Entscheidungsstichwort (Thema)
Ursachenzusammenhang bei Flucht von Zwangsarbeitsstelle. Anschlußersatzzeit
Orientierungssatz
1. Nach der für den Bereich des Sozialversicherungsrechts maßgebenden Ursachenlehre kann nicht gesagt werden, daß die Flucht vom Zwangsarbeitsplatz die allein wesentliche Ursache für die Inhaftierung und Verbringung eines Zwangsarbeiters ins Konzentrationslager war. Nur bei Vorliegen einer Verfolgungsmaßnahme des BEG kommt aber ein Anspruch auf Anerkennung einer Ersatzzeit nach Beendigung des Konzentrationslageraufenthalts wegen Krankheit in Betracht.
2. Art 4 Abs 2 RV/UVAbk Pol betrifft nicht die Anrechnung einer im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland im Anschluß an eine dort verrichtete - wenn auch zwangsweise - Beschäftigung mit anschließender Konzentrationslagerhaft verbrachte Zeit der Krankheit.
Normenkette
RVO § 1251 Abs 1 Nr 4; RV/UVAbk POL Art 4 Abs 2
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 24.03.1986; Aktenzeichen L 2 J 338/85) |
SG Speyer (Entscheidung vom 21.10.1985; Aktenzeichen S 7 J 547/84) |
Tatbestand
Der 1912 in Ost-Galizien geborene Kläger wurde 1942 von der geheimen Staatspolizei in Polen verhaftet, nach Deutschland abtransportiert und dort ab Ende Juli 1942 zur Zwangsarbeit verpflichtet. Er arbeitete nach seiner Quittungskarte Nr 1 bis November 1942 bei einem Landwirt in B. und ab 1. Dezember 1942 bis Ende Januar 1943 in einem Filterwerk in L.. Sodann war er nach einem Vermerk dieser Firma flüchtig. Nach seinen Angaben wollte er zurück nach Polen, wurde auf der Flucht aus einem Zug heraus von der geheimen Staatspolizei in der Nähe von Nürnberg verhaftet und über das Stadtgefängnis in die Konzentrationslager Flossenbürg und später Dachau verbracht. Hier im April 1945 von den amerikanischen Streitkräften befreit, hält er sich seither in der Bundesrepublik Deutschland auf. Ein Antrag auf Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) blieb wegen einer in der Bundesrepublik erfolgten Bestrafung mit Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf Zeit erfolglos. Auch im Wege des Härteausgleichs erhielt der Kläger wegen Versäumung der Antragsfrist keine Entschädigung.
Die Beklagte gewährte dem Kläger ab 1. Mai 1977 Altersruhegeld. Sie berücksichtigte dabei auch den Inhalt der Versicherungskarte Nr 1 (die Zeit vom 29. Juli 1942 bis zum 31. Januar 1943). Mit Neufeststellungsbescheid vom 17. September 1979 erkannte sie die Zeit vom 1. Februar 1943 bis zum 9. Mai 1945 als Ersatzzeit an. Den Widerspruch des Klägers, mit dem er die Anerkennung seiner an die Konzentrationslagerhaft anschließenden Krankheitszeit bis März 1950 als Ersatzzeit begehrte, wies sie durch bindend gewordenen Widerspruchsbescheid vom 6. November 1981 mit der Begründung zurück, im Anschluß an den Konzentrationslageraufenthalt, der nur im Rahmen des deutsch-polnischen Vertrages vom 9. Oktober 1975 als Ersatzzeit habe anerkannt werden können, komme die Zeit einer Krankheit nicht als Ersatzzeit in Betracht, weil eine solche Zeit im polnischen Recht nicht als Beschäftigungs- oder einer Beschäftigungszeit gleichgestellte Zeit vorgesehen sei.
Im August 1983 beantragte der Kläger erneut, ihm die Zeit der an den Konzentrationslageraufenthalt anschließenden Krankheit als Beschäftigungs- oder einer Beschäftigungszeit gleichgestellte Zeit anzuerkennen. Durch Bescheid vom 23. November 1983 lehnte die Beklagte den Neufeststellungsantrag unter Hinweis auf ihren früheren Bescheid mit der Begründung ab, eine Änderung der Rechtslage habe sich nicht ergeben. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 11. Juli 1984).
Die Klage hat das Sozialgericht (SG) Speyer durch Urteil vom 21. Oktober 1985 mit der Begründung abgewiesen, die Verhaftung des Klägers auf der Flucht und seine Verbringung in ein Konzentrationslager würden deshalb nicht den Status eines Verfolgten iS von § 1 BEG begründen, weil sich der Kläger der Zwangsverpflichtung zur Arbeit durch Flucht zu entziehen versucht habe. Die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz durch Urteil vom 24. März 1986 aus dem gleichen Grunde zurückgewiesen.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung der Vorschriften des Abkommens der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung und des § 1251 Abs 1 Nr 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Da die Beklagte die Zeit des Konzentrationslageraufenthalts bereits als Verfolgungszeit anerkannt habe, müsse sie auch die Zeit der anschließenden Krankheit sowohl nach dem genannten Abkommen als auch nach § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO als Ersatzzeit anerkennen. Das LSG sei darüber hinweggegangen, daß er in Polen inhaftiert und zur Zwangsarbeit verbracht worden sei, weil er dort verfolgten Juden Hilfe zur Flucht geleistet habe.
Der Kläger beantragt, die Beklagte unter Aufhebung der Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. März 1986 und des Sozialgerichts Speyer vom 21. Oktober 1985 sowie in Abänderung ihres Bescheides vom 23. November 1983 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Juli 1984 zu verurteilen, seine Rente im Wege der Neufeststellung unter Berücksichtigung der Zeit vom 10. Mai 1945 bis zum 31. Dezember 1949 als Ersatzzeit entsprechend zu erhöhen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet, weil die vom LSG getroffenen Feststellungen die Subsumtion des Begehrens des Klägers unter die nach Auffassung des erkennenden Senats maßgebliche Rechtsgrundlage nicht ermöglichen.
Rechtsgrundlage für das Neufeststellungsbegehren des Klägers ist § 44 Abs 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 10). Danach ist auch ein unanfechtbar gewordener Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, daß bei seinem Erlaß das Recht unrichtig angewandt worden ist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Dies kommt hier in Betracht, weil der Kläger Anspruch auf Anerkennung der streitigen Zeit als Ersatzzeit hatte, wenn die rechtlichen Voraussetzungen hierfür erfüllt waren.
Maßgebend für den Anspruch des Klägers auf Anerkennung einer an die Konzentrationslagerhaft anschließenden Krankheitszeit ist allein § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO. Nur hier ist nämlich vorgesehen, Zeiten der Freiheitsentziehung und der Freiheitsbeschränkung iS der §§ 43 und 47 BEG und Zeiten einer anschließenden Krankheit als Ersatzzeiten anzurechnen. Dabei ist nach den Feststellungen des LSG wegen der durch die Quittungskarte Nr 1 nachgewiesenen Versicherung in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung in den Jahren 1942 und 1943 auch die Voraussetzung des § 1251 Abs 2 RVO erfüllt, nach der die in Abs 1 aufgeführten Zeiten als Ersatzzeiten nur angerechnet werden, wenn eine Versicherung vorher bestanden hat. Daß der Kläger diese Versicherungszeiten als polnischer Staatsbürger oder als heimatloser Ausländer zurückgelegt hat, steht der Anwendung der RVO nicht entgegen, weil danach weder die Mitgliedschaft in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung noch die Ansprüche auf Leistungen hieraus von der deutschen Staatsbürgerschaft abhängig sind.
Entgegen der Auffassung der Beklagten kann das Abkommen vom 9. Oktober 1975 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung nebst der Vereinbarung hierzu vom 9. Oktober 1975 (BGBl 1976 II S 396) nicht als Rechtsgrundlage für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch in Betracht kommen. Das Abkommen geht nämlich vom Wohnprinzip aus und legt in seinem Art 4 fest, daß die Renten der Rentenversicherung vom Versicherungsträger des Staates nach den für diesen Träger geltenden Vorschriften gewährt werden, in dessen Gebiet der Berechtigte wohnt. Bei Feststellung der Rente nach den für ihn geltenden Vorschriften hat der Versicherungsträger Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten und diesen gleichgestellten Zeiten im anderen Staat so zu berücksichtigen, als ob sie im Gebiet seines Staates zurückgelegt worden wären. Demgemäß bestimmt Art 2 des Gesetzes zu dem Abkommen vom 9. Oktober 1975, daß Zeiten, die nach dem polnischen Recht der Rentenversicherung zu berücksichtigen sind, gemäß Art 4 Abs 2 des Abkommens in demselben zeitlichen Umfang in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung zu berücksichtigen sind, solange der Berechtigte im Geltungsbereich dieses Gesetzes wohnt. Diese Regelung trifft aber nur auf jene Zeiten zu, die der Kläger vor seiner Verhaftung durch die geheime Staatspolizei als Arbeitnehmer und Wehrdienstpflichtiger in Polen zurückgelegt hat. Sie betrifft dagegen nicht die streitige Anrechnung einer von ihm im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland im Anschluß an eine dort verrichtete - wenn auch zwangsweise - Beschäftigung mit anschließender Konzentrationslagerhaft verbrachten Zeit der Krankheit. Insoweit unterscheidet sich der hier zu beurteilende Sachverhalt grundlegend von dem im Urteil des BSG vom 21. Juni 1983 - 4 RJ 59/82 - (SozR 6710 Art 4 Nr 4) beurteilten Fall einer vor der Beschäftigung in der Bundesrepublik liegenden Zeit polnischen Kriegsdienstes mit anschließender Kriegsgefangenschaft.
Die Auffassung des Klägers, allein aus der Anerkennung der Haft im Konzentrationslager durch die Beklagte als Ersatzzeit folge schon die von ihm begehrte Anerkennung seiner anschließenden Krankheitszeit als Ersatzzeit, trifft nicht zu. Wie der erkennende Senat bereits im Urteil vom 24. Juni 1983 - 5b RJ 100/82 - (SozR 5070 § 1 Nr 4) entschieden hat, bedeutet die Eintragung einer Ersatzzeit nur die Feststellung einer anrechnungsfähigen Versicherungszeit mit Bindungswirkung für den Versicherungsträger, nicht aber die generelle Anerkennung der ihr zugrundeliegenden Begründung. Deshalb entfaltet die Eintragung der Ersatzzeit keine Bindungswirkung hinsichtlich der Frage, ob beim Kläger ein Verfolgungstatbestand vorgelegen hat. Die Anerkennung der geltend gemachten Krankheitszeit im Anschluß an die Konzentrationslagerhaft als Ersatzzeit setzt deshalb eine eigene Prüfung dahin voraus, ob es sich dabei um eine an die Zeit einer Freiheitsentziehung iS von § 43 BEG anschließende Krankheit gehandelt hat. Dazu gehört nach § 43 Abs 1 Satz 1 BEG auch die Nachprüfung der Verfolgteneigenschaft ohne Bindung an die hier bereits von der Beklagten ausgesprochene Anerkennung der Konzentrationslagerhaft als Ersatzzeit. Wie der 12. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 29. Oktober 1975 - 12 RJ 90/75 - (SozR 2200 § 1251 Nr 14) entschieden hat, ist nur der Aufenthalt von Verfolgten iS des § 1 BEG in Konzentrationslagern eine Ersatzzeit. Verfolgte sind nach § 1 BEG Personen, die unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis zum Mai 1945 wegen ihrer politischen Haltung, ihres Glaubens, ihrer Weltanschauung oder ihrer Rasse verfolgt worden sind. Für den Anspruch des Klägers auf Anerkennung der streitigen Zeit genügt mithin nicht der Hinweis auf § 43 Abs 2 BEG, wonach zur Freiheitsentziehung insbesondere auch die Konzentrationslagerhaft gerechnet wird. Es muß vielmehr die Verfolgteneigenschaft iS des § 1 BEG gegeben sein.
Zutreffend hat das LSG die Verfolgteneigenschaft des Klägers nicht bereits deshalb ausgeschlossen, weil ihm wegen seiner Verurteilung zu einer längeren Freiheitsstrafe mit Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte die Entschädigungsleistungen nach dem BEG versagt worden sind. Dagegen vermag der Senat dem LSG in der Beurteilung der Verfolgteneigenschaft nicht zu folgen.
Für die Einlieferung ins Konzentrationslager hat das LSG als allein wesentlich erachtet, daß der Kläger im Februar 1943 ohne Befugnis seinen "Zwangsarbeitsplatz" verlassen habe. Sicherlich hat dieses Verhalten des Klägers wesentlich zu seiner Verbringung ins Konzentrationslager beigetragen. Schon dabei kann jedoch nicht ungeprüft bleiben, ob aus diesem Verhalten eine Gegnerschaft zum Nationalsozialismus und damit ein Verfolgungstatbestand zu entnehmen war. Nach der für den Bereich des Sozialversicherungsrecht maßgebenden Ursachenlehre kann aber auch nicht gesagt werden, daß die Flucht vom Arbeitsplatz die allein wesentliche Ursache für die Inhaftierung des Klägers und seine Verbringung ins Konzentrationslager war. Der Umstand, daß auf den Kläger ein Arbeitszwang ausgeübt wurde, der mit seiner Verbringung von Polen nach Deutschland begann und sich mit der Einweisung in bestimmte Arbeitsplätze fortsetzte, kann nämlich nicht als für die Inhaftierung des Klägers in einem Konzentrationslager so unwesentlich angesehen werden, daß er nach der natürlichen Betrachtungsweise neben der Flucht des Klägers von seinem Zwangsarbeitsplatz als Ursache für den eingetretenen Erfolg außer Betracht zu bleiben hätte. Der Kläger ist vielmehr nur durch seine Festnahme in Polen und seine Verbringung als Zwangsarbeiter nach Deutschland in die Situation geraten, in der er schließlich mit der Flucht von seinem Zwangsarbeitsplatz die letzte Bedingung für seine Inhaftierung und Einlieferung in ein Konzentrationslager setzte. Es kommt mithin für seine Verfolgteneigenschaft darauf an, ob die Inhaftierung in Polen und die Verbringung zur Zwangsarbeit nach Deutschland eine Verfolgungsmaßnahme iS von § 1 BEG darstellt. Diese Beurteilung ist dem erkennenden Senat nicht möglich, weil das LSG hierzu - ausgehend von seinem anderen materiell-rechtlichen Ausgangspunkt - keine Feststellungen getroffen hat. Es hat die als Ansatzpunkt einer Verfolgungsmaßnahme denkbare Hilfeleistung des Klägers gegenüber Juden bei ihrer Flucht nur als Darstellung des Klägers erwähnt, sie aber weder nachgeprüft, noch für zutreffend oder unzutreffend erklärt. Eine Feststellung hierzu ist jedoch notwendig, um die Frage beantworten zu können, ob der Kläger als Verfolgter in einem Konzentrationslager gewesen ist.
Bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung wird das LSG unter Auswertung der Verwaltungsakten der Beklagten und der Wiedergutmachungsakten nach Zeugen und sonstigen Anhaltspunkten suchen müssen, die es ihm schließlich ermöglichen, eine Feststellung darüber zu treffen, aus welchem Grunde der Kläger in Polen von der Gestapo verhaftet und zur Zwangsarbeit nach Deutschland verbracht worden ist. Ebenso wird festzustellen sein, aus welchem Grunde er Ende Januar 1943 seinen Zwangsarbeitsplatz verlassen hat. Nur wenn sich dabei eine Verfolgungsmaßnahme iS des BEG ergibt, kommt ein Anspruch des Klägers auf Anerkennung einer Ersatzzeit nach Beendigung des Konzentrationslageraufenthalts wegen Krankheit in Betracht.
Aber auch zur Frage der Krankheit hat das LSG bislang von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus keine Feststellungen zu treffen brauchen und getroffen. Es muß daher vor abschließender Entscheidung in der Sache die in den Akten enthaltenen Unterlagen soweit als möglich durch weitere Beweismittel ergänzen und schließlich in freier Beweiswürdigung feststellen, ob und ggfs für welche Zeit ab 10. Mai 1945 der Kläger im Anschluß an die Konzentrationslagerhaft krank gewesen ist. Für diese Zeit kommt, wenn zuvor die Verfolgteneigenschaft des Klägers zu bejahen gewesen ist, die Anerkennung als Ersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO in Betracht.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil zur Sache vorbehalten.
Fundstellen