Entscheidungsstichwort (Thema)
Subsidiarität der Sozialhilfe
Orientierungssatz
Der Ersatzanspruch eines Sozialhilfeträgers aus RVO § 1531 wird nicht dadurch beeinträchtigt, daß nach seiner Entstehung der Rentenanspruch gemäß § 23 Abs 1 S 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) auf die Kindergeldkasse übergeleitet wird (Festhaltung an BSG 1969-03-11 4 RJ 107/68 = BSGE 29, 164).
Normenkette
RVO § 1531 Fassung: 1945-03-29; BKGG § 23 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1964-04-14
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 30.10.1969) |
SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 20.12.1968) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 30. Oktober 1969 und das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 20. Dezember 1968 werden aufgehoben.
Die Beklagte und die Beigeladene werden als Gesamtschuldner verurteilt, der Klägerin 1.134,30 DM zu zahlen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Dieser Rechtsstreit betrifft die Frage der Rangfolge des Ersatzanspruchs der Klägerin (Sozialhilfeträgerin) aus § 1531 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und des Anspruchs der Beigeladenen (Kindergeldkasse) aus § 23 Abs. 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) idF vor dem 1. Januar 1971.
Dem Versicherten war die Rente wegen Berufsunfähigkeit (mit drei Kinderzuschüssen) für die Monate November 1966 bis März 1968 in Höhe von 5.094,30 DM nachzuzahlen. Von diesem Betrag überwies die Beklagte (Landesversicherungsanstalt)
|
1. an die Beigeladene - Kindergeld für das zweite und dritte Kind - |
1.200,- DM, |
|
|
2. an die Klägerin den Rest in Höhe von |
3.894,30 DM. |
Die Aufwendungen der Klägerin betrugen in dem genannten Zeitraum 5.636,70 DM; hierbei war das Kindergeld voll angerechnet.
Von der Beklagten und der Beigeladenen begehrt die Klägerin die Zahlung von 1.134,30 DM mit der Begründung, daß ihr Ersatzanspruch vorgehe; sie beruft sich auf die Rechtsprechung des 1. und 4. Senats des Bundessozialgerichts - BSG - (BSG 24, 16; 29, 164). Das Sozialgericht Gelsenkirchen hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 20. Dezember 1968). Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 30. Oktober 1969). Der Vorrang des Anspruchs der Beigeladenen ergibt sich nach der Ansicht des LSG daraus, daß der Versicherte nicht benachteiligt werden dürfe. Dies sei aber der Fall, wenn die Klägerin trotz Anrechnung des Kindergeldes auf die Sozialhilfe den vollen Nachzahlungsbetrag erhalte und die Beigeladene dann von dem Versicherten zusätzlich das Kindergeld zurückfordern müsse.
Mit der - zugelassenen - Revision beantragt die Klägerin weiterhin die Verurteilung der Beklagten und der Beigeladenen zur Zahlung von 1.134,30 DM. Die Revision meint, das Berufungsurteil werde dem Gedanken der Subsidiarität, von dem das Sozialhilferecht beherrscht werde, nicht gerecht.
Die Beklagte und die Beigeladene beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist begründet.
Die Beklagte und die Beigeladene sind verpflichtet, der Klägerin 1.134,30 DM zu zahlen. Die Beklagte hätte die für die Monate November 1966 bis März 1968 aufgelaufenen Rentenbeträge des Versicherten jedenfalls in diesem Umfange der Klägerin überweisen müssen. Dadurch, daß sie den noch höheren Teilbetrag von 1.200,- DM der Beigeladenen überließ, wurde sie von dieser Verpflichtung nicht frei. Andererseits hat die Beigeladene den genannten Betrag zu Lasten der Klägerin ohne Rechtsgrund erhalten (öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch).
Der Ersatzanspruch eines Sozialhilfeträgers aus § 1531 RVO wird, wie der erkennende Senat bereits entschieden hat (BSG 29, 164), nicht dadurch beeinträchtigt, daß nach seiner Entstehung der Rentenanspruch gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1 BKGG (in der vor dem 1. Januar 1971 geltenden Fassung) auf die Kindergeldkasse übergeleitet wird. Hieran wird festgehalten (vgl. auch BSG in SozR Nr. 3 zu § 8 BKGG).
Die Vorschrift des § 8 Abs. 3 Satz 3 BKGG, die mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung und Ergänzung des BKGG vom 16. Dezember 1970 (BGBl I 1725) geschaffen worden und an die Stelle des § 23 Abs. 1 Satz 1 BKGG getreten ist, gilt nicht für den hier zu beurteilenden, vor dem 1. Januar 1971 abgeschlossenen Sachverhalt. Sowohl der Gesetzeswortlaut (Art. 5 Abs. 1), als auch der Inhalt der Gesetzesmaterialien (vgl. Schriftlicher Bericht des Bundestagsausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit - BT-Drucks. VI/1204) stehen einer rückwirkenden Anwendung der neuen Regelung entgegen.
§ 1531 Satz 1 RVO erstreckt den Ersatzanspruch auf die Rente einschließlich der Kinderzuschüsse, wenn die Sozialhilfe - wie hier - die Rente dem Betrag nach erreicht oder übersteigt. Der Rentenanspruch ist im Augenblick seines Entstehens in vollem Umfange mit dem Ersatzanspruch behaftet. § 1531 Satz 2 RVO enthält demgegenüber keine Begrenzung. Diese Vorschrift gibt vielmehr dem Sozialhilfeträger - ergänzend für den in Satz 1 unberücksichtigten Fall, daß nicht der Berechtigte selbst, sondern nur ein Angehöriger unterstützt wird - eine besondere Zugriffsmöglichkeit auf die Leistungen, die dem Berechtigten für seinen Angehörigen zufließen, also zB. auf die Kinderzuschüsse, während die Stammrente dem Berechtigten verbleibt.
Die Leistungen der Sozialhilfe sind gegenüber dem Kindergeld subsidiär (§§ 2 Abs. 1, 11 Abs. 1 Satz 2 des Bundessozialhilfegesetzes). Sie setzen auch nicht nur das Vorhandensein von Kindern, sondern zusätzlich voraus, daß der Hilfeempfänger seinen und seiner Familie Unterhalt nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln beschaffen kann. "Nach gesetzlicher Pflicht" (so § 1531 Satz 1 RVO) unterstützt ein Sozialhilfeträger einen Hilfeempfänger, der Anspruch auf Kindergeld hat, nur, wenn er diese Sozialleistung "anrechnet". Auf der anderen Seite wird aus diesem Grund der Ersatzanspruch nicht dadurch geschmälert, daß die nachzuzahlende Rente mit den Kinderzuschüssen Bestandteile enthält, die den Kindergeldanspruch ausschließen. Sozialhilfe und Kindergeld sind im Falle der nachträglichen Rentengewährung vorläufige Leistungen; ihr Verhältnis zueinander wandelt sich durch die Rentengewährung nicht. Auch § 8 Abs. 3 BKGG in der seit dem 1. Januar 1971 geltenden Fassung ändert nichts an der Subsidiarität der Sozialhilfe.
Der Versicherte wird bei dieser Lösung nur benachteiligt, wenn die Rentennachzahlung nicht zur vollen Befriedigung auch des Anspruchs der Kindergeldkasse ausreicht und diese das Kindergeld nach § 13 BKGG zurückfordert. Der Sozialhilfeträger kann den Versicherten, wenn die Rentennachzahlung hinter dem Betrag der gewährten Sozialhilfe zurückbleibt, in aller Regel nicht in Anspruch nehmen. Ob die Kindergeldkasse - nach den sonst geltenden Grundsätzen (vgl. §§ 183 Abs. 3 Satz 3, 1301 RVO; § 47 des Verwaltungsverfahrensgesetzes der Kriegsopferversorgung) - ihre Rückforderung unnachsichtig durchzusetzen hat, ist hier nicht zu entscheiden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen