Entscheidungsstichwort (Thema)

MdE-Festsetzung. freie Beweiswürdigung

 

Orientierungssatz

Das Gericht überschreitet sein Recht auf freie Beweiswürdigung, wenn es bei der Prüfung des Grades der MdE die Feststellung, in welchem Maße die anerkannte Verschlimmerung eines Leidens die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt, unberücksichtigt läßt, und seine eigenen Feststellungen nicht durch ärztliche Unterlagen genügend absichert.

 

Normenkette

SGG § 128

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 10.12.1965)

SG Nürnberg (Entscheidung vom 30.03.1962)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 10. Dezember 1965 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Kläger bezieht Versorgung auf Grund des Bayerischen Körperbeschädigten-Leistungsgesetzes (KBLG) und des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Die Rente war wegen anerkannter Schädigungsfolgen, darunter hochgradiger doppelseitiger Schwerhörigkeit mit Schwindelanfällen sowie Bulbusdeformierung, hervorgerufen durch schädigende Einwirkungen im Sinne des § 1 BVG zunächst nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v.H., später um 60 v.H. (nicht bindend gewordener Bescheid vom 30. August 1954) festgestellt worden. Im Jahre 1954 überprüfte das Versorgungsamt (VersorgA) die Entstehung der Schwerhörigkeit und zog die Akten der ehemaligen Reichsversicherungsanstalt für Angestellte (RfA) heran, mit den Gutachten des Prof. Dr. K von der Hals-, Nasen- Ohrenklinik der Deutschen K-Universität in P vom Juli 1943 sowie des Kreiskrankenhauses K vom Mai 1943. Der Kläger brachte u.a. eine eidesstattliche Versicherung des Hans S, des Sohnes seines früheren Arbeitgebers, bei und legte eine beglaubigte Abschrift des Attestes des Prof. Dr. K vom April 1944 vor. Gestützt auf ärztliche Stellungnahmen des Regierungsmedizinalrats Dr. K und des Facharztes für Hals-, Nasen- Ohrenkrankheiten Dr. S änderte das VersorgA sodann durch den auf § 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) gestützten Berichtigungsbescheid vom 7. März 1956 die früheren Bescheide, stellte die MdE ab Antragstellung (Juli 1947) mit 25 v.H. fest und gewährte Rente nur noch auf Grund des BVG. Der Kläger habe im Jahre 1942 gegenüber der ehemaligen RfA seine Schwerhörigkeit auf "einige Male durchgemachte" Mittelohreiterungen zurückgeführt. Er sei also bereits vor Ableistung des Wehrdienstes schwerhörig gewesen, so daß dieses Leiden wegen der wissentlich falschen Angaben im Versorgungsverfahren zu Unrecht i.S. der Entstehung anerkannt worden sei und nur noch i.S. der Verschlimmerung mit einer MdE um weniger als 10 v.H. als Schädigungsfolge festgestellt werde. Gleichzeitig berechnete das VersorgA eine Überzahlung und forderte diese vom Kläger zurück. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 13. September 1957).

Mit der Klage hat der Kläger ein Leberleiden als zusätzliche Schädigungsfolge geltend gemacht und behauptet, er habe bis zum Beginn seines Wehrdienstes gut gehört, also keine unrichtigen Angaben über sein Hörvermögen gemacht. Das Sozialgericht (SG) hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sitzungsgutachtens durch den Facharzt für innere Krankheiten Dr. R, einer Auskunft von Prof. Dr. K, ehemals an der Deutschen Universität in Prag, eines Gutachtens durch den Hals-, Nasen- Ohrenarzt Dr. Dr. B und durch Vernehmung des Geschäftsführers Hans S als Zeugen. Durch Urteil vom 30. März 1962 hat das SG den Berichtigungsbescheid insoweit aufgehoben, als für die dort genannten Schädigungsfolgen eine niedrigere MdE als 80 v.H. anerkannt und ein Rückforderungsanspruch geltend gemacht werde; unter Abänderung des Neufeststellungsbescheides vom 30. August 1954 hat es den Beklagten verurteilt, dem Kläger über den 31. August 1954 hinaus Rente nach einer MdE um 80 v.H., ab 1. September 1955 unter zusätzlicher Anerkennung einer leichten Leberschädigung als Schädigungsfolge i.S. der Entstehung und unter Berücksichtigung eines besonderen beruflichen Betroffenseins Rente nach einer MdE um 90 v.H. zu gewähren. Der Berichtigungsbescheid sei zwar insofern rechtmäßig, als das Gehörleiden nur i.S. der Verschlimmerung anerkannt werden könne. Hierdurch aber werde nach dem Gutachten des Facharztes Dr. Dr. B die Erwerbsfähigkeit um 60 bis 70 v.H. herabgesetzt. Für das Gehörleiden und die internistischen Schädigungsfolgen hat das SG eine Gesamt-MdE um 80 v.H. angenommen und diese auf 90 v.H. erhöht, weil der Kläger durch die Schädigungsfolgen berufsunfähig geworden und beruflich besonders betroffen sei.

Auf die Berufung des Beklagten, mit der eine versorgungsärztliche Stellungnahme des Oberregierungsmedizinalrats Dr. S beigebracht war, hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 10. Dezember 1965 das Urteil des SG aufgehoben, soweit es über die Feststellung, daß auch eine leichte Leberschädigung Schädigungsfolge i.S. der Entstehung sei, hinausgeht, und hat insoweit die Klage abgewiesen. Bei einem Berichtigungsbescheid gemäß § 41 VerwVG könne die Verwaltung den Grad der MdE wie bei einer erstmaligen Rentenbewilligung festsetzen. Es sei bewiesen, daß das Ohrenleiden des Klägers durch den Wehrdienst nicht nennenswert verschlimmert worden sei. Dies ergebe sich daraus, daß sowohl nach einer Lazarettbehandlung wie bei der Entlassung aus der Wehrmacht habe geprüft werden müssen, ob körperliche Mängel durch den Wehrdienst hervorgerufen worden seien. Dies sei ohne den geringsten Zweifel verneint worden, denn bei der Annahme des ursächlichen Zusammenhangs hätte dem Kläger Versehrtengeld oder doch wenigstens Heilfürsorge bewilligt werden müssen, was nicht geschehen sei. Aus den Angaben des Klägers in den Vorgängen der RfA ergebe sich ebenfalls, daß er keine Versorgungsrente bezogen habe. An dieser Gewißheit könnten die entgegenstehenden Bekundungen von Zeugen nichts ändern. Außerdem könne der auf § 41 VerwVG gestützte Bescheid auch gemäß § 42 Abs. 1 Nr. 3 VerwVG rechtmäßig sein, weil der Kläger wissentlich falsch angegeben habe, er habe bis 1945 Versorgungsrente bezogen. Dieser Umstand sei für die Entscheidung von wesentlicher Bedeutung gewesen, weil sich dadurch eine medizinische Überprüfung des Kausalzusammenhangs zwischen dem Ohrenleiden und dem Wehrdienst erübrigt habe. Die Frist des § 43 Abs. 2 Satz 2 VerwVG sei eingehalten. Die vom VersorgA getroffene Feststellung, daß das Ohrenleiden durch den Wehrdienst eine geringfügige, die Erwerbsfähigkeit nicht meßbar beeinträchtigende Verschlimmerung erfahren habe, entbehre zwar insofern jeder Grundlage, als keinerlei Nachweise dafür vorlägen, daß der Kläger während des Wehrdienstes eine Ohrenentzündung durchgemacht habe, doch dürfe der angefochtene Bescheid nicht zum Nachteil des Klägers abgeändert werden. Durch das Magenleiden und den Leberschaden werde die Erwerbsfähigkeit des Klägers um insgesamt 25 v.H. beeinträchtigt. Infolgedessen sei die Rente richtig festgesetzt worden. Auch die Rückforderung sei berechtigt, weil der Kläger falsche Angaben gemacht habe.

Der Kläger hat Revision eingelegt und zuletzt beantragt,

1. das Urteil des Bayerischen LSG vom 10. Dezember 1965 insoweit aufzuheben, als es der Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 30. März 1962 entsprochen hat und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 30. März 1962 zurückzuweisen,

2. hilfsweise, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Er rügt mit näherer Begründung eine unvollständige und unzureichende Würdigung des gesamten Akteninhalts und eine Verletzung des § 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sowie des § 41 Abs. 1 Satz 1 VerwVG.

Der Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen LSG vom 10. Dezember 1965 zu verwerfen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Die vom Berufungsgericht nicht zugelassene Revision des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist statthaft, weil ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird und auch vorliegt. Das zulässige Rechtsmittel mußte Erfolg haben.

In der Revisionsinstanz ist nicht mehr streitig, daß die Schwerhörigkeit des Klägers durch Einwirkungen des Wehrdienstes verschlimmert worden ist und nur insoweit als Schädigungsfolge anerkannt wird. Die Revision rügt, das Berufungsgericht habe die durch die Verschlimmerung des Gehörleidens herbeigeführte MdE unter Verletzung des § 128 SGG festgesetzt. Nach dieser Vorschrift entscheidet das Gericht nach seiner freien aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.

Das LSG hat die angefochtene Entscheidung darauf gestützt, daß der Kläger bei seinem Versorgungsantrag unrichtige Angaben gemacht habe; außerdem sei er schon vor dem Wehrdienst genauso schwerhörig gewesen wie bei seiner Entlassung. Zu Recht hat der Kläger insoweit geltend gemacht, das LSG habe sich mit den Bekundungen des Zeugen S und mit den Gutachten der Ärzte Dres. R und R nicht auseinandergesetzt und habe für seine Annahme, der Kläger sei vor Eintritt des Wehrdienstes schon schwerhörig gewesen, keine hinreichenden ärztlichen Unterlagen gehabt. Vielmehr haben sich der Medizinalrat Dr. K und der Hals-, Nasen- Ohrenarzt Dr. S nicht mit der Frage beschäftigt, ob das von ihnen diagnostizierte derzeitige Gehörleiden des Klägers in medizinischer Betrachtung schon vor Beginn des Wehrdienstes bestanden haben muß. Außerdem hatte im August 1954 der Facharzt für Hals-, Nasen-, Ohrenkrankheiten Dr. R eine - bisher nicht durchgeführte - klinische Beobachtung vorgeschlagen, um die unklaren Zusammenhänge des Gehörleidens zu klären. Auch der Oberregierungsmedizinalrat Dr. S hat sich mit dem Ohrenleiden und der Funktionstüchtigkeit der Gehörorgane vor Beginn des Wehrdienstes nicht auseinandergesetzt. Infolgedessen entbehrt die Feststellung des Berufungsgerichts über die Schwerhörigkeit vor dem Wehrdienst einer hinreichenden Stütze. Auch bei seiner Auffassung über unrichtige Angaben des Klägers hätte es prüfen müssen, in welchem Maße die anerkannt gebliebene Verschlimmerung des Gehörleidens die Erwerbsfähigkeit des Klägers einschränkt. Dieser Verpflichtung war es nicht etwa deswegen enthoben, weil es der Auffassung war, die Verschlimmerung sei zu Unrecht anerkannt geblieben. Es hat zwar ausgeführt, wenn auch diese Feststellung im angefochtenen Bescheid einer hinreichenden Stütze entbehre, so müsse doch von ihr ausgegangen werden. Trotz dieser Ausführungen hat es sich aber offenbar von dem Gedanken nicht freimachen können, eine MdE komme deswegen nicht in Betracht, weil das Leiden seiner Ansicht nach zu Unrecht anerkannt worden sei.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (vgl. BSG SozR SGG § 128 Nr. 25) ist das Gericht bei der Feststellung des Grades der MdE auf die Schätzung der ärztlichen Sachverständigen nicht angewiesen. Vielmehr bieten die Sachverständigen insoweit nicht mehr als einen Anhalt. Jedenfalls aber muß das Gericht von dem ärztlich festgestellten Sachverhalt, was die pathologischen Veränderungen und die Funktionstüchtigkeit des Körpers und seiner Organe anlangt, ausgehen. Hier hat der Facharzt Dr. Dr. B dargelegt, daß bei einem Gehörleiden der beim Kläger vorliegenden Art - Pneumatisationshemmung der Warzenfortsätze - früher eine normale Hörfähigkeit bestanden haben kann. Zwar hat der Sachverständige nur von Erkrankungen des Ohres gesprochen, welche diese Veränderung der Warzenfortsätze verursacht haben, hat diese aber nicht als Mittelohreiterungen angesehen. Die vom Arzt des Kreiskrankenhauses K geäußerten Zweifel, es es sich um eine Menieresche Erkrankung oder eine Otosklerose handelt, sind offen geblieben. Aber nicht aus diesen Bedenken heraus hat das LSG sich dem Dr. Dr. B nicht angeschlossen, sondern hat von seinem Gutachten überhaupt abgesehen. Es hat also die ärztlicherseits angenommene Funktionstüchtigkeit des Hörvermögens vor Beginn des Wehrdienstes weder aufgrund der Zeugenaussagen noch der medizinischen Möglichkeiten in den Kreis seiner Betrachtung gezogen. Damit hat es sein Urteil über die durch die anerkannte Verschlimmerung verursachte MdE nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens hergeleitet. Diese Rüge des Klägers greift demnach durch.

Damit ist die Revision nicht nur statthaft, sondern auch begründet. Denn bei fehlerfreier Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens hätte das angefochtene Urteil anders ausfallen können, als es erlassen worden ist. Die Feststellung, durch die anerkannte Verschlimmerung der Schwerhörigkeit werde die Erwerbsfähigkeit nicht nennenswert beeinträchtigt, ist also fehlerhaft und muß aufgehoben werden. Damit aber bleiben keine Feststellungen mehr übrig, welche dem Senat eine Entscheidung in der Sache ermöglichen könnten.

Auch bei einer Umdeutung des auf § 41 VerwVG gestützten Bescheides in einen solchen nach § 42 VerwVG bleibt keine unangefochtene Feststellung mehr bestehen; denn der Kläger hat sich gegen die weitere Feststellung gewandt, er habe wissentlich unwahre Angaben gemacht. Bei einer Berichtigung nach § 42 VerwVG wegen eines fehlerhaften Erstfeststellungsverfahrens der Versorgungsverwaltung stellt sich ebenfalls die Frage, inwieweit die anerkannt gebliebene Verschlimmerung der Schwerhörigkeit die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt. Insoweit fehlt - wie bereits ausgeführt - eine Feststellung des LSG, welche das Revisionsgericht binden könnte. Demgemäß war die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Dieses wird in weiteren Verfahren die Grundsätze der in BSG 18 S. 260 ff abgedruckten Entscheidung des BSG berücksichtigen müssen. Die ursprünglich wegen der Schwerhörigkeit festgesetzte MdE kann nur dann rechtmäßig berichtigt worden sein, wenn auch sie zweifellos unrichtig ist. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG und der in der Literatur durchweg vertretenen Ansicht durchbricht die Berichtigung bindend gewordener Bescheide die der Rechtskraft entsprechende bindende Wirkung und rührt an die Rechtssicherheit. Deshalb muß sich die Berichtigung in den engsten Grenzen halten, und es muß geprüft werden, ob beide Verfügungssätze, nämlich die Angabe der Schädigungsfolgen und auch die Festsetzung der MdE, ohne Zweifel tatsächlich und rechtlich unrichtig gewesen sind. Von dem Ergebnis des weiteren Verfahrens wird ferner abhängen, ob der Beklagte rechtmäßig im Bescheid vom 7. März 1956 Leistungen zurückgefordert hat.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem das Verfahren abschließenden Urteil vorbehalten.

Da die Voraussetzungen der §§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG erfüllt waren, konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2375036

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