Leitsatz (amtlich)
Einer Waise, die an einer als Gebrechen im Sinne des RVO § 1267 Abs 1 S 2 anzusehenden Lungentuberkulose leidet, steht auch über die Vollendung ihres 18. Lebensjahres hinaus die Waisenrente solange zu, als sie infolge dieser Krankheit außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, mag auch bei Vollendung ihres 18. Lebensjahres bereits eine Heilung des Leidens in Aussicht stehen.
Normenkette
RVO § 1267 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 31. August 1961 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der am 24. Oktober 1941 geborene Kläger hatte aus der Invalidenversicherung seines im Kriege gefallenen Vaters bis zum Oktober 1959, d. h. bis zum Ablauf des Monats, in dem er sein 18. Lebensjahr vollendete, Waisenrente bezogen.
Im Juni 1956 war bei ihm bei einer Reihenuntersuchung eine Lungentuberkulose festgestellt worden. Vom Oktober 1956 bis August 1957 befand er sich deswegen in der Heilstätte St. M in N (Oldb.). Am 13.5.1957 wurde links ein Pneumothorax angelegt. Am 18. Juni 1959 kam der Kläger zur Auflassung des Pneumothorax erneut in die Heilstätte. Nach einem Befundbericht des Chefarztes der Heilstätte, des Lungenfacharztes Dr. S bestand damals eine linksseitige, noch aktive produktiv-infiltrative Unterlappentuberkulose bei eingehendem Pneumothorax, von der zu erwarten war, daß sie bei einem weiteren günstigen Verlauf voraussichtlich im April 1960 keine Arbeitsunfähigkeit mehr bedingen werde. Nach dem Entlassungsbericht vom 14. Dezember 1959 war nach Beendigung der Heilkur die Pneumothorax-Behandlung abgeschlossen; der Tuberkuloseprozeß hatte sich unter konservativ-chemischer Behandlung stabilisiert, und es bestand weiterhin Aussicht, daß nach einer Schonfrist von 3 Monaten die Erwerbsminderung nur noch etwa 40 % betragen werde.
Durch Bescheid vom 26. Oktober 1959 hat die Beklagte den Antrag auf Weiterzahlung der Waisenrente über das 18. Lebensjahr hinaus mit der Begründung abgelehnt, daß die Lungentuberkulose des Klägers kein Gebrechen, sondern nur eine vorübergehende Erkrankung sei, die voraussichtlich im Dezember 1959 beendet sein werde.
Das Sozialgericht (SG) Osnabrück hat unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides die Beklagte zur Weiterzahlung der Waisenrente bis zum 31. Mai 1960 verurteilt. In tatsächlicher Hinsicht führt es aus, die Lungentuberkulose des Klägers sei erstmalig im Juni 1956 aufgetreten. Sie habe insgesamt etwa vier Jahre bestanden. Nach dem Befundbericht und der gutachtlichen Äußerung des Staatlichen Gesundheitsamts des Kreises Bersenbrück vom 7. Juni 1961 liege Arbeitsunfähigkeit beim Kläger erst seit Juni 1960 nicht mehr vor. Es habe sich um eine linksseitige exsudativ-produktive Unterlappen-Tuberkulose mit gleichzeitiger Hilusdrüsen-Tuberkulose, also um eine schwere Lungenerkrankung gehandelt. Im Zeitpunkt der Vollendung des 18. Lebensjahres sei der Kläger zur Auflassung des Pneumothorax in der Heilstätte gewesen. Etwa 3 Monate später habe bei ihm immer noch ein zur Induration neigendes Restinfiltrat bestanden. Bei der Entlassung am 18. Dezember 1959 sei zwar bei Schonung ein nicht ungünstiger Heilverlauf zu erwarten gewesen. Die Annahme, daß schon nach einer Schonfrist von nur 3 Monaten, d. h. bereits bis Ende März 1960, wieder Arbeitsfähigkeit bei einer Erwerbsminderung von 40 % erreicht sei, habe sich jedoch nach dem amtsärztlichen Gutachten vom 7. Juni 1961 nicht als zutreffend erwiesen. Es bestätige somit die Tatsache, daß die Dauer einer schweren Tuberkuloseerkrankung auch von erfahrenen Lungenfachärzten nicht vorausgesehen werden könne. Daraus folge, daß die Ärzte weder im Zeitpunkt der Auflassung des Pneumothorax im Dezember 1959 noch im Zeitpunkt der Vollendung des 18. Lebensjahres im Oktober 1959 mit annähernder Sicherheit die vollständige Ausheilung der Tuberkulose hätten voraussehen können.
In rechtlicher Hinsicht ist das SG der Auffassung, ein Tuberkulose-Leiden könne ein Gebrechen im Sinne des § 1267 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sein, das zum Bezug der Waisenrente über das 18. Lebensjahr hinaus längstens bis zum 25. Lebensjahr berechtige. Ob dies der Fall sei, hänge von der Schwere der Erkrankung ab, die bei Anwendung moderner diagnostischer Hilfsmittel mit Sicherheit festgestellt werden könne. Sei jedoch auf Grund der Schwere des Krankheitsbildes ein Gebrechen festgestellt, könne dieses erst mit dem Wegfall der Arbeitsunfähigkeit zu bestehen aufhören und nicht schon vor diesem Zeitpunkt bei einer Besserung des Zustandes oder einem günstigen Heilverlauf nachträglich in eine Krankheit umgedeutet werden. Eine solche rückschauende Umdeutung eines Gebrechens in eine Krankheit und umgekehrt würde zu Rechtsunsicherheit und ungleicher Rechtsanwendung führen. Eine Tuberkuloseerkrankung, die einmal ein Gebrechen dargestellt habe, könne nicht entsprechend dem jeweiligen Heilverlauf in Zeiten der Gebrechlichkeit und der Krankheit unterteilt werden. Für die medizinische Feststellung des Vorliegens eines Gebrechens oder einer Krankheit sei die zufallsbedingte Vollendung des 18. Lebensjahres ohne rechtserhebliche Bedeutung. Der aus einer Lungentuberkulose sich ergebende Gebrechlichkeitszustand dauere bis zum Zeitpunkt der gesicherten Abheilung und des Wiedereintritts der Arbeitsfähigkeit fort. Eine etwa notwendige Schonung verbiete zur Vermeidung von Rückfällen jede Erwerbstätigkeit. Beim Kläger habe somit das Gebrechen über sein 18. Lebensjahr hinaus bis zum 31. Mai 1960 bestanden, so daß die Waisenrente bis zu diesem Zeitpunkt weiterzuzahlen sei.
Das SG hat die Berufung nach § 150 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen. Die Beklagte hat mit Einwilligung des Klägers Sprungrevision eingelegt mit dem Antrag,
das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 31. August 1961 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 26. Oktober 1959 abzuweisen.
Das Bundessozialgericht (BSG) habe bereits entschieden (BSG 14, 83), daß eine langwierige Infektionskrankheit und damit auch eine Lungentuberkulose ein Gebrechen im Sinne des § 1267 RVO sein könne. Es habe dabei dem allgemeinen Sprachgebrauch und der Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamts folgend das Gebrechen definiert als einen von der Regel abweichenden körperlichen oder geistigen Zustand, mit dessen Dauer für nicht absehbare Zeit zu rechnen sei. Hierzu habe es jedoch weiter ausgeführt, daß für die Beurteilung der Frage, ob es sich um einen solchen nicht absehbaren Dauerzustand handele, von dem Zeitpunkt auszugehen sei, in dem die Waise das 18. Lebensjahr vollende. Im Oktober 1959 habe sich der Kläger nun zwar in einer Heilstätte befunden. Mit seiner baldigen Entlassung und seiner baldigen Heilung sei jedoch damals gerechnet worden. Die seinerzeitige günstige Prognose sei auch durch die nachfolgende Entwicklung bestätigt worden. Seit Juni 1960 sei der Kläger wieder erwerbsfähig gewesen. Damit hätte seine Lungentuberkulose im Oktober 1959 kein Gebrechen mehr dargestellt. Unerheblich sei, daß die Krankheit damals bereits etwa 4 Jahre gedauert habe, entscheidend sei, daß sie bei Vollendung des 18. Lebensjahres voraussichtlich nur noch für kurze Zeit der Aufnahme einer Berufstätigkeit entgegenstand. Eine voraussichtliche krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit von etwa 6 Monaten könne nicht mehr als ein Gebrechen angesehen werden, da sie keinen Dauerzustand auf nicht absehbare Zeit darstelle.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er ist der Ansicht, bei dem wechselhaften Bild, das jeder Tuberkulosekranke biete, hätte kein Arzt im Oktober 1959 eine sichere Prognose darüber aufstellen können, wann er wieder arbeitsfähig sein werde. Wenn ein Gebrechen, wie eine Tuberkulose, später nach 6 bis 7 Monaten plötzlich abgeklungen sei, könne man die Frage der rechtlichen Bewertung dieses Zustandes bei Vollendung des 18. Lebensjahres nachträglich nicht anders beurteilen. Gewiß sei ein Zeitraum von 6 Monaten keine "nicht absehbare Zeit". Hier hätte aber niemand genau gewußt, wann wirklich eine endgültige Heilung vorliegen würde. Dem habe das SG Rechnung getragen, wogegen Bedenken nicht zu erheben seien.
Die form- und fristgerecht eingelegte sowie nach § 161 SGG statthafte Sprungrevision ist nicht begründet.
Zutreffend hat das SG in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung des Senats (vgl. BSG 14, 83) in der schweren Erkrankung des Klägers an Lungentuberkulose ein Gebrechen im Sinne des hier nach Art. 2 § 20 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 23. Februar 1957 (ArVNG) maßgebenden § 1267 RVO gesehen, d. h. einen von der Regel abweichenden körperlichen oder geistigen Zustand entsprechenden Ausmaßes, mit dessen Dauer für nicht absehbare Zeit zu rechnen war. Zu Recht hat es insbesondere ausgeführt, daß die Lungentuberkulose des Klägers nicht schon dann aufhörte, ein Gebrechen zu sein, als sich ihr Ende absehen ließ. Hieran ändert auch der Umstand nichts, daß eine Heilung gerade zur Zeit der Vollendung seines 18. Lebensjahres in absehbarer Zeit in Aussicht stand. Allerdings ist, wie der Senat in seinen Entscheidungen in BSG 14, 83, 85 und 4 RJ 323/60 vom 6. September 1962 ausgeführt hat, maßgebend, welcher Zustand bei Vollendung des 18. Lebensjahres, also hier im Oktober 1959, vorgelegen hat. Es ist jedoch nicht angängig, bei Gebrechen für die Frage, ob es sich um einen für nicht absehbare Zeit fortdauernden Zustand handelt, ausschließlich und ohne Rücksicht auf das Vorhergegangene auf einen Zeitpunkt abzustellen, der bereits gegen Ende des Krankheitsgeschehens liegt, und alsdann daraus zu folgern, daß jedes heilbare Gebrechen bereits aufhört, ein solches zu sein, sobald sich übersehen läßt, daß der regelwidrige Zustand in absehbarer Zeit beendet oder soweit behoben sein wird, daß er wieder eine Erwerbstätigkeit zuläßt. Dabei wird übersehen, daß die Waisenrente nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes im Falle der letzten Alternative des § 1267 Abs. 1 Satz 2 RVO solange zu zahlen ist, wie "der Zustand dauert", der die Waise hindert, sich selbst zu unterhalten. Auch wenn sich übersehen läßt, daß eine ein Gebrechen darstellende Erkrankung zu einem zukünftigen, einigermaßen bestimmten Zeitpunkt ganz oder im wesentlichen geheilt sein wird, so daß dann keine Erwerbsunfähigkeit mehr besteht, ändert dies daher nichts daran, daß bis zu jenem Zeitpunkt die Unfähigkeit, sich aus eigenen Kräften zu unterhalten, allein durch das noch bestehende, wenn auch auslaufende Gebrechen verursacht wird. Selbst wenn die Vollendung des 18. Lebensjahres in einen derartigen Zeitabschnitt fällt, ist deshalb die Waisenrente wegen des Gebrechens noch bis zum Eintritt der Erwerbsfähigkeit weiter zu gewähren.
Mit Rücksicht hierauf ist es entgegen der Auffassung der Beklagten unerheblich, ob für den Kläger Ende 1959 begründete Aussicht bestand, daß er bei einem weiteren günstigen Heilverlauf in absehbarer Zeit wieder arbeitsfähig sein werde. Ausschlaggebend ist vielmehr, daß bei Feststellung der Tuberkulose-Erkrankung im Jahre 1956 und in der Folgezeit ein Zustand von nicht absehbarer Dauer bestand, der ein Gebrechen darstellte und den Kläger hinderte, sich selbst zu unterhalten. Dazu hat das SG ausgeführt, daß damals und später der Verlauf und die Dauer des Leidens nicht vorauszusehen waren. Hiergegen sind begründete Einwendungen nicht erhoben worden, so daß diese Feststellungen für das BSG bindend sind (§ 163 SGG). Weiter hat das SG unangefochten ausgeführt, daß der Kläger wegen seiner Lungentuberkulose bis zum Mai 1960 nicht arbeitsfähig war, da er bis dahin aus gesundheitlichen Gründen einer Arbeit nicht nachgehen konnte (vgl. hierzu GrE. Nr. 3804, AN 1930, 339). Dahingestellt bleiben kann unter diesen Umständen, ob die Auffassung des SG zutrifft, die voraussichtliche Entwicklung des Lungenleidens des Klägers sei ohnehin im Oktober 1959 nicht zu übersehen gewesen. Jedenfalls lag unter den genannten Umständen bei Vollendung des 18. Lebensjahres des Klägers ein Gebrechen vor, das ihn unfähig machte, sich selbst zu unterhalten, so daß er für die Dauer dieses Zustandes rentenberechtigt war. Denn daß die versicherungstechnischen Voraussetzungen für den erhobenen Anspruch erfüllt sind (vgl. BSG 9, 196), ist unzweifelhaft.
Damit war die Sprungrevision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen