Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsunfall. Haustreppe. Wohnung. Betriebsraum
Orientierungssatz
Ein Unfall auf einer Haustreppe in einem landwirtschaftlichen Unternehmen, die sowohl zu privat als auch zu betrieblich genutzten Räumen führt, ist dann ein Arbeitsunfall, wenn die versicherte Person sich auf dem Wege zur Aufnahme einer versicherten Tätigkeit befand. Es ist nicht erforderlich, daß die beabsichtigte Betriebstätigkeit an der im Zeitpunkt des Unfalls erreichten Stelle verrichtet werden sollte (vgl BSG 1960-05-24 2 RU 122/59 = BSGE 12, 165).
Normenkette
RVO § 548
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 06.10.1964) |
SG Ulm (Entscheidung vom 15.10.1963) |
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 6. Oktober 1964 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin lebt in dem landwirtschaftlichen Unternehmen ihres verheirateten Sohnes auf dem Altenteil. Sie hat im ersten Stockwerk des Bauernhauses eine aus Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche bestehende Wohnung inne. Sie half im Betrieb mit und betreute vor allem das Geflügel. Am Sonntag, dem 10. Juli 1960, gegen 21 Uhr, verließ sie noch einmal ihre Wohnung, in die sie sich bereits zurückgezogen hatte, um in der Stallung des Junggeflügels nach dem Rechten zu sehen. Das Junggeflügel war in der Waschküche im Erdgeschoß des Hauses untergebracht, wo sich neben der Wohnung ihres Sohnes Betriebsräume befinden. Sonst wird in diesem Hause nur noch der Dachboden, auf dem Getreide, Mehl und landwirtschaftliche Geräte lagern, betrieblich genutzt. Auf dem Wege zu der Stallung in der Waschküche stürzte die Klägerin auf der vom ersten Stockwerk zum Erdgeschoß führenden Haustreppe; sie zog sich dabei neben anderen Verletzungen Unterarmbrüche beiderseits zu.
Die Beklagte lehnte den Entschädigungsanspruch der Klägerin durch Bescheid vom 8. März 1961 mit folgender Begründung ab: Die Treppe, auf welcher sich der Unfall der Klägerin ereignet habe, gehöre noch zu deren häuslichem Bereich. Der Umstand, daß der Dachboden landwirtschaftlich genutzt werde, rechtfertige nicht die Annahme, daß die Haustreppe überwiegend landwirtschaftlichen Zwecken diene. Der Unfall der Klägerin habe sich daher noch innerhalb ihres privaten, unversicherten Lebensbereichs zugetragen.
Das Sozialgericht (SG) Ulm hat die Klage gegen diesen Bescheid durch Urteil vom 15. Oktober 1963 abgewiesen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Klägerin am 6. Oktober 1964 die Beklagte verurteilt, die Klägerin wegen der Folgen ihres Unfalls vom 10. Juli 1960 zu entschädigen. Zur Begründung ist u. a. ausgeführt: Die Klägerin habe eine landwirtschaftliche Tätigkeit aufnehmen wollen, als sie am Unfallabend zum Junggeflügelstall unterwegs gewesen sei. Der Weg dorthin über die Haustreppe habe die Arbeit ermöglichen sollen; er habe daher im ursächlichen Zusammenhang mit einer versicherten Tätigkeit der Klägerin gestanden. Die Treppe diene in rechtlich wesentlichem Umfang dem landwirtschaftlichen Betrieb, da sie vom Erdgeschoß zu dem Dachboden des Hauses führe, der als landwirtschaftlicher Lagerraum benutzt werde. Daher habe die Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls auf der Treppe die betriebliche Sphäre bereits erreicht gehabt; sie sei somit von einem Arbeitsunfall betroffen worden.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist der Beklagten am 6. November 1964 zugestellt worden. Sie hat gegen das Urteil am 28. November 1964 Revision eingelegt und diese am 19. Dezember 1964 begründet.
Mit der Revision hat die Beklagte im wesentlichen geltend gemacht: Das LSG habe die rechtliche Bedeutung des Umstandes verkannt, daß die Klägerin noch in ihrem Wohnzimmer gewesen sei, als sie sich entschlossen habe, nach der letzten Fütterung an dem Unfalltag noch einmal nach dem Geflügel zu sehen. Dieser Umstand stehe der Annahme entgegen, daß die Klägerin mit dem Betreten der Haustreppe ihren persönlichen Wohnbereich verlassen habe. Die Benutzung der Treppe könne nicht ohne weiteres deshalb als betriebsbezogen angesehen werden, weil es sich um einen landwirtschaftlichen Betrieb handele, dessen Haushaltung vom Versicherungsschutz mit umfaßt sei. Es hätte vielmehr im einzelnen klargestellt werden müssen, in welchem Umfang die Treppe zu betrieblichen und zu privaten Zwecken benutzt werde. Der bisher festgestellte Sachverhalt rechtfertige nicht die Auffassung des LSG, daß die Treppe den Zwecken des versicherten Unternehmens in rechtlich wesentlichem Umfang diene. Der Betriebsunternehmer betrete den Dachboden täglich höchstens einmal; die Klägerin benutze die Treppe überwiegend zum Aufsuchen ihrer Wohnung. Auf jeden Fall könne eine abweichende Auffassung nur vertreten werden, wenn ergänzende Ermittlungen ergäben, daß die Klägerin das Futter für das Kleingeflügel jeweils vom Dachboden hätte holen müssen.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Ulm vom 15. Oktober 1963 zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie pflichtet den Ausführungen des angefochtenen Urteils bei.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist zulässig. Sie hatte aber keinen Erfolg.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Klägerin als Altenteilerin im landwirtschaftlichen Unternehmen ihres Sohnes noch betriebsdienliche Arbeiten leistet und insoweit auch unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung steht. Zu diesen Tätigkeiten gehört die der Klägerin überlassene Versorgung des Junggeflügels, das in der Waschküche im Erdgeschoß des Bauernhauses untergebracht ist. Am Unfallabend ging die Klägerin nach den insoweit von der Revision nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen, aus ihrer im Obergeschoß des Hauses gelegenen Wohnung kommend, die Treppe zum Erdgeschoß hinunter, um in der Stallung des Junggeflügels vor Einbruch der Nacht noch einmal nach dem Rechten zu sehen. Der zu diesem Zweck über die Haustreppe zurückgelegte Weg der Klägerin war mit ihrer versicherten Tätigkeit ursächlich verknüpft; er war aber auch dadurch bedingt, daß sich die Klägerin vor Antritt dieses Weges in ihrer Wohnung aus privaten Gründen aufgehalten hatte. Der Übergang von einer privaten zu einer betrieblichen Betätigung läßt sich, wie in der in BSG 12, 165 veröffentlichten Entscheidung des erkennenden Senats ausgesprochen ist, im allgemeinen nicht schon wegen des Zweckes, dem der Gesamtweg dient, ohne weiteres der versicherten Tätigkeit zurechnen. Das LSG hat daher zutreffend ausgeführt, daß es in einem solchen Falle entscheidend sei, ob die ursächliche Verknüpfung zwischen dem Zurücklegen des Weges und der versicherten Tätigkeit rechtlich so erheblich ist, daß daneben die ursächliche Beziehung zu der vorangegangenen unversicherten Betätigung rechtlich unberücksichtigt bleiben kann. Auch unter Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse landwirtschaftlicher Unternehmen besitzt innerhalb des dem persönlichen, unversicherten Leben dienenden Wohnbereichs die Beziehung zu diesem Lebensbereich in der Regel rechtlich das ausschlaggebende Gewicht. Dies verkennt auch das LSG nicht. Seinem Hinweis darauf, daß bei einem größeren landwirtschaftlichen Betrieb auch andere als rein landwirtschaftliche Tätigkeiten "der Landwirtschaft zugeordnet" seien, ist jedenfalls nicht die gegenteilige Ansicht zu entnehmen. Der Versicherungsschutz der Klägerin wäre daher nicht begründet, wenn die Treppe noch dem persönlichen Wohnbereich der Klägerin zuzurechnen wäre. Ob eine abweichende Beurteilung Platz zu greifen hätte, wenn die Klägerin durch besondere Umstände - etwa einen plötzlich aufgetretenen Notstand - gezwungen gewesen wäre, sich zur Unfallzeit in die Stallung zu begeben, oder wenn sie z. B. Futter bei sich getragen hätte, das für die Versorgung des Geflügels bestimmt gewesen wäre, brauchte hier nicht entschieden zu werden, da ein solcher die Betriebsbezogenheit des Weges bedingender Umstand bei dem vorliegenden Sachverhalt offensichtlich nicht gegeben ist.
Die Auffassung des LSG, die Klägerin habe im Zeitpunkt des Unfalls ihren Wohnbereich bereits verlassen gehabt, ist unter den dargelegten, dem angefochtenen Urteil zugrundeliegenden rechtlichen Gesichtspunkten frei von Rechtsirrtum. Das LSG ist hierbei zutreffend davon ausgegangen, daß bei der Größe des etwa 25 ha betragenden Betriebs die Haustreppe von allen im Unternehmen tätigen Personen zur Durchführung der verschiedenen betrieblichen Aufgaben häufig genug benutzt wird, um entgegen der Meinung der Revision als gegeben erachten zu können, daß die Treppe in rechtlich wesentlichem Umfang den Zwecken des Unternehmens dient und daher der betrieblichen Sphäre zugehört. Für diese Schlußfolgerung ist zwar nicht ohne Bedeutung, daß die Klägerin selbst wegen der häufigen Fütterungszeiten am Tage die Treppe entsprechend oft begehen muß; entscheidend ist dies entgegen der offenbaren Ansicht der Revision jedoch nicht. Ebensowenig kommt es hierbei darauf an, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Klägerin das Geflügelfutter aus Vorräten holen muß, die auf dem Dachboden lagern. Ausschlaggebend ist vielmehr, daß nach den von der Revision nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG auf dem Dachboden in der Regel 30 bis 50 Zentner Getreide sowie Mehl, Viehfutter und landwirtschaftliche Geräte lagern, so daß es auf der Hand liegt, daß die vom Erdgeschoß zum Dachboden führende Treppe eine Einrichtung des landwirtschaftlich genutzten Hauses darstellt. Nach Ansicht des erkennenden Senats erübrigt es sich daher, die von der Revision vermißten tatsächlichen Feststellungen über die Häufigkeit der Treppenbenutzung durch die Klägerin im Zusammenhang mit dem Besorgen von Geflügelfutter zu den jeweiligen Fütterungszeiten nachholen zu lassen. Die Klägerin war demzufolge im Zeitpunkt des Unfalls auf der Haustreppe bereits im Betriebsbereich unterwegs. Sie stand an dieser Stelle unter Versicherungsschutz, da sie sich auf dem Wege zur Aufnahme einer versicherten Tätigkeit befand und es nicht erforderlich ist, daß die beabsichtigte Betriebstätigkeit an der im Zeitpunkt des Unfalls erreichten Stelle verrichtet werden sollte (BSG 12, 165, 167).
Der Entschädigungsanspruch der Klägerin ist somit begründet. Das LSG hat erkennbar ein Grundurteil im Sinne des § 130 SGG erlassen wollen. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind gegeben. Bei der Art und Schwere der Verletzungsfolgen der Klägerin besteht die begründete Wahrscheinlichkeit, daß der geltend gemachte Leistungsanspruch in einer Mindesthöhe vorhanden ist (SozR Nr. 3 und 4 zu § 130 SGG).
Die Revision der Beklagten war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen