Leitsatz (redaktionell)

1. Die Erteilung eines Zugunstenbescheides nach KOV-VfG § 40 Abs 2 setzt nicht voraus, daß die Verwaltungsbehörde oder das Gericht bei der früheren, von der ständigen Rechtsprechung des BSG abweichenden Entscheidung die streitige Rechtsfrage ausdrücklich behandelt und beantwortet hat.

2. Es kann dahingestellt bleiben, ob eine gemäß KOV-VfG § 40 Abs 2 erfolgte Neuregelung, die in vollem Umfang an die Stelle der früheren Entscheidung tritt, auch über den 1955-04-01 (Inkrafttreten des KOV-VfG) hinaus wirken kann. Denn selbst wenn die Verpflichtung zu einer solchen Neuregelung erst mit dem 1955-04-01 einsetzten würde, so ist die Verwaltungsbehörde für die Zeit vorher jedenfalls nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts gehalten, belastende Verwaltungsakte, die unanfechtbar geworden waren auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen und bei Unrichtigkeit neue Verwaltungsakte an deren stelle, dh rückwirkend anstelle der alten, zu erlassen.

Unter Entscheidung nach KOV-VfG § 40 Abs 2 ist jede Entscheidung zu verstehen, also nicht nur die einer Verwaltungsbehörde, sondern auch die eines Gerichts.

 

Normenkette

KOVVfG § 40 Abs. 2 Fassung: 1960-06-27

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 31. Oktober 1962 aufgehoben und das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 20. Februar 1959 abgeändert.

Der Beklagte wird verurteilt, unter Aufhebung des Bescheides vom 27. Juni 1958 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. September 1958 der Klägerin Rente nach einer MdE um 70 v. H. (statt bisher 60 v. H.) für die Zeit vom 1. Dezember 1952 bis 31. Dezember 1961 zu zahlen.

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 20. Februar 1959 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Der Ehemann der Klägerin, der im Laufe des Rechtsstreits am 29. Dezember 1961 verstorben ist - nachfolgend mit H. bezeichnet -, erhielt als Beschädigter des ersten Weltkrieges wegen der Amputation des linken Unterschenkels bis zum 31. März 1943 Versorgungsbezüge nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 v. H. und ab 1. April 1943 Versorgungsbezüge nach einer MdE um 70 v. H. Schädigungsfolge und Höhe der MdE übernahm das Versorgungsamt (VersorgA) ohne ärztliche Nachuntersuchung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) mit dem Umanerkennungsbescheid vom 8. März 1952. In diesem Bescheid ist der Vermerk enthalten: "eine Nachuntersuchung von Amts wegen ist nicht mehr vorgesehen." Auf Grund des Ergebnisses einer versorgungsärztlichen Nachuntersuchung vom 15. September 1952, die wegen eines Antrags des H. auf Kapitalabfindung erfolgte, setzte das VersorgA mit Bescheid vom 1. Oktober 1952 gemäß § 86 Abs. 3 BVG die MdE ab 1. Dezember 1952 auf 60 v. H. herab. Die hiergegen gerichtete Klage wies das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 11. Mai 1954 mit der Begründung ab, daß die Herabsetzung der MdE gemäß § 86 Abs. 3 BVG rechtmäßig sei. Dieses Urteil ist rechtskräftig geworden.

Mit einem am 30. April 1958 beim VersorgA eingegangenen Antrag begehrte H. unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10. Dezember 1957 einen Zugunstenbescheid gemäß § 40 Abs. 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes der Kriegsopferversorgung (VerwVG), weil die Versorgungsbehörde auf Grund des Vermerks im Umanerkennungsbescheid, daß eine Nachuntersuchung nicht mehr vorgesehen sei, die Rente ab 1. Dezember 1952 nicht gemäß § 86 Abs. 3 BVG hätte herabsetzen dürfen. Diesen Antrag lehnte das VersorgA mit Bescheid vom 27. Juni 1958 ab. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 8. September 1958). Das SG Konstanz hat mit Urteil vom 20. Februar 1959 in Abänderung der angefochtenen Verwaltungsentscheidung den Beklagten verurteilt, dem Kläger ab 1. April 1958 Versorgungsbezüge nach einer MdE um 70 v. H. zu gewähren. Die weitergehende Klage - die erhöhte Rente bereits ab 1. Dezember 1952 zu zahlen - hat das SG abgewiesen. Es hat die Berufung zugelassen. Gegen dieses Urteil hat der Beklagte Berufung und H. Anschlußberufung eingelegt. Die Klägerin hat für ihren im Laufe des Berufungsverfahrens verstorbenen Ehemann den Rechtsstreit fortgesetzt. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 31. Oktober 1962 auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG Konstanz vom 20. Februar 1959 abgeändert und die Klage im vollen Umfang abgewiesen. Die Anschlußberufung der Klägerin hat es als unbegründet zurückgewiesen.

Es hat ausgeführt, es könne dahingestellt bleiben, ob für die Frage des Zugunstenbescheides nach § 40 Abs. 2 VerwVG dessen Fassung vor oder nach Inkrafttreten des 1. Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Kriegsopferrechts vom 27. Juni 1960 (1. NOG) Anwendung finde. Hinsichtlich der Wirkungen eines Vermerks im Umanerkennungsbescheid, eine ärztliche Nachuntersuchung sei nicht mehr vorgesehen, sei die vom BSG entwickelte Rechtsprechung sowohl als grundsätzliche wie auch als ständige Rechtsprechung im Sinne des § 40 Abs. 2 VerwVG aF und nF anzusehen. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift seien jedoch im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Ein Rechtsanspruch auf eine Zugunstenentscheidung bestehe nur, wenn das BSG nachträglich eine andere Rechtsauffassung vertreten habe, als der früheren Entscheidung zugrunde gelegen habe. Dieser Tatbestand liege hier nicht vor. In der früher rechtskräftig gewordenen Entscheidung vom 11. Mai 1954 habe sich das SG überhaupt nicht mit der Frage befaßt, ob der Vermerk im Umanerkennungsbescheid "eine Nachuntersuchung sei nicht mehr vorgesehen" eine Neubewertung der MdE nach § 86 Abs. 3 BVG ausschließe. Das SG habe zu jener Zeit das Recht zum Erlaß eines Neufeststellungsbescheides nach dieser Vorschrift gar nicht geprüft. Dementsprechend beruhe die Abweisung der Klage ausschließlich auf dem Ergebnis der sachlichen Prüfung durch das SG, insbesondere auf der medizinischen Beurteilung des Sachverhalts. Da somit für die Entscheidung des SG im Jahre 1954 der Vermerk keine Bedeutung gehabt habe, könne auch nicht von einem Abweichen von der später vom BSG vertretenen Auffassung über die Bedeutung des Vermerks gesprochen werden. Ein Abweichen sei nur möglich, wenn in beiden Entscheidungen die Frage gesehen und ausdrücklich oder stillschweigend positiv oder negativ beantwortet worden sei. Da es sich bei § 40 Abs. 2 VerwVG um eine Bestimmung handele, nach der die Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen durchbrochen werde, verbiete das Interesse an der Rechtssicherheit eine erweiternde Auslegung. Im übrigen führe diese Auslegung im vorliegenden Fall auch zu einem durchaus gerechten Ergebnis. Die im Jahre 1952 vorgenommene Prüfung entspreche dem, was der Gesetzgeber mit § 86 Abs. 3 BVG aus gutem Grund vorgesehen habe. Die damalige Entscheidung sei in einem ordnungsmäßigen Verfahren auch sachlich überprüft und für richtig befunden worden.

Das LSG hat die Revision zugelassen. Gegen dieses der Klägerin am 19. August 1963 zugestellte Urteil hat sie mit Schriftsatz vom 10. September 1963, beim BSG am 11. September 1963 eingegangen, Revision eingelegt und diese nach Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 19. November 1963 mit einem am 15. November 1963 eingegangenen Schriftsatz gleichen Datums begründet. Sie beantragt,

1. das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 20. Februar 1959 mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß auf die klägerische Anschlußberufung unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils der Beklagte zum Erlaß eines neuen Bescheides dahingehend verurteilt wird, daß an die Klägerin für die Zeit vom 1. Dezember 1952 bis zum 31. Dezember 1961 Rente nach einer MdE um 70 v. H. zu zahlen ist;

2. hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen;

3. die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungs- und Revisionsverfahren dem Beklagten aufzuerlegen.

Die Klägerin rügt eine Verletzung des § 40 Abs. 2 VerwVG durch das LSG und trägt hierzu vor, es könne dahingestellt bleiben, ob § 40 Abs. 2 VerwVG in seiner alten oder in seiner neuen Fassung zur Anwendung gelangen müsse. Die streitige Frage, ob die Versorgungsbehörde befugt sei, eine Rentenherabsetzung gemäß § 86 Abs. 3 BVG trotz des Vermerks im Umanerkennungsbescheid, eine ärztliche Nachuntersuchung sei nicht mehr vorgesehen, vorzunehmen, sei sowohl durch eine grundsätzliche Entscheidung des BSG als auch in ständiger Rechtsprechung dieses Gerichts beantwortet worden. Das LSG verkenne, daß als frühere Entscheidung gemäß § 40 Abs. 2 VerwVG nur die frühere von der Versorgungsbehörde getroffene Entscheidung, also der von ihr erlassene Verwaltungsakt gemeint sein könne. Erweise sich die dem früheren Verwaltungsakt zugrunde liegende Rechtsauffassung nachträglich gemäß der späteren höchstrichterlichen Rechtsprechung als unrichtig, so müsse die Verwaltung nach § 40 Abs. 2 VerwVG einen neuen Bescheid erteilen. Es komme also, entgegen der Auffassung des LSG, nicht darauf an, welche Rechtsauffassung das SG in seinem Urteil vom 11. Mai 1954 vertreten habe. Demnach sei es rechtlich unerheblich, ob das SG die besondere Bedeutung des Vermerks überhaupt erkannt oder gewürdigt habe. Im übrigen sei das SG in dem früheren Verfahren, entgegen der Feststellung des LSG, durchaus in der Lage gewesen, auf die jetzt strittige Frage einzugehen, da H. schon in seinem Schriftsatz vom 7. Mai 1954 im Absatz 3 die Frage der rechtlichen Bedeutung des Vermerks berührt habe. Die Rechtsauffassung der Versorgungsbehörde und des SG sei, wie sich aus dem Urteil des BSG vom 10. Dezember 1957 (BSG 6, 175) ergebe, unzutreffend gewesen. Selbst wenn demnach die am 15. September 1952 vorgenommene Nachuntersuchung ergeben habe, daß der Grad der MdE im Umanerkennungsbescheid unzutreffend festgestellt worden sei, habe das VersorgA durch den damaligen Vermerk nicht mehr die Möglichkeit gehabt, die Rente im Rahmen des § 86 Abs. 3 BVG durch den Neufeststellungsbescheid vom 1. Oktober 1952 herabzusetzen. Dieser Bescheid sei somit rechtswidrig. Daraus folge aber der Anspruch der Klägerin auf Beseitigung gemäß § 40 Abs. 2 VerwVG.

Im übrigen wird auf die Revisionsbegründung verwiesen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt weiter vor, daß die Nachuntersuchung im September 1952 nicht von Amts wegen, sondern auf Antrag des H. wegen einer Kapitalabfindung erfolgt sei. Im übrigen sei der Anspruch nach § 40 VerwVG dann nicht mehr berechtigt, wenn sich herausstelle, daß der frühere Bescheid sachlich nicht zu beanstanden sei. Insoweit bezieht er sich auf die Entscheidung des 9. Senats des BSG vom 27. August 1963 (BSG in SozR VerwVG § 40 Nr. 8). Im übrigen wird auf die Revisionserwiderung des Beklagten Bezug genommen.

Die durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und auch rechtzeitig begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Sie ist daher zulässig. Die Revision ist auch begründet.

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte entsprechend dem Antrag des H. verpflichtet ist, einen Zugunstenbescheid gemäß § 40 Abs. 2 VerwVG zu erlassen und entgegen dem verbindlich gewordenen Bescheid vom 1. Oktober 1952 für die Zeit ab 1. Dezember 1952 bis zum Ende des Monats Dezember 1961 die Rente nach einer MdE um 70 v. H. statt nach einer MdE um 60 v. H. zu gewähren.

Gemäß § 40 Abs. 2 VerwVG in der zur Zeit des Erlasses des angefochtenen Bescheides vom 27. Juni 1958 gültigen Fassung ist auf Antrag des Berechtigten ein neuer Bescheid zu erteilen, wenn das BSG in einer Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung nachträglich eine andere Rechtsauffassung vertritt, als der früheren Entscheidung zugrunde gelegen hat. Diese Fassung ist durch das 1. NOG für die Zeit ab 1. Juni 1960 nur insoweit geändert, als an die Stelle der Worte "einer Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung" die Worte "in ständiger Rechtsprechung" getreten sind und nunmehr gemäß dem neu angefügten Abs. 3 das VersorgA auch für diesen Fall des Zugunstenbescheides der Zustimmung des Landesversorgungsamtes (LVersorgA) bedarf. Es kann dahingestellt bleiben, in welcher Fassung § 40 Abs. 2 VerwVG im vorliegenden Fall Anwendung findet. Die Entscheidung des 11. Senats vom 10. Dezember 1957 (BSG 6, 175), wonach der Vermerk im Umanerkennungsbescheid "eine ärztliche Nachuntersuchung ist nicht mehr beabsichtigt" ein rechtsgestaltender, den Betroffenen begünstigender Verwaltungsakt ist und die Versorgungsverwaltung sich dadurch ihres Rechts begeben hat, eine Neufeststellung gemäß § 86 Abs. 3 BVG vorzunehmen, ist von grundsätzlicher Bedeutung. Sie dient über den Einzelfall hinaus der Einheit und Fortentwicklung des Rechts und bringt für eine Anzahl ähnlich liegender Fälle eine Klärung (BSG 2, 129, 132; BSG in SozR VerwVG § 40 Nr. 2 sowie Urteil des erkennenden Senats vom 28. November 1962 - 10 RV 207/60 -). Es handelt sich insoweit, wie schon der 11. Senat des BSG in SozR § 40 VerwVG Nr. 2 ausgeführt hat, auch um eine ständige Rechtsprechung des BSG, denn dieser Auffassung hat sich der 8. Senat des BSG im Urteil vom 21. Januar 1960 (BSG 11, 236) angeschlossen. Gegenteilige Entscheidungen anderer Senate des BSG sind in dieser Frage nicht ergangen. Nach dieser Rechtsprechung durfte also die Versorgungsbehörde den Umanerkennungsbescheid vom 8. März 1952, in welchen die bisher anerkannte Schädigungsfolge "Amputation des linken Unterschenkels" mit einer MdE um 70 v. H. ab 1. Oktober 1950 ohne ärztliche Nachuntersuchung übernommen ist und der den Zusatz enthält, daß eine Nachuntersuchung von Amts wegen nicht mehr vorgesehen ist, später nicht mehr durch eine Neufeststellung nach § 86 Abs. 3 BVG ändern. Demzufolge war die Herabsetzung der MdE von 70 auf 60 v. H. gemäß § 86 Abs. 3 BVG mit dem Neufeststellungsbescheid vom 1. Oktober 1952 rechtswidrig. Die Voraussetzung für die Erteilung eines Zugunstenbescheides nach § 40 Abs. 2 VerwVG ist demnach erfüllt. Der Auffassung des LSG, daß diese Vorschrift nur dann angewendet werden könne, wenn die frühere Entscheidung ausdrücklich auf der später vom BSG nicht mehr gebilligten Rechtsauffassung beruhe, kann nicht gefolgt werden. Nach dem Wortlaut des § 40 Abs. 2 VerwVG ist - neben dem Antrag des Berechtigten - nur gefordert, daß der früheren Entscheidung eine andere als die später vom BSG vertretene Rechtsauffassung zugrunde liegt. Ein Hinweis darauf, daß in der früheren Entscheidung die andere Rechtsauffassung ausdrücklich erwähnt oder sonst wie erörtert sein muß, ist dem Gesetz nicht zu entnehmen. Ein "Zugrundeliegen der Rechtsauffassung" im Sinne des § 40 Abs. 2 VerwVG ist nicht erst dann gegeben, wenn diese Rechtsauffassung ausdrücklich in der Entscheidung erörtert wird. In vielen Fällen, insbesondere dann, wenn die Sach- und Rechtslage eindeutig zu sein scheint, entspricht es der Übung der Versorgungsbehörden, nicht eine nähere Begründung dafür zu geben, daß eine bestimmte Vorschrift anzuwenden ist. Allein aus der Tatsache, daß eine Vorschrift angewendet worden ist, ergibt sich die Rechtsauffassung, daß sie unbedenklich für anwendbar gehalten wurde. Auch im vorliegenden Fall ist offensichtlich sowohl die Versorgungsbehörde bei Erlaß des Neufeststellungsbescheides vom 1. Oktober 1952 als auch das SG bei Erlaß des Urteils vom 11. Mai 1954 davon ausgegangen, daß der obige Vermerk im Umanerkennungsbescheid eine Neufeststellung nach § 86 Abs. 3 BVG nicht hindert. Jedenfalls ist es anders nicht zu verstehen, daß Verwaltungsbehörde und SG trotz des ihnen bekannten Vermerks, auf dessen Bedeutung nach der Behauptung der Klägerin s. Zt. ihr Ehemann das SG hingewiesen hat, die Neufeststellung auf Grund des ausdrücklich angeführten § 86 Abs. 3 BVG als rechtsmäßig angesehen haben. Ist aber das SG ebenso wie die Versorgungsbehörde davon ausgegangen, daß der Vermerk im Umanerkennungsbescheid "eine Nachuntersuchung ist nicht mehr vorgesehen" die Versorgungsbehörde nicht gehindert habe, die Rentenminderung im Neufeststellungsbescheid vom 1. Oktober 1952 nach § 86 Abs. 3 BVG vorzunehmen, so liegt ihren Entscheidungen eine andere Rechtsauffassung zugrunde, als sie später das BSG in ständiger Rechtsprechung vertreten hat.

Die Auffassung des Beklagten, daß trotz des Vermerks die Rente mit Bescheid vom 1. Oktober 1952 nach § 86 Abs. 3 BVG habe herabgesetzt werden können, weil es sich bei der Nachuntersuchung vom 15. September 1952 nicht um eine Untersuchung "von Amts wegen", sondern um eine auf Antrag des H. wegen einer Kapitalabfindung durchgeführte gehandelt habe, so daß aus diesem Grunde auch keine "Berichtigung" möglich sei, trifft nicht zu. Wie bereits der 11. Senat in seiner Entscheidung vom 10. Dezember 1957 (BSG 6, 175, 177) ausgeführt hat, enthält ein Antrag auf Rentenerhöhung (hier Kapitalabfindung) keinen Verzicht auf die Rechte, die durch den im Umanerkennungsbescheid vorhandenen Zusatz entstanden sind. Die Erklärung "eine Nachuntersuchung ist nicht mehr beabsichtigt" beseitigt die Pflicht des Versorgungsberechtigten, sich im Umanerkennungsverfahren nachuntersuchen zu lassen. Damit ist auch gleichzeitig das Recht der Versorgungsbehörde beseitigt, von der ihr nach § 86 Abs. 3 BVG gewährten Ermächtigung Gebrauch zu machen. Der Verlust dieses Rechts ist ohne Rücksicht darauf zu beachten, ob sich der Versorgungsberechtigte darauf beruft oder nicht (siehe dazu auch Bettermann in NJW 1957 S. 399). Der Rechtsverlust tritt ein, gleichgültig, aus welchem Anlaß die Versorgungsverwaltung, entgegen ihrer früheren Entschließung, eine ärztliche Untersuchung anordnet; sie kann insbesondere eine Neufeststellung gemäß § 86 Abs. 3 BVG auch nicht mehr auf eine durch einen Antrag des Berechtigten ausgelöste Nachuntersuchung hin stützen. Diese vom 11. Senat des BSG in seiner Entscheidung vom 10. Dezember 1957 (BSG 6, 175, 179) entwickelten Grundsätze müssen um so mehr gelten, wenn - wie im vorliegenden Fall - die Nachuntersuchung nicht einmal wegen eines Antrages des H. wegen der Höhe seiner Rente, sondern wegen einer Kapitalabfindung erfolgt ist. Jedenfalls war die Versorgungsbehörde auch nach der Untersuchung vom 15. September 1952 nicht berechtigt, das hierbei gewonnene medizinische Ergebnis in einem Neufeststellungsbescheid nach § 86 Abs. 3 BVG zuungunsten des Berechtigten zu verwerten. Wenn also auch die Nachuntersuchung vom 15. September 1952 wegen des Antrages des H. auf Kapitalabfindung durchgeführt worden war, so war dennoch der auf diese Nachuntersuchung hin gemäß § 86 Abs. 3 BVG erlassene Neufeststellungsbescheid vom 1. Oktober 1952 mit der Herabsetzung der Rente nicht rechtmäßig, wie dies aus der späteren ständigen Rechtsprechung des BSG hervorgeht. Demnach sind die Voraussetzungen für eine Berichtigung gemäß § 40 Abs. 2 VerwVG durch Erteilung eines Zugunstenbescheides erfüllt. Der Hinweis des Beklagten für seine gegenteilige Ansicht auf die Entscheidung des 9. Senats des BSG vom 27. August 1963 (BSG in SozR VerwVG § 40 Nr. 8) geht fehl. Bei dieser Entscheidung hat es sich darum gehandelt, ob die Ablehnung der Erteilung eines Bescheides nach § 40 Abs. 1 VerwVG ermessenswidrig gewesen ist, im vorliegenden Fall aber handelt es sich um die Anwendung des § 40 Abs. 2 VerwVG, der kein Unterfall des Abs. 1 ist (BSG 15, 136 und Entscheidung des erkennenden Senats vom 28. November 1962 - 10 RV 207/60 -), so daß auch die vom 9. Senat entwickelten Grundsätze für den vorliegenden Fall keine Geltung haben können. Abgesehen davon übersieht der Beklagte, daß die Herabsetzung der MdE mit dem Bescheid vom 1. Oktober 1952 materiell-rechtlich unrichtig war. Durch den im Umanerkennungsbescheid enthaltenen Vermerk "eine ärztliche Untersuchung von Amts wegen ist nicht mehr vorgesehen" hatte nämlich H. die materiell-rechtliche Stellung erlangt, die sonst erst entsteht, wenn eine ärztliche Nachuntersuchung nach § 86 Abs. 3 BVG durchgeführt worden ist (BSG 6, 175). Eine Rentenherabsetzung hätte nach materiellem Recht nur und erst dann vorgenommen werden dürfen, wenn eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen gemäß § 62 BVG eingetreten wäre. Bis dahin hätte dem Beschädigten nach materiellem Recht die Rente nach Maßgabe des Umanerkennungsbescheides verbleiben müssen.

Das LSG hat somit § 40 Abs. 2 VerwVG verkannt, die Revision der Klägerin ist daher begründet, so daß das angefochtene Urteil aufzuheben war.

Der Senat konnte in der Sache selbst entscheiden.

Auf Grund des unzulässig ergangenen Bescheides vom 1. Oktober 1952 hat H. die Rente vom 1. Dezember 1952 an nach einer MdE um 60 v. H. statt um 70 v. H. bezogen. Die Versorgungsverwaltung ist nach § 40 Abs. 2 VerwVG verpflichtet, sich die vom BSG bekundete Rechtsauffassung zu eigen zu machen und ihre frühere Entscheidung durch einen neuen Bescheid abzuändern oder zu ersetzen. Der neue Bescheid tritt in vollem Umfang, also auch zeitlich, an die Stelle der früheren Entscheidung (BSG 15, 136 = SozR § 40 VerwVG Nr. 4 und Entscheidung des erkennenden Senats vom 28. November 1962 - 10 RV 207/60 - sowie 26. November 1963 - 10 RV 191/61 = BVBl 1964, 115 -). Da es sich bei der Entscheidung nach § 40 Abs. 2 VerwVG nicht, wie bei der nach § 40 Abs. 1 VerwVG, um eine Ermessensentscheidung handelt, ist der Beklagte somit verpflichtet, Rente nach einer MdE um 70 v. H. vom 1. Dezember 1952 an bis zum Tode des H. zu gewähren. Die rückwirkende Gewährung, auch für die Zeit vor dem 1. April 1955, wird nicht dadurch gehindert, daß das VerwVG erst mit diesem Zeitpunkt in Kraft getreten ist. Der erkennende Senat hat bereits mit ausführlicher Begründung in seiner Entscheidung vom 28. November 1962 (10 RV 207/60) ausgeführt, daß der Rechtsgedanke, der in § 40 Abs. 2 VerwVG zum Ausdruck gekommen ist, auf frühere Verfahrensgesetze, insbesondere auf § 66 Abs. 1 Nr. 12 des Verfahrensgesetzes von 1922, zurückgeht, nach dem ein durch rechtskräftige Entscheidung abgeschlossenes Verfahren wieder aufgenommen werden konnte, wenn das Reichsversorgungsgericht in einer veröffentlichten grundsätzlichen Entscheidung nachträglich eine andere Rechtsauffassung vertrat, als der früheren Entscheidung zugrunde gelegt worden war. Dabei kann es dahingestellt bleiben, ob die Rechtsprechung, nach der Berichtigungen zuungunsten des Berechtigten gemäß §§ 41 und 42 VerwVG nicht über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des VerwVG, also dem 1. April 1955, hinaus wirken könne, auch für § 40 Abs. 2 VerwVG gilt. Selbst wenn die Verpflichtung zur Neuregelung gemäß § 40 Abs. 2 VerwVG erst mit dem 1. April 1955 einsetzen würde, so ist die Verwaltungsbehörde für die Zeit vorher jedenfalls nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts gehalten, belastende Verwaltungsakte, die unanfechtbar geworden waren, auf ihre Rechtsmäßigkeit hin zu überprüfen und bei Unrichtigkeit neue Verwaltungsakte an deren Stelle, d. h. rückwirkend anstelle der alten, zu erlassen. Diese Grundsätze haben schon früher im Recht der Kriegsopferversorgung, insbesondere in den Vorschriften der Sozialversicherungs-Anordnung Nr. 11 Ziff. 26, in Art. 30 Abs. 4 des Körperbeschädigten-Leistungsgesetzes und des § 66 des Verfahrensgesetzes (i. V. m. § 1 des badischen Landesgesetzes über das Verfahren in Versorgungssachen vom 15. März 1950 - GVBl S. 156 -), ihren Ausdruck gefunden.

Der rückwirkenden Neuregelung steht auch nicht die Rechtskraft des Urteils vom 11. Mai 1954 entgegen. § 40 Abs. 2 VerwVG verpflichtet die Versorgungsbehörde nicht nur dann, auf Antrag einen neuen Bescheid zu erlassen, wenn ein früherer Bescheid auf einer falschen Rechtsauffassung beruht, sondern spricht ganz allgemein davon, daß eine frühere Entscheidung auf der vom BSG später nicht gebilligten Rechtsauffassung beruht. Unter Entscheidung in diesem Sinne ist jede, auch gerichtliche Entscheidung zu verstehen. Diese Auslegung gebietet auch die einheitliche Behandlung aller Versorgungsberechtigten, bei denen das Versorgungsrechtsverhältnis auf Grund der später vom BSG nicht gebilligten Rechtsauffassung der Rechtslage nicht entspricht, gleichgültig, ob hierüber nur eine Entscheidung der Verwaltungsbehörde oder eines Gerichts ergangen ist.

Demzufolge steht der Klägerin als Rechtsnachfolgerin ihres Ehemannes für die Zeit ab 1. Dezember 1952 die Rente nach einer MdE um 70 v. H. statt bisher 60 v. H. zu.

Auf die begründete Revision der Klägerin war daher das angefochtene Urteil aufzuheben und das Urteil des SG Konstanz vom 20. Februar 1959 abzuändern. Zur Verdeutlichung des Umfangs der Leistungsverpflichtung des Beklagten war auszusprechen, daß der Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsakts verpflichtet ist, der Klägerin die Rente nach einer MdE um 70 v. H. für die Zeit vom 1. Dezember 1952 bis zum 31. Dezember 1961 zu zahlen. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG vom 20. Februar 1959 war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380369

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