Leitsatz (redaktionell)
Legt ein Sachverständiger seine Bekundungen im Termin auch noch schriftlich nieder und wird das Schriftstück als Anlage zum Protokoll genommen, so muß die Anlage den Beteiligten vorgelesen oder zur Durchsicht vorgelegt und von ihnen genehmigt werden. Ist aus dem Protokoll nicht ersichtlich, daß dies geschehen ist, so liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel vor.
Normenkette
SGG § 69 Fassung: 1953-09-03, § 122 Abs. 3 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 160 Abs. 3 Nr. 4, Abs. 5, § 162 Abs. 1 S. 1; SGG § 150 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 6. Oktober 1960 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger erlitt am 16. Oktober 1954 durch Arbeitsunfall eine Quetschung des rechten Unterschenkels. Den im März 1957 vom Kläger gestellten Entschädigungsantrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 25. April 1958 ab; darin stützte sie sich auf Gutachten der Chirurgen Dr. F und Dozent Dr. A, in denen die Gesundheitsstörungen des Klägers auf ein unfallunabhängiges Krampfaderleiden zurückgeführt wurden.
Dem Sozialgericht (SG) Schleswig hat der Kläger ein fachärztliches Gutachten von Prof. Dr. H vorgelegt; darin hieß es abschließend, auch wenn man die Anlage zur Krampfaderbildung berücksichtige, verursachten doch die Folgen des Unfalls vom 16. Oktober 1954 noch eine mit 20 v. H. zu bewertende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE). Der vom SG gehörte Internist Dr. Dietze hat dagegen ausgeführt, der Unfall habe den Zustand des rechten Unterschenkels nur vorübergehend verschlimmert, wesentliche Folgen dieses Unfalls lägen nicht mehr vor. Das SG hat hierauf durch Urteil vom 20. Februar 1959 die Klage abgewiesen.
Auf die Berufung des Klägers hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein Gutachten von der Chirurgischen Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf eingeholt, welches zu dem Ergebnis gelangt ist, als Folge des Arbeitsunfalls vom 16. Oktober 1954 bestünden jetzt noch typische Veränderungen nach einer thrombosebedingten Rückflußstörung; die hierdurch bedingte MdE sei auf 20 v. H. zu schätzen. Im Termin zur mündlichen Verhandlung und Beweisaufnahme am 6. Oktober 1960 ist der Kläger von dem zum Sachverständigen bestellten Internisten Dr. H untersucht worden. Laut Sitzungsniederschrift ist - nach Stellung der Anträge - der Sachverständige gehört worden. "Über die von dem Sachverständigen vorgetragene gutachtliche Äußerung wurde von ihm die als Anlage beigefügte zusammenfassende Niederschrift angefertigt und von ihm unterschrieben. - Die Beteiligten verhandelten hierauf erneut zur Sache. - Der Vorsitzende schloß die mündliche Verhandlung. - Nach geheimer Beratung wurde das Urteil ... verkündet."
Die Anlage zur Sitzungsniederschrift trägt eingangs die Unterschriften des Vorsitzenden und des Protokollführers. Anschließend folgt eine umfangreiche handschriftliche Aufzeichnung des Sachverständigen Dr. H, welche dieser eigenhändig unterschrieben hat.
Das LSG hat die Berufung des Klägers durch Urteil vom 6. Oktober 1960 zurückgewiesen: Der Unfall vom 16. Oktober 1954 habe wahrscheinlich über die 13. Woche hinaus die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht beeinträchtigt; die heute am rechten Bein des Klägers nachweisbaren Gesundheitsstörungen hingen mit dem Unfallgeschehen nicht ursächlich zusammen. Die mit dem Gutachten der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf aufgetretenen Zweifel würden durch die überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen Dr. H entkräftet. Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.
Gegen das am 21. September 1961 zugestellte Urteil hat der Kläger am 20. Oktober 1961 Revision eingelegt und sie innerhalb der bis zum 21. Dezember 1961 verlängerten Frist wie folgt begründet: Gerügt werde die Verletzung formellen Rechts (§§ 62, 122 SGG). Das angefochtene Urteil stütze sich maßgeblich auf die Aussage des Sachverständigen Dr. H; aus der Sitzungsniederschrift vom 6. Oktober 1960 sei jedoch nicht ersichtlich, daß die Aussagen, die dieser Sachverständige gemacht und selbst schriftlich niedergelegt habe, den Beteiligten vorgelesen oder zur Durchsicht vorgelegt worden seien; durch diese Maßnahmen solle den Beteiligten Gelegenheit zur Prüfung geboten werden, ob die schriftliche Aufzeichnung des Sachverständigen erschöpfend und richtig sei, mit dem mündlich Vorgetragenen übereinstimme oder ob sie gegebenenfalls einer Ergänzung bedürfe. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (SozR SGG § 122 Nr. 4) liege ein Verstoß gegen § 122 Abs. 3 SGG in Verbindung mit §§ 162, 160 der Zivilprozeßordnung (ZPO) vor, wenn weitere Ausführungen, die der Sachverständige im Termin selbst schriftlich niedergelegt habe und die von ihm und vom Schriftführer unterzeichnet und als Anlage dem Protokoll beigefügt worden seien, nicht den Beteiligten vorgelesen oder zur Durchsicht vorgelegt worden seien. Da § 161 ZPO im Verfahren vor dem LSG nicht anwendbar sei, könnten die Vorschriften über protokollarische Feststellungen auf diesem Wege nicht umgangen werden, so daß auf jeden Fall ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG vorliege.
Im übrigen sei die als Anlage zur Sitzungsniederschrift genommene Aufzeichnung des Sachverständigen Dr. H zwar von diesem selbst, nicht aber vom Schriftführer unterzeichnet worden. Auch gegen die Würdigung dieser Aussage im Rahmen der Urteilsfindung des LSG müßten Bedenken geäußert werden, da die aus der Hand des Sachverständigen stammende Aufzeichnung kaum zu entziffern sei. Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt Verwerfung der Revision. Sie meint, sofern überhaupt ein Verfahrensmangel bei der Berufungsverhandlung am 6. Oktober 1960 anzunehmen sei, beruhe doch das angefochtene Urteil nicht hierauf.
II
Da das LSG die Revision nicht zugelassen hat, hängt die Statthaftigkeit des allein auf Verfahrensrügen (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) gestützten Rechtsmittels davon ab, ob ein gerügter wesentlicher Mangel des Verfahrens vorliegt (BSG 1, 150).
Dies ist nicht der Fall, soweit die Revision vorträgt, die als Anlage zum Sitzungsprotokoll genommene eigenhändige Niederschrift des Sachverständigen Dr. H sei zwar von diesem, nicht aber vom Schriftführer unterzeichnet worden; die Unterschrift des Protokollführers ist auf dieser Niederschrift vorhanden. Auch durch das Revisionsvorbringen, gegen die Würdigung dieser Aussage müßten Bedenken geäußert werden, da die aus der Hand des Sachverständigen stammende Niederschrift kaum zu entziffern sei, wird ein Verfahrensmangel nicht dargetan. Denn es ist nicht ersichtlich, inwiefern durch die Mühe bei der Entzifferung der - letztlich aber doch voll lesbaren - Aufzeichnungen des Sachverständigen das Verfahren des LSG beeinflußt worden sein sollte. Schließlich greift auch die - in dem Hinweis auf § 62 SGG zu erblickende - Revisionsrüge einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht durch, die sich wohl darauf beziehen soll, daß dem Kläger die handschriftliche Aufzeichnung des Sachverständigen Dr. H nicht vorgelesen oder zur Durchsicht vorgelegt worden ist. Denn insoweit hat der - im Berufungstermin mit seinem Prozeßbevollmächtigten anwesende - Kläger nicht die Möglichkeit genutzt, sich das rechtliche Gehör durch einen entsprechenden Antrag an das Gericht zu verschaffen (vgl. BSG 7, 209).
Anders verhält es sich mit der Revisionsrüge, aus dem Protokoll über die mündliche Verhandlung vor dem LSG sei nicht ersichtlich, daß die vom Sachverständigen Dr. H selbst niedergeschriebene Äußerung den Beteiligten vorgelesen oder zur Durchsicht vorgelegt worden sei. Wenn ein Sachverständiger mündliche Ausführungen selbst im Termin auch noch schriftlich niederlegt und der Schriftführer dieses Schriftstück als Anlage zum Protokoll nimmt, muß diese Anlage den Beteiligten (§ 69 SGG) vorgelesen oder zur Durchsicht vorgelegt und von ihnen genehmigt werden; ist aus dem Protokoll nicht ersichtlich, das dies geschehen ist, so leidet das Verfahren an einem wesentlichen Mangel (vgl. SozR SGG § 122 Nr. 4 und 6). Im Protokoll über die mündliche Verhandlung vor dem LSG am 6. Oktober 1960 fehlt der nach § 162 Satz 2 ZPO erforderliche Vermerk. Die Revision hat somit zutreffend einen Verstoß des LSG gegen § 122 Abs. 3 SGG in Verbindung mit § 162 ZPO gerügt. Diese Rüge wird nicht durch den Hinweis der Beklagten auf § 161 ZPO entkräftet; diese Vorschrift gilt zwar allgemein gemäß § 122 Abs. 3 SGG auch im Verfahren vor dem LSG entsprechend, ist hier jedoch nicht anwendbar, weil das Urteil des LSG die Äußerung des Sachverständigen Dr. H nicht inhaltlich zusammenhängend wiedergibt (vgl. BSG 16, 236). Auch eine Heranziehung des § 295 ZPO kommt nicht in Betracht; zwar hat der zum Termin am 6. Oktober 1960 erschienene Prozeßbevollmächtigte des Klägers in der auf die Vernehmung des Sachverständigen folgenden mündlichen Verhandlung einen Verstoß gegen § 162 ZPO nicht gerügt; dem Prozeßbevollmächtigten konnte aber in diesem Zeitpunkt auch noch nicht bekannt sein, ob vielleicht das LSG die Äußerung des Sachverständigen in der Form des § 161 ZPO wiedergeben oder aber sich nur auf die - nicht entsprechend § 162 ZPO behandelte - Niederschrift stützen wollte.
Die hiernach statthafte Revision ist jedoch unbegründet. Weder aus dem Akteninhalt noch aus dem sich auf rein theoretische Erwägungen beschränkenden Revisionsvorbringen ergeben sich nämlich irgendwelche Anhaltspunkte dafür, daß durch den Verstoß des LSG gegen § 122 Abs. 3 SGG in Verbindung mit § 162 ZPO die Äußerung des Sachverständigen Dr. H unrichtig, unvollständig oder sonstwie fehlerhaft zu Protokoll genommen worden ist. Auf dem an sich vorliegenden Verfahrensmangel kann also das Berufungsurteil nicht beruhen (vgl. BAG AP Nr. 1 zu § 162 ZPO mit zustimmender Anmerkung von Pohle; Wieczorek, ZPO-Komm., Anm. C II a zu § 162).
Die Revision ist hiernach zurückzuweisen (§ 170 Satz 1 SGG).
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen