeführt, der Vermittlung eines größeren Allgemeinwissens und einer weiteren Ausbildung von Persönlichkeit und Charakter der jungen Lehrgangsteilnehmer. Eine Schulausbildung brauche nicht fest umrissene, konkrete Ziele anzustreben oder mit einer Abschlußprüfung zu enden; denn auch die Menschenformung und Verbesserung der Bildung der Lehrgangsteilnehmer sei dazu angetan, zu einer Verbreiterung der Grundlage für die spätere Berufsausbildung und zu einer besseren Schulung für die vielfachen Erfordernisse des Berufslebens zu führen, wie dies ein Vergleich mit den allgemeinbildenden Schulen bestätige. Für den durch sein Wirbelsäulenleiden oft an dem regelmäßigen Volksschulbesuch gehinderten Kläger habe sich zudem durch die Teilnahme an dem Internatslehrgang die Möglichkeit eröffnet, in der Volksschule zwangsläufig Versäumtes nachzuholen und so Lücken zu schließen. Bei dieser engen Verbindung zur Volksschulbildung sei schon aus diesem Grunde hier die Teilnahme an dem Heimvolkshochschullehrgang als Schulausbildung anzusehen.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision tritt die Beklagte der Rechtsansicht des Berufungsgerichts entgegen. Waisenrente über das 18. Lebensjahr hinaus will sie nur bei einer Ausbildung für einen bestimmten Beruf, den künftigen Lebensberuf, zugestehen. Sie will davon ausgehen, daß ein Jugendlicher mit 18 Jahren regelmäßig seine Schulausbildung abgeschlossen habe. Diese Altersgrenze sei auch in anderen Gesetzen maßgeblich, so bei der Unterhaltspflicht gegenüber dem unehelichen Kind (§ 1708 des Bürgerlichen Gesetzbuchs - BGB -). Auch ein eheliches Kind sei nur so lange und so weit unterhaltsberechtigt, als seine Schul- oder Berufsausbildung noch nicht beendet sei. Weitergehende Aufwendungen für die Allgemeinbildung nach Vollendung des 18. Lebensjahres schieden regelmäßig aus. Es sei der Sinn des § 1267 RVO, die Schulausbildung einer Waise zu sichern, nicht aber, Bildung auf Kosten der Versichertengemeinschaft zu vermitteln. Ein nur der Vermittlung allgemeinen Wissens dienender Schulbesuch stelle keine berufliche Aus- oder Fortbildung dar.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 8. Mai 1964 und des SG Schleswig vom 9. Dezember 1963 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger ist nicht vertreten.

II

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Die Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger die Waisenrente für die Monate Februar und März 1962 zu gewähren (§ 1267 Satz 2 RVO). Wie auch die Vorinstanzen im Ergebnis zutreffend entschieden haben, befand sich der über 18 Jahre alte, unverheiratete Kläger - über die übrigen Voraussetzungen des § 1267 Satz 2 RVO besteht kein Zweifel -, als er in den Monaten Februar und März 1962 den Winterlehrgang der Heimvolkshochschule L/S besuchte, in Schulausbildung.

Es kann offen bleiben, ob, wie das Berufungsgericht gemeint hat, die Teilnahme an Lehrgängen der von ihm geschilderten Art mit dem Ausbildungsziel der Vermittlung eines größeren Allgemeinwissens und einer weiteren Ausbildung von Persönlichkeit und Charakter schlechthin Schulausbildung im Sinne von § 1267 Satz 2 RVO ist. Jedenfalls war der Besuch der Heimvolkshochschule L/S durch den Kläger Schulausbildung. Wie das LSG festgestellt hat, war der Kläger durch sein Wirbelsäulenleiden oft an dem regelmäßigen Besuch der Volksschule gehindert. Durch die Teilnahme an dem Winterlehrgang der Heimvolkshochschule bot sich ihm die Möglichkeit, das in der Volksschule Versäumte nachzuholen und so die Lücken in dem sonst bereits von der Volksschule vermittelten Stoff zu schließen, ehe er am 1. April 1962 seine landwirtschaftliche Lehre begann. Für ihn trat die durch die Heimvolkshochschule vermittelte Ausbildung an die Stelle der Volksschulausbildung die wegen seines infolge Krankheit unregelmäßigen Schulbesuchs lückenhaft geblieben war. Bei dieser engen Verbindung zur Volksschulausbildung ist dem LSG darin beizupflichten, daß sich der Kläger in Schulausbildung befand, als er den Winterlehrgang der Heimvolkshochschule L/S besuchte.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 44

NJW 1966, 1679

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