Leitsatz (amtlich)
1. Der Ersatzanspruch eines Trägers der Sozialhilfe (RVO §§ 1531 ff) ist auch dann nach RVO § 1539 fristgemäß geltend gemacht, wenn er schon während des Bezugs der Sozialhilfe angemeldet wird. Die Geltendmachung kann sich auch auf künftige, zur Zeit der Anmeldung noch ungewisse Ersatzansprüche beziehen.
2. Die - früher vom Reichsversicherungsamt (AN 1914, 634 Nr 1880) geforderte - Zustimmung des Versicherten zur Erfüllung des Ersatzanspruchs ist nicht Voraussetzung dafür, daß der Leistungsanspruch des Versicherten für den fristgemäß und zu Recht geltend gemachten Anspruch des Trägers der Sozialhilfe verstrickt ist.
Normenkette
RVO § 1531 Fassung: 1945-03-29, § 1539 Fassung: 1924-12-15
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 1. Dezember 1961 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin fordert die ungeschmälerte Auszahlung der ihr rückwirkend für eine vergangene Zeit zuerkannten Rente. Sie wendet sich dagegen, daß aus der Rentennachzahlung ohne ihre Zustimmung Ersatzforderungen der Sozialhilfeverwaltung getilgt worden sind.
Die Klägerin bezog zunächst seit dem 1. Juli 1952 die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Mit Bescheid vom 4. Dezember 1957 setzte die Beklagte den Beginn dieser Rente nachträglich auf den 1. Juni 1950 fest. Von dem infolge der Rentenneuberechnung nachzuzahlenden Betrag überwies die Beklagte jedoch 367,- DM an den - zum Rechtsstreit beigeladenen - Träger der Sozialhilfe. Dieser hatte am 15. Juni 1950 - das war noch zu einer Zeit, während der er die Klägerin unterstützte - seinen Ersatzanspruch bei dem beigeladenen Versicherungsträger angemeldet. Die Höhe der Ersatzforderung bezifferte er jedoch erst nach mehr als sechs Jahren, nachdem auch die Rente der Klägerin erst so spät für die Zeit des Unterstützungsbezugs (von Juni 1950 bis April 1951) bewilligt worden war.
Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben; sie verlangt die Auszahlung des einbehaltenen Rentenbetrags. Sie meint, der Ersatzanspruch sei verwirkt, weil er nicht, wie es nach § 1539 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu fordern sei, innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf der Unterstützung bei dem Versicherungsträger geltend gemacht worden sei. Die "Geltendmachung" könne wirksam überhaupt nur nach Beendigung der Unterstützung und nicht - wie hier - vorher erfolgen, weil zur Zeit der Forderungsanmeldung die Höhe des Ersatzanspruchs noch nicht feststehe. Ferner begründet die Klägerin ihren Klaganspruch damit, daß der Ersatzanspruch ohne ihre Zustimmung erfüllt worden sei. Die Beklagte sei infolgedessen von der Leistungspflicht ihr gegenüber nicht frei geworden.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Die Klägerin hat die von dem Landessozialgericht (LSG) zugelassene Revision eingelegt.
Die Revision der Klägerin ist zulässig, aber unbegründet.
Dem angefochtenen Urteil ist beizupflichten. Über die Berechtigung des Sozialhilfeersatzanspruchs (§§ 1531, 1535 b, 1536 RVO) als solchen besteht kein Streit; weder am Grund noch an der Höhe des Anspruchs ist zu zweifeln; er ist auch nicht verwirkt.
Vor dem Erlöschen ist der Ersatzanspruch durch seine rechtzeitige Geltendmachung bewahrt worden. Diese ist - mit dem Berufungsgericht - in der Forderungsanzeige vom 15. Juni 1950 zu erblicken; die Anzeige verwirklicht sowohl nach Form und Inhalt als auch im Hinblick auf den Zeitpunkt, zu dem sie der Beklagten zuging, das Merkmal und Erfordernis einer wirksamen Geltendmachung im Sinne des § 1539 RVO. - In zeitlicher Hinsicht ist dieser Vorschrift lediglich zu entnehmen, bis wann die Sozialhilfeverwaltung äußerstenfalls beim Versicherungsträger mit dem Ersatzanspruch hervorgetreten sein muß, nämlich "spätestens sechs Monate nach Ablauf der Unterstützung". Damit ist - anders ausgedrückt - nicht mehr und nicht weniger vorgeschrieben, als daß die Frist zur Geltendmachung des Anspruchs nicht zu laufen beginnt, solange noch die regelmäßig wiederkehrende Unterstützung ohne Unterbrechung fortdauert. Dagegen ist aus § 1539 RVO nicht - wie die Revision meint - zu lesen, daß die Ersatzforderung nur "nach" dem Ende der Unterstützung gestellt werden könne. Das Gesetz nennt keinen Anfangstermin für den Lauf der Ausschlußfrist. Es läßt sich auch sonst keine einleuchtende Erläuterung dafür geben, daß die Zugriffserklärung der Sozialhilfeverwaltung nicht schon eher sollte rechtswirksam abgegeben werden können, zumal alle Beteiligten daran interessiert sind, so früh wie möglich von der Tatsache der Ersatzforderung zu erfahren. Die Forderungsanzeige verdient deshalb bereits Beachtung, wenn sie sich nicht nur auf entstandene, sondern auch auf künftig wiederkehrende, zur Zeit der Anmeldung noch ungewisse Ansprüche bezieht. Die Höhe der Sozialhilfeaufwendungen braucht nicht sogleich mit der Forderungsanzeige beziffert zu werden. Eine strengere Auffassung ist nicht aus dem in § 1539 RVO benutzten Wort "Geltendmachung" herzuleiten. Dieser Begriff ist in der Gesetzessprache nicht eindeutig auf einen bestimmten Tatbestand hin festgelegt. Mit ihm kann sowohl die gerichtliche Anspruchsverfolgung als auch die außerhalb eines förmlichen Verfahrens einem anderen gegenüber abzugebende Erklärung gemeint sein. Für eine engere Bedeutung des Begriffs in § 1539 RVO ließe sich allenfalls anführen, daß es dem Gesetzgeber offensichtlich darum zu tun war, die Abrechnung zwischen Sozialhilfe- und Versicherungsträger zu beschleunigen. Aus dieser Absicht heraus sind die Ersatzansprüche einer bemerkenswert kurzen Ausschlußfrist unterworfen worden. Diesem Gesetzeswillen widerspricht aber die vorsorglich frühzeitige und sogar die vorzeitige Anmeldung des Anspruchs nicht. Das hat jedenfalls dann zu gelten, wenn die Sozialhilfeverwaltung ihre ziffernmäßig genaue Gesamtrechnung nicht über Gebühr hinauszögert. Teilt sie die Summe ihrer Forderung innerhalb angemessener Frist nach Bekanntwerden der Zeitspanne mit, für welche die Rente und die Sozialhilfe gegenüberzustellen sind, dann kann die Wirkung der vorsorglichen Forderungsanmeldung nicht nachträglich verloren sein. Wie dagegen zu entscheiden wäre, wenn die nach Zeitabschnitten aufgegliederte Aufstellung der Sozialhilfekosten nicht - wie hier - demnächst, sondern nach unpassender Verzögerung nachgebracht werden würde, ist im gegenwärtigen Falle nicht zu entscheiden. Dem Wort "Geltendmachung" ist im Zusammenhang mit § 1539 RVO keine andere als die allgemeine Bedeutung beizulegen. Unabhängig von jedem besonderen rechtlichen Bezug wird unter Geltendmachung soviel wie "Vorbringen", "Anführen", "Behaupten", nicht aber zugleich auch "Darlegen in allen Einzelheiten" verstanden (vgl. RG Seuffert's Archiv Bd. 59 S. 87).
Gegen die Annahme, daß die Sozialhilfeverwaltung ihre Kostenrechnung ungesäumt vorgelegt hat, läßt sich nicht einwenden, daß der letzte Tag, für den die Klägerin unterstützt worden ist, um mehr als sechs Jahre zurücklag. Vorher bestand für den Sozialhilfeträger kein konkreter Anlaß, die Einzelabrechnung zu erteilen. Das änderte sich erst in dem Augenblick, in dem für die Zeit des Unterstützungsbezugs die Rente bewilligt worden war. Von da an gerechnet ist die Sozialhilfeverwaltung ohne Verzögerung tätig geworden.
Es entsprach allerdings nicht den Regeln einer ordnungsgemäßen Verwaltung, daß die Beklagte den Rentenrückstand ungeachtet des Widerspruchs der Klägerin an den Fürsorgeverband auszahlte. Jedoch könnte ihr aus diesem Verhalten ein Vorwurf mit der Folge eines Rechtsnachteils nur gemacht werden, wenn es der Versicherungsanstalt schlechthin untersagt wäre, den Ersatzanspruch ohne Einverständnis des Versicherten zu befriedigen, d. h. wenn die Existenz des Ersatzanspruchs von der Mitwirkung des Versicherten abhängig wäre. - Das war in der Tat die Auffassung, die das Reichsversicherungsamt (RVA) in seiner älteren Judikatur, vornehmlich in der Revisionsentscheidung 1880 AN 1914, 634 vertreten hat. Das RVA hat angenommen, daß der Versicherungsträger von seiner Leistungsverpflichtung nicht befreit werde, sofern der Berechtigte der Überweisung an den Fürsorgeverband nicht zugestimmt hatte oder hierzu nicht in anderer Weise für verpflichtet erklärt worden war. Obgleich der Versicherungsträger aus der Rente den entstandenen Ersatzanspruch befriedigt habe, so meinte das RVA, könne der Versicherte die ihm zustehende Versicherungsleistung in voller Höhe beanspruchen. Der Versicherungsträger müsse doppelt leisten (vgl. RVA Nr. 2293 AN 1916, 806). Diese Rechtsprechung wurde zwar niemals unmittelbar und ausdrücklich aufgegeben, ihrem inneren Gehalt nach ist sie aber später völlig ausgehöhlt worden. In neuerer Zeit hat das RVA (Nr. 4861 AN 1935, IV 160) im Widerspruch zu seiner älteren Ansicht entschieden, daß das Bestehen eines Fürsorgeersatzanspruchs nicht ohne Rückwirkung auf den Anspruch des Versicherten gegen den Versicherungsträger sein könne. Diese Rückwirkung äußere sich darin, daß die zur Befriedigung dieses Anspruchs bestimmten Mittel nunmehr gebunden seien und zur Ersatzleistung an den Träger der Fürsorge bereitstünden. Durch dessen Ersatzanspruch werde "also" die Geltendmachung der Ansprüche des Versicherten gegenüber dem Versicherungsträger "tatsächlich ausgeschlossen" (vgl. auch BSG 14, 261, 266 mit weiteren Nachweisen).
Immerhin wirkte die ältere Rechtsprechung des RVA derart nachhaltig fort, daß der Gesetzgeber es für angezeigt hielt, einzugreifen. Mit § 3 der Verordnung über die Vereinfachung in der Reichsversicherung vom 29. März 1945 - Reichsanzeiger Nr. 49/1945; auch DOK 1959, 59 - ordnete er an, daß dem § 1531 RVO ein Satz 3 hinzugefügt werde, wonach es der Zustimmung des Berechtigten nicht bedürfe. Die Rechtsgültigkeit der Verordnung vom 29. März 1945 ist allerdings - aus formellen Gründen - umstritten. Die Frage nach der Gültigkeit dieser Verordnung braucht hier aber nicht geklärt zu werden. Denn die Klägerin kann nicht allein um deswillen verlangen, die rückständige Rente in voller Höhe ausgezahlt zu erhalten, weil sie nicht mit einer Erfüllung des Ersatzanspruchs einverstanden war. Daß die Zustimmung des Versicherten unerläßliche Voraussetzung für eine Schuldbefreiung des Versicherungsträgers sei, kommt im Gesetz mit keinem Wort zum Ausdruck. Läßt man § 3 der Verordnung vom 29. März 1945 außer Betracht, dann wird man wohl - nicht zuletzt wegen der verfahrensrechtlichen Regelung des § 1540 RVO (über die Ersatzstreitigkeit) - davon ausgehen müssen, daß der Versicherte nicht vor vollendete Tatsachen gestellt werden soll; es sollen keine Rententeile an den Sozialhilfeträger überwiesen werden, bevor sich der Versicherte zur Berechtigung des Ersatzanspruchs hatte äußern können. Mehr läßt sich aus dem Gesetz nicht herleiten. Wird die Rente ohne seine Zustimmung einbehalten - und gar an den Ersatzberechtigten abgeführt -, so wird der Versicherungsträger hierüber eine Regelung im Rentenfeststellungsbescheid oder in einem besonderen Verwaltungsakt zu treffen haben. Der Versicherte kann sich gegen die Verrechnung seiner Rente mit dem Ersatzanspruch mit den durch das Sozialgerichtsgesetz (SGG) gegebenen Rechtsbehelfen zur Wehr setzen. Im Rechtsstreit zwischen dem Versicherten und der Versicherungsanstalt wird der ersatzfordernde Sozialhilfeträger beizuladen sein, damit der Streit zwischen allen Beteiligten in einem Verfahren beigelegt wird, so wie dies nach früherem Recht (§ 1540 RVO) im Spruchverfahren zu geschehen hatte. Damit ist der dem Versicherten zu gewährende Rechtsschutz vollauf gesichert. Der Ersatzanspruch des Sozialhilfeträgers setzt aber die Zustimmung des Versicherten nicht voraus. Wäre es anders, dann würde der mit den Vorschriften der §§ 1531 ff RVO angestrebte Erfolg in Frage gestellt.
Für das Verständnis des Gesetzeswillens ist das Ineinandergreifen der §§ 1527 und 1531 RVO wichtig. Die RVO läßt die Pflicht der öffentlichen Hand zur Unterstützung Hilfsbedürftiger unberührt. Dieser Grundsatz ist aber dahin eingeschränkt, daß "Doppelleistungen vermieden oder ausgeglichen werden sollen". Die Sozialhilfe hat "im Verhältnis zu den Leistungen der Reichsversicherung ... nur einen subsidiären Charakter. Für sie ist also aus den Leistungen der Reichsversicherung ein Ausgleich zu gewähren" (Begründung zum Entwurf einer RVO 1909 S. 123). Dieser Ausgleich ist zwar nicht in die Gestalt des Rechtsübergangs kraft Gesetzes (cessio legis), sondern in die Rechtsform des Ersatzanspruchs gekleidet. Dieser Ersatzanspruch haftet jedoch dem Versicherungsanspruch als eine unabweisliche Beschränkung an (RVA Nr. 4763 AN 1934, 148). Die Verstrickung des Versicherungsanspruchs für den Ersatzanspruch des Sozialhilfeträgers hängt nicht von einer Willenserklärung des Versicherten ab. Steht fest, daß der Ersatzanspruch zu Recht erhoben ist, so kann der Versicherte die Versicherungsleistung, soweit sie den Ersatzanspruch nicht übersteigt, nicht an sich verlangen. Der Leistungsklage des Versicherten gegen den Versicherungsträger steht der Einwand der Verstrickung entgegen. Der Versicherte kann auch nicht die Hinterlegung des umstrittenen Rentenbetrags verlangen. Denn eine Hinterlegung kommt im Rahmen der Vorschriften der §§ 1531 ff RVO nicht in Betracht. Gerade deshalb war das RVA dazu gekommen, die Zustimmung des Versicherten zur Befriedigung des Ersatzanspruchs zu fordern. Diese Zustimmung erweist sich aber als überflüssig, wenn die Berechtigung des Ersatzanspruchs feststeht und der Versicherte zur Mitwirkung bei der Erfüllung des Ersatzanspruchs verpflichtet ist.
So liegt der Sachverhalt im Falle der Klägerin. Deshalb ist ihre Klage zutreffend als unbegründet abgewiesen worden. Ihre Revision ist mit der aus § 193 Abs. 4 SGG folgenden Kostenentscheidung zurückzuweisen.
Fundstellen