Leitsatz (redaktionell)
Kein Anspruch auf Verletztenrente, wenn der Versicherte in dem Zeitpunkt, in welchem an sich eine rentenberechtigende Minderung der Erwerbsfähigkeit durch die Berufskrankheit eingetreten wäre, bereits infolge anderer Krankheiten dauernd völlig erwerbsunfähig gewesen ist.
Normenkette
RVO § 551 Abs. 3 S. 2 Fassung: 1963-04-30, § 581 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 25. November 1969 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens haben sich die Beteiligten nicht zu erstatten.
Gründe
I
Streitig ist, ob der Kläger, bei dem mit Bescheid der Beklagten vom 6. Dezember 1967 eine Quarzstaublungenerkrankung als Berufskrankheit anerkannt worden ist, zu diesem Zeitpunkt bereits aus anderen Gründen völlig erwerbsunfähig war, so daß ihm deshalb keine Verletztenrente gewährt werden kann.
Der am 30. März 1906 geborene Kläger hat sich seit dem Jahre 1954 um die Anerkennung einer Quarzstaublungenerkrankung als Berufskrankheit bemüht. Diese Anerkennung wurde abgelehnt, weil nach den vorhandenen silikotischen Einlagerungen höchstens eine Quarzstaublunge 1. bis 2. Grades angenommen werden könnte. Am 24. April 1967 erstatteten Dr. ... und Dr. ... ein Gutachten, in welchem sie zu dem Ergebnis kamen, daß eine in der Hauptsache durch eine chronische Emphysembronchitis hervorgerufene obstruktive Ventilationsstörung des Alveolarraumes mit erhöhtem interbronchialem Strömungswiderstand durch die schrumpfenden tuberkulo-silikotischen Mischprozesse in den Lungenoberlappen eine gewisse Verschlimmerung erfahre. Die dadurch bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) könne auf 30 v.H. geschätzt werden. Eine weitere Leistungsbeeinträchtigung der Brustorgane sei durch von der Silikose unabhängige Herz- und Kreislaufveränderungen bedingt. In einer ergänzenden Stellungnahme vom 25. Oktober 1967 zu seinem Gutachten hat Dr. ... darauf hingewiesen, daß der Kläger bereits im Jahre 1961 völlig erwerbsunfähig und nicht mehr in der Lage gewesen sei, mit seiner Arbeitskraft einen nennenswerten Verdienst zu erzielen. Durch ein sozialgerichtliches Urteil vom 16. November 1962 sei ihm ab 1. September 1961 die Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit zugesprochen worden. Damals hätten folgende Krankheitserscheinungen vorgelegen: Lungenemphysem mit Bronchitis, Silikose I. Grades, ältere tuberkulöse Lungenveränderungen beider Spitzen- und Oberfelder mit Schrumpfungserscheinungen und Hilusverziehung, Pleura-Zwerchfelladhäsionen, Herzmuskelschaden, Aortensklerose, erhebliche Beeinträchtigung der Hörfunktion und des Sehvermögens. Inzwischen sei noch ein Bluthochdruck und eine schwere Atmungsinsuffizienz hinzugekommen. Mit Bescheid vom 6. Dezember 1967 erkannte die Beklagte an, daß der Kläger an einer Quarzstaublungenerkrankung nach Nr. 34 der 6. Berufskrankheitenverordnung leidet. Als Zeitpunkt des Versicherungsfalles gelte der 30. Januar 1967. Es wurde zwar Heilbehandlung, aber keine Rente gewährt, weil der Kläger bei Beginn der Berufskrankheit bereits wegen anderer Leiden völlig erwerbsunfähig gewesen sei.
Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Dortmund mit Urteil vom 30. Oktober 1968 abgewiesen. Das SG hat ein Gutachten nach Aktenlage von Professor Dr. ... vom 21. September 1968 eingeholt. Dieser äußerte die Ansicht, der Kläger sei schon am 10. September 1962, zur Zeit der Begutachtung durch Dr. ..., völlig erwerbsunfähig gewesen. Dr. ... habe lediglich noch eine sitzende Tätigkeit für höchstens zwei bis drei Stunden täglich für möglich gehalten. Prof. Dr. ... glaubt aber, daß der Kläger nach den damals erhobenen Befunden auch leichteste Arbeiten nicht mehr regelmäßig, sondern nur zeitweise mit großen Unterbrechungen durch erneute Krankfeierzeiten hätte ausüben können. Die Silikose habe beim damaligen Gesundheitszustand des Klägers noch keine nennenswerte Rolle gespielt, denn sie sei nach den vorliegenden Röntgenunterlagen damals nur ganz leicht gewesen. Seines Erachtens dürfte die Silikose auch zum heutigen Gesundheitszustand des Klägers kaum beigetragen haben, so daß die Anerkennung in dem angefochtenen Bescheid großzügig gewesen sei. Die gegen das Urteil des SG eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 25. November 1969 zurückgewiesen, weil der Kläger beim Eintritt des Versicherungsfalles der Berufskrankheit am 30. Januar 1967 bereits aus anderen Krankheitsgründen völlig erwerbsunfähig gewesen sei. Vorher sei der Versicherungsfall nicht eingetreten, denn nach den überzeugenden Ausführungen des als Sachverständigen gehörten Prof. Dr. ... sei die Anerkennung großzügig gewesen. Die Silikose habe keinen Einfluß auf die beim Kläger vorliegende völlige Erwerbsunfähigkeit gehabt. Es sei zweifelhaft, ob der Kläger im Jahre 1962 die ihm damals von einem Gutachter noch zugemutete sitzende Tätigkeit von höchstens zwei bis drei Stunden täglich hätte verrichten können. Wahrscheinlich wären schon damals auch leichteste Arbeiten nicht mehr regelmäßig möglich gewesen. Schon damals sei er aus silikoseunabhängigen Gründen außerstande gewesen, einen nennenswerten Verdienst zu erzielen. Wenn der Kläger aber schon damals - unabhängig von der Silikose - völlig erwerbsunfähig gewesen sei, könne ihm keine Rente zugesprochen werden. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.
Mit der vom Kläger eingelegten Revision macht dieser geltend, eine völlige Erwerbsunfähigkeit könne nicht mit der Erwerbsunfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung gleichgestellt werden. Völlig erwerbsunfähig sei nur der Versicherte zu betrachten, der nicht mehr imstande sei, einen Erwerb - sei er auch noch so geringfügig - zu erzielen. Er erledige noch Arbeiten im Haus und im Garten, so bepflanze er noch seinen Hausgarten und ernte ihn auch ab.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 25. November 1969 und des Urteils des Sozialgerichts Dortmund vom 30. Oktober 1968 und unter Abänderung des Bescheids der Beklagten vom 6. Dezember 1967 zu verurteilen, ihm ab 30. Januar 1967 eine Silikoserente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 v.H. zu zahlen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Nach Ansicht der Beklagten ist entscheidend, ob der Kläger bei Eintritt des Versicherungsfalles mit den übrigen Krankheitserscheinungen noch imstande war, unter Ausnutzung der üblichen Arbeitsgelegenheiten auf die Dauer etwas wirtschaftlich Nennenswertes zu verdienen, wobei tragender Gesichtspunkt für diese Wertung das Ergebnis der regelmäßigen Leistung einer nutzvollen Arbeit sein müsse, d.h. der Versicherte müsse mit der vorhandenen Arbeitskraft noch am allgemeinen wirtschaftlichen Erwerbsleben in nennenswertem Umfang dauernd teilnehmen und einen Arbeitsplatz ausfüllen können. Die bloße Möglichkeit der Verrichtung zufälliger oder vorübergehender, besonders günstiger Tätigkeiten müsse außer acht bleiben. Der Kläger, der seit dem 13. August 1960 nicht mehr im Erwerbsleben stehe, habe am 30. Januar 1967 (Eintritt des Versicherungsfalles der Berufskrankheit) bereits wegen anderer Leiden seine Erwerbsfähigkeit völlig verloren gehabt.
II
Die Revision des Klägers ist nicht begründet.
Nach § 581 Abs. 1 Nr. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) wird eine Verletztenrente gewährt, solange die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge eines Arbeitsunfalls um wenigstens 1/5 gemindert ist. Diese Vorschrift ist für Berufskrankheiten entsprechend anzuwenden (§ 551 Abs. 3 Satz 1 RVO). Die rentenberechtigende MdE muß also durch den Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit verursacht worden sein. Daraus ergibt sich, daß dann, wenn ein Versicherter in dem Zeitpunkt, in welchem an sich eine rentenberechtigende MdE durch den Unfall oder durch die Berufskrankheit eingetreten wäre, bereits infolge anderer Krankheiten dauernd erwerbsunfähig ist, keine Rente gewährt werden kann; denn in diesem Falle ist die MdE nicht infolge des Unfalls oder der Berufskrankheit, sondern allein infolge der unfallunabhängigen Krankheit eingetreten. Eine bereits völlig entfallene Erwerbsfähigkeit kann nicht mehr gemindert werden (Urteil des erk. Senats vom 17. Dezember 1969 in BSG 30, 224, 225).
Im vorliegenden Fall ist das LSG, ohne gegen materiell- oder - gerügte - verfahrensrechtliche Vorschriften zu verstoßen, zu dem Ergebnis gekommen, daß der Kläger am 30. Januar 1967, als seine Silikose ein Ausmaß erreichte, das an sich durch eine Rente zu entschädigen gewesen wäre, bereits wegen anderer Leiden völlig erwerbsunfähig gewesen ist. Aus dem Zusammenhang der Urteilsgründe ergibt sich mit hinreichender Deutlichkeit, daß das LSG dem Gutachten von Prof. Dr. ... folgen will, der davon ausgeht, daß der Kläger schon im Jahre 1962 wegen silikoseunabhängiger Leiden und Gebrechen die von Dr. ... noch für möglich gehaltenen zwei bis dreistündigen Tätigkeiten im Sitzen nicht mehr regelmäßig, sondern nur zeitweise mit großen Unterbrechungen durch erneute Krankfeierzeiten, habe verrichten können, und daß damals den leichten silikotischen Lungenveränderungen noch keine nennenswerte Bedeutung zugekommen sei. Das LSG setzt offenbar nach Art der vorhandenen Leiden und nach den im Jahre 1967 erstatteten Gutachten voraus, daß die Leiden, die im Jahre 1962 die Einschränkung der Erwerbsfähigkeit des Klägers bedingten (insbesondere der schwere Herzschaden), sich bis zum 30. Januar 1967 nicht gebessert haben können.
Der Begriff "völlige Erwerbsunfähigkeit" ist vom LSG nicht verkannt worden. Es ist richtig, daß "völlige Erwerbsunfähigkeit" nicht einer Erwerbsunfähigkeit i.S. des § 1247 Abs. 2 RVO gleichsteht; an diesem Begriff sind vielmehr strengere Anforderungen zu stellen. Völlige Erwerbsunfähigkeit bedeutet, daß der Verletzte oder Erkrankte dauernd die Fähigkeit verloren hat, einen irgendwie nennenswerten Verdienst zu erlangen, d.h. er muß aus gesundheitlichen Gründen unfähig sein, sich unter Ausnutzung der Arbeitsgelegenheiten, die sich ihm nach seinen gesamten Kenntnissen sowie körperlichen und geistigen Fähigkeiten im ganzen Bereich des wirtschaftlichen Lebens bieten, noch einen Erwerb zu verschaffen (RVA in AN 1897, 463, 464; BSG in BSG 17, 160, 161). Sie kann nur verneint werden, wenn der gesundheitliche Zustand des Versicherten es ihm erlaubt, sich noch einen nennenswerten Erwerb zu verschaffen. Das ist aber - anders als der Kläger meint - nicht der Fall, wenn jemand nur noch eine Reihe von Arbeiten in seinem Hause und in seinem Garten erledigen kann, denn Tätigkeiten, die im eigenen Haus und Garten verrichtet werden, sind keine Erwerbstätigkeiten. Auch kann aus der Tatsache, daß jemand gelegentlich solche Tätigkeiten verrichtet, nicht geschlossen werden, daß er auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch derartige Tätigkeiten gegen Entgelt verrichten könnte. Erwerbstätigkeiten sind unter anderen Bedingungen zu verrichten, als es bei Arbeiten im eigenen Haus und Garten der Fall ist. Eine völlige Erwerbsunfähigkeit des Klägers liegt vor, weil er - wie das LSG festgestellt hat - selbst leichte Tätigkeiten von täglich zwei bis drei Stunden im Sitzen nicht mehr regelmäßig, sondern wegen Ausfällen der Kreislauffunktion durch Herzveränderungen nur zeitweise mit großen Unterbrechungen durch Krankfeierzeiten verrichten kann. In einem solchen Falle aber ist ein Versicherter nicht mehr fähig, am allgemeinen wirtschaftlichen Erwerbsleben in nennenswertem Umfang teilzunehmen. Mit Recht ist also das LSG davon ausgegangen, daß der Kläger am 30. Januar 1967, als seine Silikose ein Ausmaß erreichte, das durch eine Rente zu entschädigen gewesen wäre, bereits - unabhängig von den Auswirkungen der Quarzstaublungenerkrankung - völlig erwerbsunfähig war.
Die Revision des Klägers mußte daher zurückgewiesen werden. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen