Leitsatz (redaktionell)
Der Unfallversicherungsschutz nach RVO § 539 Abs 1 Nr 15 ist nicht davon abhängig, daß das Bauvorhaben im Zeitpunkt des im Rahmen der Selbsthilfe tätigen Personen unterliegen bereits dann dem Unfallversicherungsschutz, wenn das Bauvorhaben im Unfallzeitpunkt nachweisbar den Voraussetzungen für eine Anerkennung als steuerbegünstigte Wohnung iS des Wohnungsbau- und Familienheimgesetzes entsprochen hat.
Unter den Begriff "Bau eines Familienheimes" iS des RVO § 539 Abs 1 Nr 15 fällt auch ein Ausbau oder eine bauliche Erweiterung eines Familienheimes.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 1 Nr. 15 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 28. Juni 1968 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Kläger begann, nachdem ihm das Landratsamt für den U-kreis mit Bauschein vom 11. Juni 1963 die Genehmigung erteilt hatte, im Juli 1963 damit, nach Abbruch eines Stallgebäudes sein 1935 erbautes Eigenheim zu erweitern. Sein Bruder und ein Freund halfen ihm dabei. Mit Bescheid vom 30. Januar 1964 genehmigte ihm die Bauaufsichtsbehörde, abweichend von der genehmigten Bauzeichnung zu bauen; am 23. November 1964 erteilte sie dem Kläger den Gebrauchsabnahmeschein. Um diesen zu bekommen, wollte der Kläger am 31. Oktober 1964 ein provisorisches Schutzgeländer anfertigen. Beim Abtrennen eines Astes mit einem Handbeil schlug dieser gegen das rechte Auge und durchbohrte den Augapfel.
Der Beklagte versagte durch Bescheid vom 26. August 1965 die begehrte Unfallentschädigung, weil Unfallversicherungs(UV)-Schutz nach § 539 Abs. 1 Nr. 15 der Reichsversicherungsordnung (RVO) beim Ausbau und bei der Erweiterung bestehender Gebäude nicht gegeben sei.
Das Sozialgericht (SG) Koblenz hat durch Urteil vom 29. September 1966 aus demselben Grund die Klage abgewiesen.
Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat durch Urteil vom 28. Juni 1968 die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Im Zeitpunkt des Unfalls sei das Bauvorhaben des Klägers von der zuständigen Behörde nicht als steuerbegünstigter Wohnungsbau nach § 82 des II. Wohnungsbaugesetzes vom 27. Juni 1956 (II. WoBauG) anerkannt gewesen. Dies sei erst auf den zu Beginn des Jahres 1965 vom Kläger gestellten Antrag durch den Bescheid des Landratsamts für den U-kreis vom 19. März 1965 erfolgt. Nach § 83 Abs. 3 II. WoBauG gelte eine Wohnung erst vom Zeitpunkt der Anerkennung an als steuerbegünstigte Wohnung. Diese wirke somit nicht auf den Baubeginn zurück, sondern zeitige Rechtswirkungen erst vom Zeitpunkt der Anerkennung an. Der Unfall vom 31. Oktober 1964 habe sich somit nicht beim Bau eines steuerbegünstigten Eigenheims ereignet.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es unter Hinweis auf die Entscheidungen des erkennenden Senats vom 27. Juni 1968 (BSG 28, 134, 128, 131) wie folgt begründet:
Die Auffassung des LSG stehe der Zielsetzung des Gesetzgebers einer breitgestreuten Eigentumsbildung entgegen. Maßgebend könne daher allein sein, daß das in Selbsthilfe ausgeführte Bauvorhaben im Zeitpunkt des Unfalls den Voraussetzungen einer Anerkennung im Sinne des § 82 II. WoBauG, welche auch später ausgesprochen werden könne, genügt habe.
Der Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Er erhebt Bedenken gegen die Rechtsprechung des erkennenden Senats (BSG 28, 134), daß der UV-Schutz davon abhänge, ob das Bauvorhaben im Zeitpunkt des Unfalls den Voraussetzungen für die Anerkennung nach § 82 II. WoBauG entsprochen habe, es dagegen unerheblich sei, wann die Steuerbegünstigung beantragt und durch Bescheid anerkannt worden sei. Dies könne indessen dazu führen, daß der UV-Schutz - zu Unrecht - verneint werden müsse, wenn nach der Planung die Voraussetzungen für eine Steuerbegünstigung nicht erfüllt seien, diese aber nach dem Unfall durch förmlichen Bescheid anerkannt worden sei. Außerdem werde durch eine solche Auslegung des Gesetzes der Manipulation Tür und Tor geöffnet. Ferner wendet sich der Beklagte gegen die Rechtsprechung des erkennenden Senats (BSG 28, 128, 131), daß als Bau eines Familienheims im Sinne des § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO unter bestimmten Voraussetzungen auch ein Ausbau oder eine bauliche Erweiterung anzusehen sei. Diese Vorschrift solle sozial bzw. wirtschaftlich schlechter gestellten Bevölkerungskreisen den UV-Schutz beim Bau von Wohnungen unter Einräumung von Vorteilen zu Lasten der öffentlichen Hand ermöglichen. Wer aber bereits über eine eigene Wohnung verfüge, bedürfe solcher Förderung durch die Allgemeinheit nicht mehr. Beim Abbruch und deren Wiedererrichtung sowie beim Ausbau oder bei einer Erweiterung von Wohnungen oder sonstigen Verbesserungen müsse der Bauherr, auch wenn diese Maßnahmen in Selbsthilfe ausgeführt würden, seinen UV-Schutz auf dem auch sonst möglichen Weg einer Prämienzahlung bei dem zuständigen Versicherungsträger sicherstellen. Die Einbeziehung derartiger Baumaßnahmen in den UV-Schutz des § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO sei vom Wortlaut und Sinn des Gesetzes her kaum gerechtfertigt.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen sowie des Bescheides des Beklagten diesen zu verurteilen, den Unfall vom 31. Oktober 1964 als Arbeitsunfall zu entschädigen.
Der Beklagte beantragt,
die Revisionszurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist insofern begründet, als die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Der erkennende Senat hat am 27. Juni 1968 in mehreren Urteilen über Fragen des UV-Schutzes nach § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO entschieden (BSG 28, 122, 128, 131, 134). Die von dem Beklagten hiergegen erhobenen Bedenken geben keine Veranlassung, von dieser Rechtsprechung abzuweichen.
Dem Gesichtspunkt der praktischen Handhabung des Gesetzes hat der Senat besondere Aufmerksamkeit gewidmet (BSG 28, 134, 136). Die Auffassung des LSG, welche der Beklagte für zutreffend hält, würde in der Praxis bedeuten, daß ein Bauherr, welcher sein Bauvorhaben in Selbsthilfe ausführen will, nach Erteilung der Baugenehmigung nicht mit dem Bau beginnen könnte, sondern - um den UV-Schutz nicht zu verlieren - damit warten müßte, bis die nach § 83 Abs. 1 II. WoBauG zuständige Behörde, welche zur Durchführung ihres Verfahrens die von der Bauaufsichtsbehörde genehmigten Bauzeichnungen benötigt, die Anerkennung der Wohnung als steuerbegünstigt ausgesprochen hat. Eine solche gerade für einen nicht mit ausreichenden Finanzierungsmitteln ausgestatteten Bauherrn sich bei ständig steigenden Baupreisen besonders nachteilig auswirkende zeitliche Verzögerung des Baubeginns wird, wie der Senat bereits näher ausgeführt hat (BSG 28, 134, 135), vom Gesetz nicht gefordert. Der Senat hat auch die - von dem Beklagten insbesondere befürchtete - Gefahr von Manipulationen nach Eintritt des Arbeitsunfalls erwogen (BSG 28, 134, 136); der Beklagte hat hierzu in der vorliegenden Sache nichts vorgebracht, was den Senat zu einer Änderung seiner Rechtsprechung veranlassen könnte. Maßgeblich ist sonach, ob die im Zeitpunkt des Arbeitsunfalls vorhanden gewesenen Umstände den Nachweis zulassen, daß in Selbsthilfe eine steuerbegünstigte Wohnung geschaffen werden sollte. Das von dem Beklagten gebrachte Beispiel einer Diskrepanz zwischen Bauplan und erst nach dem Unfall erteiltem Anerkennungsbescheid setzt voraus, daß zwischenzeitlich die Bauzeichnungen geändert worden sind; nach der von dem Beklagten für zutreffend erachteten Rechtsansicht - der Anerkennungsbescheid müsse schon vor dem Unfall erlassen worden sein - bestünde in einem solchen Fall indessen ohnehin kein UV-Schutz.
Der Beklagte hält darüber hinaus - was das LSG von seinem, vom Senat erneut abgelehnten Rechtsstandpunkt aus nicht zu prüfen brauchte - die Rechtsprechung des erkennenden Senats für bedenklich, daß der Versicherungsschutz nach § 539 Abs. 1 Nr. 15 RVO nicht nur beim Neubau, sondern auch beim Ausbau oder einer baulichen Erweiterung eines Familienheims gegeben sein kann (BSG 28, 128, 131). Wie der Senat hierzu näher ausgeführt hat, soll der UV-Schutz auch den Personen zugute kommen, welche bei in Selbsthilfe erstellten Bauten mitwirken, durch die Wohnraum oder nach der Verkehrsauffassung dazu gehöriger Nebenraum für die Familie des Bauherrn im Rahmen des öffentlich geförderten oder des steuerbegünstigten Wohnungsbaus geschaffen werden soll. Diesem Personenkreis den Versicherungsschutz vorzuenthalten, läßt sich nach der Auffassung des Senats mit der Zielrichtung des Gesetzes, den Familienheimgedanken weitgehend zu fördern, nicht vereinbaren. Einer solchen Auslegung des Gesetzes steht dessen Wortlaut nicht entgegen (BSG 28, 128, 129).
Welchem Zweck das Bauvorhaben des Klägers gedient hat und welcher Art und welchen Umfangs die Selbsthilfemaßnahmen gewesen sind (s. BSG 28, 122), hat das LSG nicht festgestellt. Der Senat kann deshalb in der Sache nicht entscheiden. Daher war unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem Urteil des Berufungsgerichts vorbehalten.
Fundstellen