Entscheidungsstichwort (Thema)
Gutachter. medizinischer Sachverständiger. Sachkunde
Orientierungssatz
Die Frage, ob eine sogenannte "Verschiebung der Wesensgrundlage eines Leidens" eingetreten ist, also ob bei einem Leiden eine medizinische Ursache an die Stelle einer anderen getreten ist, während das Leidensbild nach außen hin als unverändert erscheint, kann nicht ohne eingehende medizinische Beobachtungen, Kenntnisse und Erfahrungen entschieden werden.
Normenkette
SGG §§ 103, 128
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 24.09.1959) |
SG Braunschweig (Entscheidung vom 15.06.1956) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 24. September 1959 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Durch zwei Bescheide vom 16. Juli 1951 gewährte das Versorgungsamt (VersorgA) B dem Kläger vom 1. August 1950 an nach der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27 und vom 1. Oktober 1950 an nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen "abklingenden Eiweißmangelschadens, Übererregbarkeit des Gefäßnervensystems und Steigerung der allgemeinen nervösen Erregbarkeit nach Gehirnerschütterung", ferner wegen "Störungen des Hautempfindungsvermögens am rechten Oberschenkel" Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v.H. Auf Grund einer Begutachtung durch einen Nervenfacharzt und durch einen Facharzt für innere Krankheiten entzog das VersorgA durch Bescheid vom 7. Juli 1953 die Rente vom 1. September 1953 an, weil der Eiweißmangelschaden und die Übererregbarkeit, soweit sie auf dem Eiweißmangelschaden beruhe, abgeklungen und Folgen der Gehirnerschütterung nicht mehr nachweisbar seien. Den Widerspruch (Einspruch) wies das LandesversorgA Niedersachsen durch Bescheid vom 29. Mai 1954 zurück. Der Kläger erhob Klage bei dem Sozialgericht (SG) Braunschweig. Das SG hob durch Urteil vom 15. Juni 1956 die Bescheide vom 7. Juli 1953 und vom 29. Mai 1954 auf und verurteilte den Beklagten, dem Kläger wegen der in dem Bescheid vom 16. Juli 1951 anerkannten Schädigungsfolgen über den 31. August 1953 hinaus Rente nach einer MdE um 40 v.H. zu zahlen: Eine Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 62 BVG liege nicht vor, vielmehr seien lediglich die Ursachen der anerkannten Schädigungsfolgen in den angefochtenen Bescheiden anders beurteilt worden. Der Beklagte führte das Urteil durch den Bescheid vom 22. November 1956 aus, legte aber bei dem Landessozialgericht (LSG) Celle Berufung gegen das Urteil ein. Durch "Teilberichtigungsbescheid" vom 1. Oktober 1957, der auf § 41 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) gestützt wurde, hob der Beklagte die Bescheide vom 16. Juli 1951 und den Bescheid vom 22. November 1956 insoweit auf, als er darin Übererregbarkeit des Gefäßnervensystems und Steigerung der allgemeinen nervösen Erregbarkeit nach Gehirnerschütterung als Schädigungsfolgen anerkannt hatte: Die Annahme, daß die im Jahre 1950 von den Ärzten ermittelte Übererregbarkeit Folge einer 1939 erlittenen Gehirnerschütterung sei, widerspreche jeder ärztlichen Erfahrung und sei daher ohne Zweifel unrichtig; eine anlagebedingte Übererregbarkeit könne zwar durch Strapazen während der Kriegsgefangenschaft vorübergehend verschlimmert werden, eine solche Verschlimmerung pflege jedoch in längstens zwei Jahren nach Beendigung der Gefangenschaft wieder abzuklingen. Der Bescheid vom 7. Juli 1953 wurde "insoweit aufgehoben, als seine rechtliche Begründung nunmehr mit diesem Bescheid gegeben wird". In Verbindung mit dem "Teilberichtigungsbescheid" vom 1. Oktober 1957 erging am gleichen Tage ein weiterer Bescheid, in welchem als Schädigungsfolgen nunmehr "Narben an der Stirn, am rechten Oberschenkel und beiden Unterschenkeln, eine Narbe an der rechten Leiste und Empfindungsstörungen im Bereich der Haut des rechten Oberschenkels" festgestellt (anerkannt) wurden, die MdE mit weniger als 25 v.H. bewertet und Rente abgelehnt wurde. Das LSG hob durch Urteil vom 24. September 1959 den Teilberichtigungsbescheid vom 1. Oktober 1957 auf, wies die Klage auf Aufhebung des Bescheids über die Anerkennung von Schädigungsfolgen vom 1. Oktober 1957 ab, hob zugleich das Urteil des SG Braunschweig vom 15. Juni 1956 auf und wies die Klage gegen die Bescheide vom 7. Juli 1953 und 29. Mai 1954 ab: Der "Teilberichtigungsbescheid" vom 1. Oktober 1957 sei zu Unrecht ergangen, die Anerkennung der Übererregbarkeit des Gefäßnervensystems und Steigerung der allgemeinen nervösen Übererregbarkeit nach Gehirnerschütterung sei nicht zweifelsfrei unrichtig im Sinne von § 41 VerwVG gewesen; es sei daher zu prüfen, ob der Bescheid vom 7. Juli 1953 rechtmäßig sei, weil er auf § 62 BVG habe gestützt werden können; dies sei der Fall; zwar bestehe bei dem Kläger nach wie vor eine Übererregbarkeit des Gefäßnervensystems und eine Steigerung der allgemeinen nervösen Erregbarkeit; diese Störungen könnten jedoch nach den Erkenntnissen der ärztlichen Wissenschaft zur Frage der vegetativen Dystonie bei Spätheimkehrern jetzt nicht mehr auf Einflüsse des Wehrdienstes und der Kriegsgefangenschaft zurückgeführt werden, vielmehr habe sich die Wesensgrundlage des Leidens verschoben; es sei nicht anzunehmen, daß jetzt noch bei dem Kläger ein Spätschaden nach Dystrophie vorliege; nach der Lehre von Prof. H und anderen sei ein solcher Spätschaden nur möglich als Folge eines sogenannten Summationstraumas bei klimatischer Ungunst, gehäuften Infekten und Verwundungen verbunden mit einem Stoffwechselzusammenbruch infolge schwerster Unter- und Fehlernährung; dafür, daß der Kläger einem derartigen Summationstrauma ausgesetzt gewesen sei, bestehe kein Anhalt; die Störungen seien vielmehr auf die mannigfaltigen Schwierigkeiten zurückzuführen, die sich für den Kläger nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft ergeben haben.
Das Urteil wurde dem Kläger am 7. Oktober 1959 zugestellt. Am 28. Oktober 1959 legte er Revision ein und beantragte,
das Urteil des LSG Celle vom 24. September 1959 aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Am 6. November 1959 begründete er die Revision: Das LSG habe die Frage, auf welche Ursachen die jetzt noch vorhandenen Gesundheitsstörungen zurückzuführen seien, nicht aus eigener Sachkenntnis entscheiden dürfen; diese Frage könne nur von einem Sachverständigen beurteilt werden; ein ärztliches Gutachten sei auch nicht deshalb entbehrlich gewesen, weil die Frage der sogenannten Spätheimkehrer-Schäden im medizinischen Schrifttum wiederholt behandelt worden sei; die Frage des Zusammenhangs könne nur auf Grund einer Untersuchung des Klägers entschieden werden; im übrigen liege auch entgegen der Ansicht des LSG ein sogenanntes Summationstrauma im Sinne von Prof. H vor; das LSG habe unter diesen Umständen die Grenzen seines Rechts, die Beweise frei zu würdigen (§ 128 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), überschritten und seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 103 SGG) verletzt.
Der Beklagte beantragte,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
sie als unbegründet zurückzuweisen.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft; der Kläger rügt mit Recht, das Verfahren des LSG leide an wesentlichen Mängeln.
Die Frage, ob das Verfahren des LSG an einem wesentlichen Mangel leidet, ist vom sachlich-rechtlichen Standpunkt des LSG aus zu beurteilen (BSG 2 S. 85 ff.). Das LSG hat den "Teilberichtigungsbescheid" vom 1. Oktober 1957 aufgehoben. Es hat die Frage, ob der Bescheid vom 16. Juli 1951 jedenfalls mit Wirkung vom 1. September 1953 an teilweise hat zurückgenommen werden dürfen, allein unter dem Gesichtspunkt geprüft, ob in den Verhältnissen, die für die Feststellung der Schädigungsfolgen und der Rente maßgebend gewesen sind (§ 62 BVG), eine wesentliche Änderung eingetreten ist; es ist weiter der Meinung gewesen, der Beklagte habe zu Recht in dem Bescheid vom 1. Oktober 1957 nur noch einen Teil der Leiden des Klägers als Schädigungsfolgen festgestellt. Das LSG hat festgestellt, der Kläger leide zwar nach wie vor unter Übererregbarkeit des Gefäßnervensystems und einer Steigerung der allgemeinen nervösen Erregbarkeit, dieser Zustand gehe jedoch nicht mehr auf Einflüsse des Wehrdienstes oder der Kriegsgefangenschaft zurück, vielmehr sei eine sogenannte Verschiebung der Wesensgrundlage des Leidens eingetreten, medizinisch seien als Ursache der Störung nunmehr anlagebedingte Faktoren anzusehen. Diese Feststellung ist nicht in verfahrensrechtlich einwandfreier Weise zustande gekommen. Für die Entscheidung darüber, welche Umstände ein Leiden hervorrufen oder verschlimmern, sind in aller Regel Gutachten ärztlicher Sachverständiger heranzuziehen, weil dazu eine besondere Sachkunde auf medizinischem Gebiet notwendig ist. Dies gilt besonders dann, wenn es sich darum handelt, festzustellen, ob eine sogenannte "Verschiebung der Wesensgrundlage eines Leidens" eingetreten ist; hierunter versteht das LSG den Vorgang, daß bei dem Leiden eine medizinische Ursache an die Stelle einer anderen tritt, während das Leidensbild nach außen hin als unverändert erscheint; auch diese Frage kann nicht ohne eingehende medizinische Beobachtungen, Kenntnisse und Erfahrungen entschieden werden. Bei der Beurteilung einer medizinischen Frage darf das Gericht von der Anhörung eines Sachverständigen nur absehen, wenn es die erforderliche Sachkunde selbst besitzt; es muß in diesem Fall darlegen, worauf seine Sachkenntnis beruht, das Revisionsgericht muß die Möglichkeit haben, nachzuprüfen, ob das Tatsachengericht sich die Sachkenntnis nicht etwa zu Unrecht zugetraut hat (vgl. BSG, Urteil vom 2.6.1957, SozR Nr. 45 zu § 128 SGG). Das LSG hat einen Sachverständigen nicht gehört. Es hat sich zur Begründung seiner Ansicht auf medizinisches Schrifttum gestützt, in welchem zur Frage des ursächlichen Zusammenhangs einer nervösen Übererregbarkeit nach Dystrophie mit Wehrdienst bzw. Gefangenschaft und insbesondere zur sogenannten Verschiebung der Wesensgrundlage eines solchen Leidens Stellung genommen ist. Aus diesem Schrifttum hat das LSG aber allenfalls entnehmen können, daß bei einem Heimkehrer, bei dem zunächst nervöse Übererregbarkeit als Schädigungsfolge anerkannt ist, später eine "Verschiebung" der Wesensgrundlage des anerkannten Leidens eintreten kann, es hat daraus nicht entnehmen dürfen, daß dies bei jedem Heimkehrer, also auch bei dem Kläger, der Fall sein muß. Gerade in dem vom LSG zitierten Aufsatz von Pollakowski (KOV 1958, S. 98) wird darauf aufmerksam gemacht, daß bei Beurteilung der Frage, ob eine Verschiebung der Wesensgrundlage eingetreten sei, die gesamten Umstände des Einzelfalles sorgsam abzuwägen seien (vgl. auch "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen;, Neuausgabe 1958 Nr. 89 S. 121, insb. Absatz). Dies hat das LSG nur an Hand ärztlicher Gutachten tun können. Es hat nicht dargelegt, daß es die Sachkunde, die die medizinische Beurteilung im Falle des Klägers erfordert, besessen habe; es ist auch nicht ersichtlich, daß es diese Sachkunde hat haben können. Gerade auf dem Gebiet der Heimkehrerkrankheiten haben sich die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft in den letzten Jahren weiterentwickelt, die Entwicklung ist auch noch nicht zum Abschluß gekommen. In solchen Fällen wird deshalb in aller Regel ein Arzt gehört werden müssen, der auf diesem Gebiet besonders erfahren ist. Da das LSG überhaupt keinen Sachverständigen gehört, sondern sich seine Meinung an Hand allgemeiner medizinischer Veröffentlichungen gebildet hat, hat es die Grenzen seines Rechts, die Beweise frei zu würdigen (§ 128 SGG), überschritten und seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 103 SGG) verletzt. Wenn der Beklagte meint, das LSG habe sich auf das Gutachten des Regierungsmedizinaldirektors Dr. M vom 11. Januar 1957 gestützt, so trifft dies nicht zu. Zwar hat das LSG im Tatbestand seines Urteils auf die Versorgungsakten, in denen dieses Gutachten enthalten ist, Bezug genommen; dies bedeutet jedoch nur, daß der Inhalt der Versorgungsakten - und damit auch das Gutachten des Dr. M - bei der Urteilsfindung berücksichtigt worden ist; damit ist nicht gesagt, daß das LSG sich zur Begründung seiner Entscheidung auf das Gutachten des Dr. M gestützt hat, daß und warum es dieses Gutachten für ausreichend und für überzeugend gehalten hat. Der Kläger hat den Verstoß gegen die §§ 128 und 103 SGG zu Recht gerügt, die Revision ist daher statthaft. Die Revision ist auch frist- und formgerecht eingelegt, sie ist daher zulässig.
Die Revision ist auch begründet. Es ist möglich, daß das LSG nach erschöpfender Aufklärung des Sachverhalts und nach einwandfreier Würdigung der Beweise zu einem anderen Ergebnis kommt. Das Urteil ist daher aufzuheben. Der Senat kann nicht selbst entscheiden, da hierzu noch tatsächliche Feststellungen erforderlich sind. Die Sache ist daher zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Das LSG wird je nach dem Ergebnis der weiteren Ermittlungen zu prüfen haben, wie der medizinische Begriff der "Verschiebung der Wesensgrundlage eines Leidens" im Versorgungsrecht zu werten ist. Nach der Überzeugung des erkennenden Senats können die Fälle, die medizinisch mit diesem Begriff erfaßt werden sollen, rechtlich nur so gelagert sein, daß entweder dem Bewilligungsbescheid eine unrichtige medizinische Beurteilung zu Grunde gelegen hat, dieser Bescheid also von Anfang an rechtswidrig gewesen ist, oder aber so, daß neue Krankheitserscheinungen aufgetreten sind, die bei gleichem Leidensbild nunmehr auf einen anderen Leidensgrund schließen lassen, daß sich also die "Verhältnisse" im Sinne des § 62 Abs. 1 BVG "geändert" haben; die "Anlage" zu einem Leiden als solche hält der Senat nicht für einen "neu" hinzukommenden Umstand, in dem eine Änderung in den Verhältnissen im Sinne von § 62 Abs. 1 BVG zu erblicken ist. Das LSG wird, wenn es nach weiterer Beweiserhebung wieder zu dem Ergebnis kommt, der Bescheid vom 7. Juli 1953 sei rechtmäßig, auch zu prüfen haben, ob der Bescheid vom 1. Oktober 1957 (über die Feststellung der Schädigungsfolgen und die Ablehnung der Rente) nicht jedenfalls insoweit gegenstandslos ist, als er den Anspruch auf die Rente betrifft.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen