Leitsatz (redaktionell)
Hat das LSG auf Grund seiner aus zahlreichen anderen Rechtsstreitigkeiten gewonnenen Kenntnis festgestellt, daß es bestimmte Tätigkeiten in genügender Anzahl gebe, ohne die Beteiligten vorher auf die Quellen seiner Kenntnis hinzuweisen und ihnen Gelegenheit zu geben, sich dazu zu äußern, verstößt es gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs.
Normenkette
SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03; GG Art. 103 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Hosteinischen Landessozialgerichts vom 3. März 1975 aufgehoben; der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger einen Anspruch auf die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) hat.
Der im Jahre 1915 geborene Kläger, der bis 1970 als gelernter Maschinenschlosser tätig gewesen war, ist seit dem 5. Januar 1972 als Waschraumwärter beschäftigt. Die Beklagte lehnte den am 25. November 1971 gestellten Rentenantrag mit Bescheid vom 24. Mai 1972 ab, weil der Kläger nach dem vorliegenden medizinischen Gutachten noch in der Lage sei, vollschichtig leichte Arbeiten ohne häufiges Bücken, Heben oder Tragen von Lasten, ohne besondere Anforderungen an das Hörvermögen oder ohne Gefährdung durch Lärm zu verrichten.
Das Sozialgericht (SG) hat nach Beweiserhebung mit Urteil vom 19. Februar 1973 den Bescheid der Beklagten aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger mit einem neuen Bescheid ab 1. Dezember 1971 eine Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat nach weiterer Beweiserhebung mit Urteil vom 3. März 1975 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei nicht berufsunfähig, denn er sei noch in der Lage, leichte körperliche Arbeiten im Sitzen, Stehen und im Wechselrhythmus ohne häufiges Bücken und schweres Heben und Tragen zu ebener Erde und nicht unter Lärmbelästigung vollschichtig bei üblichen Anmarschwegen zu Fuß und mit Verkehrsmitteln zu verrichten. Der Kläger könne daher beispielsweise auf Prüf- und Kontrolltätigkeiten, Arbeiten in der Werkzeugpflege und -instandsetzung verwiesen werden. Einer weiteren Beweisaufnahme hierzu bedürfe es nicht, denn es sei den Mitgliedern des Senats aus zahlreichen anderen Rechtsstreitigkeiten bekannt, daß es gerade für Metallfacharbeiter auf dem insoweit maßgebenden Arbeitsfeld der gesamten Bundesrepublik derartige Arbeitsplätze - mögen sie frei oder besetzt sein - in genügender Anzahl gebe.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) durch Beschluß zugelassenen - Revision angefochten. Er trägt vor, das LSG hätte sich angesichts der festgestellten Linsentrübung gedrängt fühlen müssen, der Frage nachzugehen, welche Sehleistungen von einem Arbeitnehmer mit Prüf- und Kontrolltätigkeiten verlangt werden, und ob der Kläger über solche Fähigkeiten verfügt. Darüber hinaus sei das rechtliche Gehör verletzt, denn das LSG habe die aus anderen Verfahren gewonnene Erkenntnis, daß es für Metallfacharbeiter Verweisungstätigkeiten der genannten Art in genügender Zahl gebe, als gerichtskundige Tatsache verwertet, ohne vorher darauf hinzuweisen und dem Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 19. Februar 1973 zurückzuweisen; hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für richtig und die Revision des Klägers für unbegründet.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers hat mit ihrem Hilfsantrag auf Zurückverweisung des Rechtsstreits Erfolg. Das angefochtene Urteil beruht auf einem mit der Revision gerügten wesentlichen Mangel des Berufungsverfahrens.
Das LSG hat aufgrund der aus anderen Verfahren gewonnenen Sachkunde festgestellt, daß es gerade für Metallfacharbeiter auf dem insoweit maßgebenden Arbeitssektor der gesamten Bundesrepublik Verweisungstätigkeiten der vorher genannten Art - mögen sie frei oder besetzt sein - in genügender Anzahl gebe. Zwar kann das Tatsachengericht auch ohne Beweiserhebung aus eigener Kenntnis Tatsachen feststellen; jedoch müssen auch gerichtskundige Tatsachen zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht werden (vgl. BSG 15, 19; BSG in SozR Nr. 91 zu § 128 SGG; Urteile des erkennenden Senats vom 30. Oktober 1974 - 5 RJ 14/73 - und vom 31. Juli 1975 - 5 RJ 224/73; Urteil des 12. Senats vom 30. April 1975 - 12 RJ 314/74 -). Tritt die Gerichtskundigkeit einer Tatsache an die Stelle einer an sich erforderlichen Beweisaufnahme, so müssen die Beteiligten nach § 128 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gelegenheit haben, sich dazu zu äußern. Die den Beteiligten nicht mitgeteilte Gerichtskundigkeit einer Tatsache kann im Urteil nicht verwertet werden. Da das LSG die ohne Beweiserhebung festgestellte Tatsache in das Verfahren eingeführt hat, ohne die Beteiligten vorher auf die Quellen seiner Kenntnis hinzuweisen und ihnen Gelegenheit zu geben, sich dazu zu äußern, hat es gegen den in Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), § 62 SGG und § 128 Abs. 2 SGG verankerten Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstoßen.
Das angefochtene Urteil beruht auf diesem, vom Kläger gerügten wesentlichen Verfahrensmangel. Der ursächliche Zusammenhang zwischen der Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften und der Entscheidung i. S. des § 162 SGG ist schon dann gegeben, wenn die Möglichkeit besteht, daß das LSG bei richtiger Anwendung der verfahrensrechtlichen Vorschriften anders entschieden hätte (vgl. BSG in SozR Nr. 29 zu § 162 SGG). Die danach ausreichende Möglichkeit einer anderen Entscheidung kann im vorliegenden Fall nicht verneint werden. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß der Kläger das LSG durch seinen Vortrag dazu veranlaßt hätte, anders zu entscheiden oder jedenfalls weitere Beweise zu erheben, wenn ihm Gelegenheit gegeben worden wäre, zu der vom LSG aufgrund der Gerichtskunde festgestellten Tatsache Stellung zu nehmen.
Da die Revision schon wegen des mangelnden rechtlichen Gehörs begründet ist, kann es dahingestellt bleiben, ob auch andere - vom Kläger gerügte - Verfahrensmängel vorliegen. Der Senat hat das angefochtene Urteil aufgehoben und - da die übrigen Tatsachenfeststellungen zur abschließenden Entscheidung nicht ausreichen - den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Bei der erneuten Entscheidung wird das LSG zu berücksichtigen haben, daß es Kontroll- und Prüftätigkeiten der verschiedensten Art gibt. Kontroll- und Prüftätigkeiten einfacher Art, die auch ohne Vorkenntnis von jedem Arbeitnehmer nach kurzer betrieblicher Einweisung verrichtet werden können, kommen als Verweisungstätigkeiten nur dann in Betracht, wenn ihre Bedeutung durch andere Merkmale wie z. B. Verantwortungsbewußtsein so hervorgehoben ist, daß sie den angelernten Tätigkeiten gleichstehen und ebenso wie diese tariflich eingestuft sind. Soweit es sich um Kontroll- und Prüftätigkeiten höherer Art handelt, wird das LSG zu prüfen haben, ob der Kläger die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten mitbringt.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen