Orientierungssatz
Im Ermessen des Unfallversicherungsträgers steht nicht nur, welche Art der Pflege (Haus- oder Anstaltspflege, Pflegegeld) er gewähren will, sondern auch, falls er sich zur Bewilligung eines Pflegegeldes entschlossen hat, in welcher Höhe er dieses gewähren will. Der Gesetzgeber hat insoweit nur Mindest- und Höchstgrenzen gesetzt und innerhalb dieses Rahmens - anders als in BVG § 35 - keine Abstufungen vorgenommen; die Höchstgrenze kann überdies in Ausnahmefällen überschritten werden. Ist also nicht der Anspruch auf Pflegegeld schlechthin, sondern allein die Höhe des Pflegegeldes streitig, kann der Verletzte nicht eine zusammengefaßte Aufhebungs- und Leistungsklage (SGG § 54 Abs 1, 4) erheben, sondern nur im Wege der kombinierten Aufhebungs- und Verpflichtungsklage (unter Beachtung des SGG § 79) gegen den Versicherungsträger vorgehen.
Normenkette
RVO § 558 Fassung: 1963-04-30; SGG § 54 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 79 Fassung: 1953-09-03, § 54 Abs. 4 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgericht für das Saarland vom 11. Mai 1967 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der während des Revisionsverfahrens verstorbene Ehemann der Revisionsbeklagten (Kläger) stürzte am 3. Juni 1960 bei Putzarbeiten mehrere Meter in die Tiefe. Die Beklagte bewilligte ihm durch Bescheid vom 27. November 1961 wegen Querschnittslähmung mit Lähmung der Hüft- und Bauchmuskulatur sowie Blasen- und Mastdarmlähmung nach Verletzung des 3. bis 5. Brustwirbelkörpers, Fistelbildung am rechten Gesäß, erheblicher Neigung zu Kreislauf- und Schwächeanfällen beim Stehversuch sowie Schwellneigung der Beine die Vollrente sowie Pflegegeld von monatlich 250,- DM. Wegen weiterer Fistelbildung wurde er im Jahre 1962 4 Monate lang stationär behandelt; durch mehrfache Operationen konnten die Fisteln, bis auf eine, geschlossen werden und verheilten. Diese - eine Harnröhrenfistel - konnte auch durch eine weitere Operation im Jahre 1963 nicht beseitigt werden. Deshalb beantragte der Ehemann der Revisionsbeklagten mit Schreiben vom 11. Juli 1963, das Pflegegeld zu erhöhen, weil ihm durch die stark absondernde Fistel ein Mehraufwand an Bettwäsche, Unterwäsche und Kleidung sowie körperlicher Pflege entstanden sei. Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 25. März 1964 mit der Begründung ab, daß die tatsächlichen Aufwendungen eine Erhöhung des bereits gewährten Pflegegeldes nicht rechtfertigten und ein erheblicher Mehrverschleiß an Wäsche und Bekleidung nicht vorliege.
Während des Klageverfahrens hat sich die Beklagte im Hinblick darauf, daß sich die Absonderungen aus der Fistel mit dem Urinal nicht auffangen ließen, somit eine starke Verschmutzung der Bett-und Leibwäsche nicht zu vermeiden sei, bereit erklärt entsprechend Ersatz zu leisten. Dieses Angebot hat der Kläger angenommen.
Das Sozialgericht (SG) für das Saarland hat durch Urteil vom 12. Oktober 1965 die Beklagte verurteilt, dem Kläger vom 12. Juli 1963 an Pflegegeld in Höhe von monatlich 350,- DM zu gewähren.
Das Landessozialgericht (LSG) für das Saarland hat durch Urteil vom 11. Mai 1967 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
Zur Begründung hat es ausgeführt:
Wie sich insbesondere aus dem Bericht des Oberarztes am Hüttenkrankenhaus V vom 9. September 1963, Dr. Hermann, über die dortigen stationären Behandlungen des Klägers ergebe, sei in den Verhältnissen, welche für die Feststellung der Höhe des Pflegegeldes maßgebend gewesen seien, eine wesentliche Änderung im Sinne von § 622 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) eingetreten. Dr. H sowie dessen Chefarzt Dr. H und der vom SG als Sachverständiger gehörte Dr. R sähen ein Pflegegeld von monatlich 350,- DM als gerechtfertigt an. Dieser Beurteilung sei angesichts der von den Ärzten geschilderten hochgradigen Pflegebedürftigkeit des Klägers zuzustimmen. Das Pflegegeld könne nicht deshalb niedriger bemessen werden, weil der Kläger von seiner Familie gepflegt werde.
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen wie folgt begründet:
Im Bericht des Oberarztes Dr. H vom 9. September 1963 werde nur der Zustand des Klägers anlässlich seiner stationären Behandlungen geschildert. Aus ihm ergebe sich nicht, ob sich dieser gegenüber dem im Zeitpunkt der Bewilligung des Pflegegeldes gegebene Zustand geändert habe. Das Berufungsgericht habe im angefochtenen Urteil einen solchen Vergleich nicht vorgenommen. Es habe ersichtlich den Inhalt der Verwaltungsakten, soweit er die Verhältnisse zur Zeit der Pflegegeldgewährung betreffe, nicht zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht und darauf im angefochtenen Urteil auch nicht verwiesen. Das Verfahren des Berufungsgerichts leide ferner an einem wesentlichen Mangel, indem es das Urteil des Erstgerichts bestätigt habe, obwohl dieses nicht zur Gewährung von Pflegegeld in bestimmter Höhe von einem bestimmten Tag an hätte verurteilen dürfen, denn der Verletzte habe zwar einen Rechtsanspruch auf Pflege, aber insoweit nicht auf eine bestimmte Leistung, da hier dem Versicherungsträger ein Ermessen zustehe. Es hätte nach § 79 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein Vorverfahren durchgeführt werden müssen, und das LSG hätte allenfalls erkennen dürfen, daß der Versicherungsträger verurteilt werde, eine Entscheidung darüber zu treffen, ob er das Pflegegeld erhöhen wolle.
Die Revisionsbeklagte stimmt der Revision insofern zu, als das LSG die Beklagte nicht zur Gewährung einer Leistung in bestimmter Höhe, sondern nur zur Erteilung eines neuen Bescheides hätte verurteilen dürfen und vorher ein Vorverfahren hätte durchgeführt werden müssen.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Revisionsbeklagte schließt sich dem Hilfsantrag der Revision an; deren Hauptantrag hält sie für unbegründet.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
II
Die Revision ist, obwohl das LSG sie nicht zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), statthaft, weil die Beklagte zu Recht einen wesentlichen Mangel des Verfahrens des Berufungsgerichts rügt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Der durch Bescheid vom 27. November 1961 festgestellte Anspruch auf Pflegegeld konnte, wie das LSG mit Recht angenommen hat, nach § 622 Abs. 1 RVO nur neu festgestellt werden, wenn sich die Unfallfolgen wesentlich verschlimmert und eine Änderung der Hilflosigkeit herbeigeführt haben (BSG SozR Nr. 38 zu § 62 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -). Die Begründung im angefochtenen Urteil, mit der diese Frage bejaht wird, erschöpft sich indessen in dem Hinweis auf das Gutachten des Oberarztes Dr. H vom 9. September 1963. In diesem Gutachten ist aber, wie die Revision mit Recht geltend macht, nicht dargelegt, inwiefern sich im Vergleich zu dem ärztlichen Gutachten, welches dem Pflegegeld bewilligenden Bescheid zugrundeliegt, die Verhältnisse geändert und zu einer erhöhten Pflegebedürftigkeit des Klägers geführt haben. Das Gutachten Dr. H konnte sonach für sich allein keine ausreichende Grundlage für die vom LSG getroffene Entscheidung bilden, daß sich in der Zwischenzeit die Verhältnisse geändert hätten. Diese Feststellung hat das Berufungsgericht aber auch nicht selbst im angefochtenen Urteil und somit in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise getroffen, da es nicht durch einen Vergleich der in den ärztlichen Gutachten niedergelegten Untersuchungsbefunde dargetan hat, woraus sich die von ihm angenommene Änderung der Verhältnisse ergibt. Dieses vom LSG gewonnene Ergebnis ist daher - ungeachtet des Umstandes, daß die Frage der Hilflosigkeit u. U. nicht allein aufgrund ärztlicher Schlußfolgerungen beantwortet werden kann (SozR Nr. 7 zu § 35 BVG) - nach der zutreffenden Rüge der Revision unter Verletzung des § 128 Abs. 1 SGG zustande gekommen. Die Revision ist daher nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Sie ist auch begründet, da es nicht völlig ausgeschlossen ist, daß das LSG bei ordnungsgemäßer Verfahrensweise zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre.
Die Revision macht ferner mit Recht geltend, daß das Berufungsgericht - in Bestätigung des Urteils des Erstgerichts - die Beklagte nicht zur Gewährung von Pflegegeld in bestimmter Höhe hätte verurteilen dürfen. Wie der erkennende Senat im Urteil vom 26. Mai 1966 entschieden hat (Breithaupt 1966, 912), hat der Verletzte zwar einen Anspruch auf Pflege, aber nicht auf eine bestimmte Leistung. Hierbei ist es ohne Belang, ob das Recht vor dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (§ 558 c RVO aF) oder das neue Recht (§ 558 RVO) anzuwenden ist. Im Ermessen des Unfallversicherungsträgers steht nicht nur, welche Art der Pflege (Haus- oder Anstaltspflege, Pflegegeld) er gewähren will, sondern auch, falls er sich zur Bewilligung eines Pflegegeldes entschlossen hat, in welcher Höhe er dieses gewähren will. Der Gesetzgeber hat insoweit nur Mindest- und Höchstgrenzen gesetzt und innerhalb dieses Rahmens - anders als in § 35 BVG - keine Abstufungen vorgenommen; die Höchstgrenze kann überdies in Ausnahmefällen überschritten werden (ebenso Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Anmerkungen 17 und 20 zu § 558 RVO; a. A. LSG Baden-Württemberg, Breithaupt 1968, 386, 387). Ist also nicht der Anspruch auf Pflegegeld schlechthin, sondern allein die Höhe des Pflegegeldes streitig, kann der Verletzte nicht eine zusammengefaßte Aufhebungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1, 4 SGG) erheben, sondern nur im Wege der kombinierten Aufhebungs- und Verpflichtungsklage (unter Beachtung des § 79 SGG) gegen den Versicherungsträger vorgehen. Dabei kann es keinen Unterschied machen, ob er ein höheres Pflegegeld begehrt, weil er mit der erstmaligen Festsetzung dieser Leistung durch den Versicherungsträger nicht zufrieden oder der Meinung ist, daß nach bindender Festsetzung des Pflegegeldes die hierbei zugrunde gelegten Verhältnisse sich geändert haben. In diesem Fall hat das Gericht zwar in vollem Umfang nachzuprüfen, ob der Versicherungsträger zu Recht die vom Verletzten behauptete Änderung der Verhältnisse verneint hat; sein Prüfungsrecht ist jedoch eingeschränkt, soweit es sich darum handelt, ob eine vom Versicherungsträger vorgenommene, nach Ansicht des Verletzten aber zu niedrige Erhöhung des Pflegegeldes oder dessen Ablehnung (etwa auch aus dem Grunde, weil es nach der Meinung des Versicherungsträgers immer noch ausreichend ist) rechtmäßig ist. Rechtsfehlerhaft wäre allerdings - entgegen der Meinung der Revision - eine Entscheidung, welche die Erhöhung des Pflegegeldes trotz vermehrter Pflegebedürftigkeit mit der Begründung ablehnen würde, daß die Familie des Verletzten, in Sonderheit seine Ehefrau, zur unentgeltlichen Wartung und Pflege verpflichtet sei (SozR Nr. 2 zu § 558 RVO).
Da der erkennende Senat mangels ausreichender tatsächlicher Feststellung des Berufungsgerichts nicht einmal die Frage, ob die für die Pflegegeldbewilligung maßgebenden Verhältnisse sich geändert haben, entscheiden kann, war das angefochtene Urteil in vollem Umfang aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen