Leitsatz (redaktionell)
1. Nach BVG § 35 ist nicht erforderlich, daß die Schädigung "die letzte die Hilflosigkeit auslösende Ursache" ist, die Schädigung muß vielmehr eine wesentliche Bedingung und damit die Ursache iS des Versorgungsrechts für die Hilflosigkeit sein.
2. Die Frage, ob der Kläger hilflos iS des BVG § 35 ist, darf nicht schon auf Grund der Schlußfolgerungen der Ärzte und der allgemeinen Angaben des Klägers über seine Lebensverhältnisse bejaht werden, es muß vielmehr im einzelnen ermittelt und festgestellt werden, in welchem Umfang der Kläger für die gewöhnlichen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens dauernd fremder Hilfe bedarf. Die Möglichkeit, die Personen, die den Kläger bisher betreut haben, als Zeugen zu vernehmen, muß genutzt werden, um ein Bild darüber zu gewinnen, inwieweit der Kläger auf fremde Hilfe angewiesen ist.
Normenkette
BVG § 35 Abs. 1 Fassung: 1957-07-01
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 23. Februar 1960 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Das Versorgungsamt (VersorgA.) I B erkannte mit Bescheid vom 15. August 1955 bei dem Kläger "1) Verlust des rechten Oberschenkels mit Bewegungseinschränkung des rechten Hüftgelenks, 2) Überlastungsschaden des erhalten gebliebenen linken Fußes" als Schädigungsfolgen an und gewährte dem Kläger eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 80 v.H. Im Januar 1956 beantragte der Kläger, ihm eine Pflegezulage zu gewähren, weil er durch die Bewegungseinschränkung so fettleibig geworden sei, daß er ständiger Wartung und Pflege bedürfe. Die Versorgungsbehörden lehnten den Antrag ab; die Zunahme des Körpergewichts des Klägers sei keine Schädigungsfolge, sie beruhe auf körpereigenen Faktoren. Das Sozialgericht (SG.) hörte über die Frage, ob die Gewichtszunahme des Klägers mit der anerkannten Schädigung ursächlich zusammenhänge und ob bei dem Kläger Hilflosigkeit vorliege, den Facharzt für Chirurgie Dr. G und - nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) - den Facharzt für Orthopädie Dr. H Dr. G vertrat die Auffassung, die starke Gewichtszunahme des Klägers sei nicht auf die Schädigung zurückzuführen. Dr. H meinte, die anlagebedingte Fettleibigkeit sei durch die stark eingeschränkte Bewegungsfähigkeit, die durch die Schädigung bedingt sei, gefördert worden. Beide Ärzte waren der Ansicht, der Kläger sei infolge seiner stark eingeschränkten Bewegungsfähigkeit hilflos. Der Versorgungsarzt Dr. H hielt Hilflosigkeit nicht für gegeben, der Gerichtsarzt Dr. N schloß sich ihm an. Das SG. hörte den Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 26. August 1959 über seine Lebensverhältnisse. Mit Urteil vom 26. August 1959 hob das SG. die Bescheide der Versorgungsbehörden, mit denen diese die Pflegezulage abgelehnt hatten, auf und sprach dem Kläger die (einfache) Pflegezulage ab 1. Januar 1956 zu.
Das Landessozialgericht (LSG.) wies die Berufung des Beklagten mit Urteil vom 23. Februar 1960 zurück: Der Kläger könne, wie sich aus seinen Angaben über seine Lebensverhältnisse ergeben habe und wie auch von den Ärzten Dr. G und Dr. H bestätigt worden sei, nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen; die Hilflosigkeit sei zwar nicht ausschließlich auf die Schädigung zurückzuführen, sondern auch auf die Fettleibigkeit, die auf körpereigenen Faktoren beruhe, die Schädigung sei jedoch die wesentliche Ursache für die Hilflosigkeit; die Voraussetzungen für die Gewährung einer Pflegezulage nach § 35 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) seien daher erfüllt. Das Urteil des LSG. wurde dem Beklagten am 18. März 1960 zugestellt. Der Beklagte legte am 6. April 1960 Revision ein; er beantragte,
die Urteile des LSG. und des SG. aufzuheben und Klage abzuweisen,
hilfsweise, die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Der Beklagte begründete die Revision am 28. April 1960: Das LSG. habe die Verfahrensvorschriften der §§ 103 und 128 SGG verletzt; es habe die Frage, ob der Kläger hilflos im Sinne des Gesetzes sei, nicht schon auf Grund der Schlußfolgerungen der Ärzte und der allgemeinen Angaben des Klägers über seine Lebensverhältnisse bejahen dürfen, es habe vielmehr im einzelnen ermitteln und feststellen müssen, in welchem Umfang der Kläger für die gewöhnlichen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens dauernd fremder Hilfe bedürfe; das LSG. habe hierzu jedenfalls auch die Eheleute K und Frau H, von denen der Kläger bisher betreut worden sei oder noch betreut werde, als Zeugen hören müssen.
Das LSG. habe auch § 35 BVG unrichtig angewandt, es habe verkannt, daß ein Beschädigter nicht hilflos sei, wenn er - wie der Kläger - nur für einzelne Verrichtungen fremder Hilfe bedürfe. Im übrigen sei der Anspruch auf Pflegezulage auch dann nicht begründet, wenn der Kläger hilflos sei; der Kläger sei dann nicht "infolge" seiner Schädigung hilflos, die Schädigung sei nicht "die letzte die Hilflosigkeit auslösende Ursache", dies sei vielmehr seine anlagebedingte Fettleibigkeit.
Der Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision, die form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden ist, ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft; der Beklagte rügt mit Recht, das Verfahren des LSG. leide an wesentlichen Mängeln.
Das LSG. hat angenommen, der Kläger sei hilflos, er habe damit nach § 35 Abs. 1 BVG Anspruch auf die Pflegezulage. Das LSG. hat dazu ausgeführt, die Hilflosigkeit sei zwar nicht nur auf die Schädigung des Klägers - den Verlust des rechten Oberschenkels -, sondern auf die erhebliche Fettleibigkeit, die später hinzugekommen sei und auf körpereigenen Faktoren beruhe, zurückzuführen, die Schädigung sei aber hier die wesentliche Bedingung und damit die Ursache (im Sinne des Versorgungsrechts) für die Hilflosigkeit; es sei nicht erforderlich, daß sie "die letzte, die Hilflosigkeit auslösende Ursache" sei. Das LSG. ist damit bei der Beurteilung der Frage, ob der Kläger "infolge der Schädigung" hilflos geworden ist, von zutreffenden rechtlichen Erwägungen ausgegangen (vgl. hierzu Urteil des BSG. vom 25. August 1960 - 11 RV 1368/59); seine tatsächlichen Feststellungen reichen jedoch für die Frage, ob der Kläger hilflos im Sinne von § 35 Abs. 1 BVG ist, nicht aus.
Hilflos ist nach § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG ein Beschädigter, wenn er infolge der Schädigung nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen kann, wenn er also für die gewöhnlichen, regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedarf (vgl. BSG. 8 S. 97 (99) mit weiteren Hinweisen; Urteile des BSG. vom 11.5.1959, SozR. Nr. 7 zu § 35 BVG und vom 23.6.1960 - 10 RV 1371/58 -; in der Fassung des Ersten Neuordnungsgesetzes vom 27.6.1960 enthält § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG gegenüber der früheren Fassung insoweit keine sachliche Änderung).
Das LSG. hat sich im wesentlichen auf das Gutachten des Facharztes für Chirurgie Dr. G vom 17. März 1958, auf das Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. H vom 25. Mai 1959 sowie auf die Angaben des Klägers über seine Lebensverhältnisse gestützt, ohne näher darzulegen, welche Tatsachen es im einzelnen auf Grund dieser Unterlagen als festgestellt angesehen hat. Beide Ärzte haben ausgeführt, der Kläger sei infolge der Oberschenkelamputation und der Fettleibigkeit in seiner Bewegungsfähigkeit erheblich eingeschränkt, er könne die ihm verordnete Leibbinde und Oberschenkelprothese nicht ordnungsgemäß anlegen, er sei auf fremde Wartung und Pflege angewiesen und damit hilflos im Sinne des § 35 BVG. Diese ärztlichen Äußerungen reichen nicht aus, um beurteilen zu können, ob der Kläger hilflos im Sinne des § 35 Abs. 1 BVG ist, weil sie im wesentlichen nur die Frage beantworten, ob nach Ansicht der Ärzte das gesetzliche Tatbestandsmerkmal "Hilflosigkeit" erfüllt ist. Ob ein Zustand der Hilflosigkeit besteht, ist zunächst eine Tatfrage, die nicht allein nach den ärztlichen Schlußfolgerungen beantwortet werden darf; diese Frage ist vielmehr auf Grund der allgemeinen Lebenserfahrung unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände des einzelnen Falles zu entscheiden; die Unterordnung der festgestellten Tatsachen unter den Begriff des Gesetzes betrifft die rechtlichen Schlußfolgerungen; insoweit handelt es sich um eine Rechtsfrage, die vom Gericht zu beantworten ist (vgl. BSG. 8 S. 97 (99); Urteil des BSG. vom 11.6.1959 SozR. Nr. 7 zu § 35 BVG); Tatsachen, aus denen das LSG. hätte folgern dürfen, daß der Kläger hilflos im Sinne des Gesetzes ist, sind in den ärztlichen Äußerungen jedenfalls nicht ausreichend dargelegt; der Umstand, daß der Kläger in seiner Bewegungsfähigkeit erheblich eingeschränkt ist, besagt für sich allein noch nicht, daß er hilflos ist. Auch die Angaben des Klägers über seine Lebensverhältnisse reichen nicht aus für die Feststellung, daß der Kläger hilflos im Sinne des § 35 Abs. 1 BVG ist. Der Kläger hat angegeben, er sei von den Eheleuten K, bei denen er gewohnt habe, betreut worden und er werde jetzt von Frau H, bei der er zur Zeit wohne, betreut; ihm werde der Morgenkaffee und das Mittagessen zubereitet, das Waschwasser gebracht, das Bett gemacht und das Zimmer rein gehalten. Aus diesen Angaben ist nicht zu ersehen, ob der Kläger diese Tätigkeiten infolge seines Leidenszustandes nicht allein verrichten kann, oder ob er sich insoweit nur fraulicher Hilfe für Tätigkeiten bedient, die normalerweise einem Manne weniger liegen.
Der Kläger hat zwar auch angegeben, er brauche fremde Hilfe beim Anlegen seiner Leibbinde und könne sich die Schuhe nicht allein zumachen; er hat dann abschließend gesagt, "im wesentlichen benötige ich für die Verrichtungen des täglichen Lebens der Hilfe der Eheleute K". Diese Angaben ermöglichen nicht die Feststellung, daß der Kläger für die (nicht nur für einzelne) gewöhnlichen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedarf (vgl. auch Urteil des BSG. vom 23.2.1960 - 10 RV 1371/58 -). Das LSG. hätte feststellen müssen, ob und in welchem Umfange der Kläger z.B. auch gehindert ist, sich allein an- und auszukleiden, sich zu waschen, sich zu rasieren, Besorgungen zu machen, leichtere häusliche Arbeiten zu verrichten, Speisen zuzubereiten, denn hierbei handelt es sich um die regelmäßig wiederkehrenden und notwendigen Verrichtungen des täglichen Lebens, die für die Beurteilung der Hilflosigkeit im Sinne des § 35 Abs. 1 BVG bedeutsam sind; erst auf Grund solcher Feststellungen hat das LSG. entscheiden können, ob der Anspruch auf Pflegezulage besteht. Das LSG. hat sich, wenn es sich auf die ärztlichen Gutachten hat stützen wollen, nicht damit begnügen dürfen, daß die Ärzte den Begriff der Hilflosigkeit - so wie sie ihn aufgefaßt haben - als erfüllt angesehen haben, es hätte die Ärzte vielmehr veranlassen müssen, auch zu den Einzelfragen Stellung zu nehmen und die Umstände im einzelnen zu erörtern, die für die Beurteilung der Hilflosigkeit von Bedeutung sind. Das LSG. hätte sich auch nach Lage der Sache nicht mit den Angaben des Klägers begnügen dürfen. Da der Kläger sich darauf berufen hat, daß die Eheleute K und Frau H ihn bisher betreut und ihm auch die notwendige Hilfe geleistet haben, hat das LSG. diese Personen als Zeugen hören müssen; es hat die naheliegende Möglichkeit, durch Anhörung dieser Zeugen den Sachverhalt weiter aufzuklären und sich damit ein umfassendes Bild darüber zu verschaffen, inwieweit der Kläger auf fremde Hilfe angewiesen ist, ausnützen müssen.
Das LSG. hat danach seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären, nicht voll erfüllt; es hat auch die Grenzen seines Rechts, die Beweise frei zu würdigen, überschritten; es hat damit gegen die Verfahrensvorschriften der §§ 103 und 128 SGG verstoßen. Darin liegen wesentliche Mängel des Verfahrens. Der Beklagte hat diese Mängel auch in der nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG gebotenen Form gerügt. Die Revision ist daher nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft.
Da der Beklagte die Revision frist- und formgerecht eingelegt und begründet hat, ist sie auch zulässig.
Die Revision ist auch begründet. Es ist möglich, daß das LSG., wenn es den Sachverhalt erschöpfend aufklärt und das Gesamtergebnis des Verfahrens einwandfrei würdigt, zu einem anderen Ergebnis gelangt. Das Urteil ist daher aufzuheben; da die Tatsachen, die bisher festgestellt sind, für die Beurteilung nicht ausreichen, kann der Senat nicht selbst entscheiden; die Sache ist deshalb zu neuer Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen